Spurensuche

„Wir leben noch“ ist eine collagenartige Annäherung Sven Hanuscheks an den Feuersturm von Dresden und das Schicksal dreier Zeitzeugen: Ida und Erich Kästner sowie Kurt Vonnegut

Von Johanna MangerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johanna Manger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Was weiß man heute schon von Dresden?“ oder „Sieht man noch etwas von der Katastrophe im Februar 1945?“ Fragen wie diese lassen den Erzähler in Sven Hanuscheks Wir leben noch auf seiner Zugfahrt von München nach Dresden gedanklich in die Vergangenheit reisen. Ida Kästner und Kurt Vonnegut, die die Bombardierung Dresdens im Zweiten Weltkrieg miterlebten, stehen dabei im Mittelpunkt seiner fragmentarischen Überlegungen.

Hanuschek selbst bezeichnet seinen Text als faktuale, biographische Collage, deren wissenschaftlich fundierter Charakter vor allem durch die verzeichneten Quellen zu Ida Kästners und Kurt Vonneguts Biographie sowie zum historischen Ereignis des Feuersturms von Dresden deutlich wird. Außerdem finden sich im Anhang Abdrucke und Transkriptionen einiger Postkarten und Briefe, die Ida Kästner in der Zeit während und nach dem Bombenangriff an ihren Sohn Erich nach Berlin geschickt hat.

Dennoch handelt es sich – und das macht den Text in formaler Hinsicht sehr interessant – nicht um eine rein historisch-wissenschaftliche Darstellung des Feuersturms von Dresden und der Geschichte zweier Überlebender, sondern vielmehr um eine Gratwanderung zwischen einem faktenbasierten Bericht und den spekulativen, zum Teil fiktiven Ergänzungen des Erzählers, der sich zugleich als Autor des Textes ausgibt. So fragt er sich, ausgehend von den Briefen Ida Kästners immer wieder, wie diese die Katastrophe wohl tatsächlich wahrgenommen hat, was sie tatsächlich von der Zerstörung der Stadt und den vielen Toten gesehen haben mag und ob der Schriftsteller Kurt Vonnegut ihr womöglich gar begegnet sein könnte. Dieser war nämlich zeitgleich als kriegsgefangener US-amerikanischer Soldat in Dresden im ehemaligen Schlachthof stationiert, dem Ort, auf dem Slaughterhouse 5, einer seiner wohl berühmtesten Romane basiert. Anhand der vielen intertextuellen Bezüge, die Hanuschek auch zu anderen Werken Vonneguts herstellt, bietet er den Leserinnen und Lesern nicht nur einen Überblick und eine Einführung in das literarische Schaffen und die Biographie Vonneguts, sondern zeigt auch, wie die schrecklichen Ereignisse des Feuersturms von Dresden literarisch verarbeitet wurden.

Auch die Biographie der in Dresden lebenden Familie Kästner wird vor allem in den ersten Kapiteln skizzenhaft nachgezeichnet. Was die in der bombardierten Stadt verbliebene Ida Kästner und ihr Mann allerdings tatsächlich erlebt haben, bleibt sehr vage. Denn die Postkarten der Mutter an Erich Kästner sind nur sich wiederholende Berichte der sich verschlechternden häuslichen Situation, deren wichtigste Botschaft die immer wiederkehrende Versicherung „wir leben noch“ ist.

In Anbetracht der fragmentarischen Quellenlage ist die von Hanuschek gewählte collagenartige Form durchaus passend. Sie scheint geradezu die Trümmerlandschaft einer zerstörten Stadt und die turbulente Lebenssituation der Protagonisten widerzuspiegeln. Wir leben noch könnte als eine Art Brainstorming bezeichnet werden, durch das versucht wird, die nur durch das gleichzeitige Erleben des Feuersturms miteinander verbundenen Lebensgeschichten und die Ereignisse jener Tage zu Papier zu bringen.

„Dass Ida Kästner und Vonnegut sich in der Altstadt gesehen haben, ist eine Fiktion“. Passend zu diesem Sachverhalt bleiben deren Schicksale auch merkwürdig voneinander isoliert: Sie entwickeln sich zu einzelnen Textsträngen, die abwechselnd in kurzen Kapiteln abgehandelt werden. Man fragt sich jedoch, warum dann genau diese beiden Personen in einem Text vereint werden. Da hilft es kaum, zu beteuern: „Aber Ida Kästner und Kurt Vonnegut waren sich nah, immer wieder“.

Die Gedanken an die Dresdner Vergangenheit werden immer wieder durch die Reiseanekdoten des Erzählers durchbrochen. Dieser beschwert sich im ICE auf dem Weg nach Dresden obligatorischer Weise über die Deutsche Bahn, kommentiert das Verhalten seiner Mitreisenden, sinniert, aus dem Fenster blickend, über die durch den Menschen bewirkten landschaftlichen Veränderungen, Kriege im Allgemeinen oder die Bedeutung von „Dresden“ als heutige Metapher für „ sinnlose Zerstörung in allen Lebensbereichen“. So ergibt sich auch im zeitlichen Sinne eine Collage aus Vergangenheit und Gegenwart, die zwar zum Teil etwas ungelenk zusammengewürfelt wirkt, zugleich aber die Aufmerksamkeit auf die zwischen den unterschiedlichen Ebenen hin und her springenden Denkvorgänge des Erzählers lenkt.

Sprachlich unterstrichen wird der lockere, skizzenhafte Stil Hanuscheks auch durch lapidare Bemerkungen wie „Auch Ida Kästner war eine Granate, sozusagen“ und den Plauderton, der sich in Einschätzungen wie „auch die Synagoge brannte in der sogenannten Reichskristallnacht 1938 wohl kaum, weil schnell mal ein paar Berliner Zündler angereist waren. Das haben die Dresdner schon alleine hingekriegt“, bemerkbar macht. Viele solcher Bemerkungen bleiben leider etwas zusammenhangslos stehen. So auch die an vielen Stellen kurz angerissenen Verweise auf aktuelle politische Debatten wie die Flüchtlingskrise oder die Trump-Problematik, die den Text stellenweise eher wie einen kaum fundierten Zeitungsartikel erscheinen lassen. Eine umfassende Darstellung der Thematik auf den knapp 100 Seiten scheint aber auch gar nicht Hanuscheks Ziel zu sein. So kann der Text vielmehr als gedanklicher Anstoß genommen werden, der Biographie Ida und Erich Kästners sowie dem Leben und Werk Kurt Vonneguts weiter nachzugehen.

Abgesehen von den verallgemeinernden, pseudo-kritischen Gedankenausschweifungen des Erzählers, die in störender, oft unpassender Weise von der eigentlichen Thematik ablenken, ist Wir leben noch ein informativer Text, in dem Hanuschek es schafft, einen vielschichtigen Blick auf Dresden sowohl im historischen als auch gerade durch das Werk Vonneguts im literarischen Sinne zu lenken und die Verflechtungen von Geschichte und Literatur Weise zu thematisieren.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Sven Hanuschek: Wir leben noch. Ida und Erich Kästner, Kurt Vonnegut und der Feuersturm von Dresden. Eine Zugfahrt.
Atrium Verlag, Berlin 2018.
128 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783855350346

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