Schlafwandeln auf einem Schlachtfeld

In „Iran, Ordibehescht 1396“ kratzt Christian Welzbacher an der Oberfläche der Islamischen Republik

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Will man in Mitteleuropa als Autor auffallen, kann ein Iran-Reisebuch helfen: Einfach für einige Wochen hinfahren, ein paar Touristenstädte und Pilgerorte besuchen, Menschen kennenlernen, sich einladen lassen, um einen Einblick in ihr Leben zu erhaschen und – wichtig – stets ein paar Brocken der persischen Amtssprache beherrschen, für den Fall dass es brenzlig wird, wenn etwa das Kopftuch verrutscht oder man zufällig ein Atomkraftwerk fotografiert. Zu Hause die Erlebnisse dann mit Grusel-Klischees garnieren, die hierzulande mit dem „Gottesstaat“ assoziiert werden: Frauen in Tschadors, Geistliche mit finsteren Gesichtern, Militärparaden, auf denen endlos Raketen gezeigt werden, und dunkle Männerhorden, die US-Flaggen verbrennen. Da das Buch seine Leser unterhalten und von ihnen viel gekauft und verschenkt werden soll, kann es nicht schaden, den Ton flapsig zu halten und sich gelegentlich über das besuchte Land lustig zu machen.

Stephan Orth und Nadine Pungs haben mit Couchsurfing im Iran. Meine Reise hinter verschlossene Türen (2014) beziehungsweise Das verlorene Kopftuch. Wie der Iran mein Herz berührte (2018) genau solche Reisebücher verfasst. Der Klappentext bei Orth kündigt zwar an, dass er ein Land kennenlernt, „das so gar nicht zum Bild des Schurkenstaates passt“ und bei Pungs heißt es, sie erkunde, „wie das Land jenseits westlicher Klischees tatsächlich tickt“. In beiden Büchern ist davon allerdings wenig zu entdecken: Als hätten beide der Versuchung nicht widerstehen können, befriedigen und reproduzieren sie lieber von Tausend und einer Nacht, den Orientromanen von Karl May oder von Nicht ohne meine Tochter geprägte Klischeebilder westlicher Leser. Sich selbst zeichnen sie gern als tollpatschig-tumbe Touristen – und diesen geht es nicht ums Verstehen, sondern ums Vergnügen.

Mit Iran, Ordibehescht 1396 hat der promovierte Kunsthistoriker Christian Welzbacher, 1970 in Offenbach geboren, nun ein weiteres Reisebuch über die Islamische Republik vorgelegt. Auch hier ist im Klappentext die Rede von einer „Reise als Herausforderung“, von einem „Anrennen“ gegen die „Unzulänglichkeiten des eigenen Wahrnehmungsapparates … wie gegen eine Mauer“ und davon, dass das 2018 im Verlag Matthes & Seitz erschienene Buch „für den Dialog“ plädiert.

Im April 2017, nach iranischem Kalender im Monat Ordibehescht des Jahres 1396, reist Welzbacher nach Teheran. Ein Architekturbüro, das auch eine Künstler-Eventagentur unterhält, ist an internationalem Austausch interessiert. Welzbacher soll für sie eine für das deutsche Institut für Auslandsbeziehungen kuratierte Ausstellung zum Moscheenbau der Gegenwart in den Iran bringen. Da aber die Chefin, mit der er das Ganze besprechen soll, dauernd unterwegs ist, nutzt er seine freie Zeit, um Teheran, Isfahan und Täbriz zu bereisen. In Täbriz, der Hauptstadt des iranischen Teils von Aserbaidschan, hält er an der Universität einen Vortrag über „Moscheenbau in Europa“.

Das Reisebuch handelt vom Durchstreifen der Städte und kleinerer Ortschaften wie des Felsendorfs Kandovan bei Täbriz, von Besuchen in Basaren, Teehäusern und Restaurants und von Gesprächen mit jungen Menschen. Welzbacher bleibt dabei auf bereits bekannten Pfaden. Eine Ausnahme bildet ein Spaziergang durch Isfahan, da er hier „auf seinem Weg durch die Stadt Haupteingänge und Touristenrouten meidet, Hinweisschilder ignoriert und sich umständlich durch das Gassengewühl schlägt“. Der Grund: Er möchte sich „Trümmerwüsten“ ansehen, die die Innenstadt umgeben würden: „Es ist, als habe jemand die Stadt ausgebeint und dabei so geschickt tranchiert, Schicht um Schicht abgetragen und beiseite geräumt, dass dem Zuschauer, der von dem ihm offiziell zugewiesenen Platz aus den herrlichen Isfahaner Stadtprospekt bestaunt, die Ruinen und Lücken uneinsehbar bleiben.“ Es sind solche Passagen über Entdeckungen abseits bekannter Routen, die das Buch lesenswert gemacht hätten, wenn der Autor sie öfter und stärker herausgearbeitet hätte.

Einen eher negativen Eindruck von Iran, Ordibehescht 1396 hinterlassen jedoch sowohl inhaltliche Fehler als auch beleidigende Äußerungen über Menschen im Land und ihre Verhaltensweisen. So behauptet Welzbacher, dass die große Sammlung westlicher Gemälde und Plastiken, die im Teheraner Museum für zeitgenössische Kunst aufbewahrt wird und deren Ausstellung 2016 in Berlin gescheitert ist, Farah Diba gehören würde. Und er fragt, ob die „im Exil lebende Kaiserin im Moment der Ausfuhr ihrer Sammlung eine Restitutionsforderung [hätte] lancieren können“. Hätte Welzbacher recherchiert, hätte er herausgefunden, dass das Geld für das Museum, das in den 1970er-Jahren von Diba aufgebaut wurde, von der National Iranian Oil Company, einem staatlichen Betrieb, stammt und nicht von der Ex-Herrscherin, die daher keinen Anspruch darauf hat.

Unpassend erscheinen auch die Äußerungen über das „Taroof“, das Welzbacher als das „legendäre Freundlichkeitsgefasel“ und als „Nettsprech“ abtut. Auch wenn er vorher zugibt, dass man sich „reizend“ um ihn kümmert, empfindet er das „ungewohnte Benehmen als übersteigert“. Die Rituale und Gesten des Respekts, das „Phrasendreschen“ und die „Floskeln“ gehen ihm, salopp gesagt, auf die Nerven. Welzbacher zeigt auch kein Interesse, woher dieses Verhalten stammt, das man auch in anderen asiatischen Kulturen findet. Dabei hätte er die Information liefern können, dass das Taroof für eine zirkuläre Kommunikation steht, die beispielsweise Kritik eher zwischen den Zeilen äußert.

Auch an anderer Stelle wirkt Welzbachers Wortwahl mindestens unangemessen. So spricht er von „Tschadormädchen“, was an Thilo Sarrazins „Kopftuchmädchen“ erinnert, und bezeichnet den Teil der Frauen im Land, die sich schick kleiden und operierte Nasen haben, als „Tussis“. Iranern aus der Mittelschicht, die den sozialen Abstieg fürchten, wirft er „kleinbürgerliches Gebaren“ vor: „diese derangierte soziale Disposition, die sich im ständigen Abschätzen, ständigen Absetzen von Konkurrenten entlädt.“ Danach analysiert er fast sozialdarwinistisch deren Lage und vergleicht diese mit der Situation auf der Straße:

Ab einem gewissen Punkt wird die Mittelschicht zu ihrem eigenen Problem. Wenn zu viele nach oben wollen, wo es natürlich nicht genug Platz für alle gibt, so passiert das, was passiert, wenn auf einer Straße zu viele Autos zur gleichen Zeit in die gleiche Richtung wollen. Stop-and-go: die iranische Mittelschicht, deren Mitglieder sich gegenseitig am Weg nach oben hindern.

Das ist zynisch, wenn man bedenkt, dass die schwierige politische und wirtschaftliche Lage Folge der Sanktionen und der Machtkämpfe in den Regierungskreisen in Teheran ist.

Orientalismus und „Ariertum“

Ein Verharren in einer traditionellen Sichtweise auf den „Orient“ kann man dem Autor ebenfalls attestieren – und zwar an den Stellen, in denen es um seine Erwartungen geht. So schreibt er über einen Besuch in einem Täbrizer Teehaus, ohne jede kritische Reflexion seiner Position:

Das Kafe-Khane entspricht den Vorstellungen von Orient in etwa so wie das Hamam auf den Odaliskenbildern von Dominique Ingres. Zum ersten Mal fühle ich mich wirklich angekommen in einer fremden Welt: weil sie die Vorstellung bestätigt, mit der ich gekommen bin. Im Basar, den wir zuvor intensiv durchstreift haben, war das unmöglich. Er ist, wenngleich dort für unsere Verhältnisse exotische kaufmännische Rituale gepflegt werden, doch in vielerlei Hinsicht ein modernes Handelszentrum, dessen Strukturen und Abläufe überall auf der Welt so ähnlich sind, wie das dahinterliegende Interesse.

Welzbacher fühlt sich in dem Teehaus wohl, weil seine klischeehafte Vorstellung bestätigt wird. Dass diese aus dem 19. Jahrhundert stammt und mit Bezug auf Edward Said als orientalistisch zu bezeichnen ist, stört ihn nicht. Es fällt in dieser Passage zudem auf, wie weit er von der Realität im Iran entfernt ist, obwohl er an einer Stelle darlegt, dass die Auswertung eines Iran-Pressespiegels Teil seiner Reisevorbereitung war. Im Teehaus kommt er mit zwei Männern Anfang Zwanzig, die er als „Jugendliche“ bezeichnet, ins Gespräch: „Dann fragen sie, ob sie Chancen hätten, nach Deutschland auszuwandern, und ich ihnen dabei helfen könne. Warum sie das tun wollen? Eine tragfähige Erklärung liefern sie nicht. ,Itʼs better.ʻ Was genau? Das werde man schon herausfinden.“ Dass es leider viele Gründe gibt, den Iran zu verlassen, müsste Welzbacher, nicht nur nach der Lektüre des Pressespiegels, sondern eigentlich auch durch seine Gespräche vor Ort klar sein: Im Land herrschen Massenarbeitslosigkeit und Armut, Materialmangel und hohe Preise. Hinzu kommt, dass die Menschen infolge der religiösen Verbote nur begrenzte Chancen haben, ihr Leben frei und selbstständig zu gestalten. Viele der oft sehr gut ausgebildeten Jungen wollen daher ins Ausland.

„Ich bin ein Schlafwandler auf einem Schlachtfeld“, schreibt Welzbacher am Ende seines Iran-Reiseberichts. Das ist eine Erkenntnis, der man nach der Lektüre zustimmen kann. Insbesondere die Passagen, in denen sich der Autor über die „Arier“- und Minderheitenthematik in der Islamischen Republik äußert, zeigen ihn auf sehr dünnem Eis. Wenn man über die „Arier“ im Iran schreibt, wäre es geboten, die historische Entwicklung und rassistische Aufladung dieses Begriffes im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts zu behandeln. Das interessiert den Autor aber nicht: „Ob der iranische ,Arierʻ etwas mit dem antisemitischen Rassekonstrukt zu tun hat oder nicht: Es stellt sich die Frage der mit einem solchen Begriff belegten Selbstauffassung der ,Arierʻ in der Gegenwart.“

Diese Selbstauffassung kann man aber nicht, möchte man ihm zurufen, ohne die Abhandlung des Begriffs in der modernen iranischen Geschichte beurteilen. „Iran“ bedeutet „Land der Arier“ und wurde als Name dieses Teils von Vorderasien seit über 1000 Jahren von den hier lebenden Völkern gebraucht. Es war die Dynastie der Pahlewis, die ab 1933 eng mit den Nazis kooperierte, und die den im Westen rassistisch aufgeladenen Begriff bewusst im Iran propagierte, um die angebliche Höherwertigkeit der Perser, ihrer Sprache und Kultur gegenüber den anderen Ethnien im Land – und überhaupt gegenüber Türken, Mongolen und Arabern – zu unterstreichen.

Mit dieser Ideologie wollten die Pahlewis an die Größe des antiken Perserreiches anknüpfen und eine Traditionslinie zu sich selbst ziehen. Zudem verfolgten sie den Plan, dem Vielvölkerstaat eine rein persisch geprägte Identität aufdrücken. Aserbaidschanische Türken, Araber, Kurden und andere Ethnien im Iran sollten ihre sprachliche und kulturelle Eigenständigkeit verlieren. Nach der Installierung der Islamischen Republik 1979 hat sich daran nicht viel daran geändert, auch wenn den Nichtpersern laut der Verfassung offiziell zusteht, ihre Sprachen und Kulturen zu pflegen.

Als Leser ist man verblüfft, wie wenig Fingerspitzengefühl und geschichtliches Bewusstsein der Autor besitzt. So wenn er, ein anderes Beispiel, im Kontext seines Täbriz-Besuches den Fakultätsleiter an der dortigen Universität, Dr. Khosravi, einen Perser aus Kerman, als „Arier“ bezeichnet und über seine Situation im aserbaidschanisch-türkischen Sprachgebiet Irans schreibt: „Er spricht Farsi, was bedeutet, dass er bisweilen von Unterhaltungen ausgeschlossen ist, und zwar mit voller Absicht, wie er mir versichert. Er fühlt sich geschnitten, ja ignoriert. Es tut ihm weh. Er ist traurig und er versteht nicht, warum das so sein muss. Im Restaurant bestellt er Dough. Man bringt ihm einen Becher Ayran.“

Es ist gut und wichtig, dass Welzbacher die Konflikte zwischen den Persern und den anderen Ethnien im Land anspricht, weil das hierzulande kaum bekannt ist. Allerdings bedarf es einer gründlichen Darstellung und Analyse der geschichtlichen Ursachen und auch der derzeitigen Lage. Das leistet der Autor nicht. Er stellt Aussage gegen Aussage, ohne zu erklären. Deshalb folgt sie hier: Die Unterdrückung der nichtpersischen Ethnien durch die Regierung – unterstützt durch persische Nationalisten, die jede Form der Sprach- und Kulturpflege der anderen (größeren) Ethnien im Land als Separatismus bezeichnen – hat die aserbaidschanischen Türken, Kurden und Araber im Iran dazu veranlasst, selbstbewusst dagegenzuhalten. Welzbacher stiftet in diesem Kontext auch noch Verwirrung, weil er im Bericht stets von „Türken“ spricht, ohne diesen Begriff genau zu erklären. Damit sind in diesem Kontext nicht Menschen aus der Türkei gemeint, sondern es handelt sich um die (Selbst-)Bezeichnung derjenigen im Iran, die aserbaidschanisches Türkisch sprechen, was mit dem Türkei-Türkischen verwandt ist. Sie stellen 40 Prozent der Bevölkerung im Iran.

Soziologie und Alltag

Iran, Ordibehescht 1396 ist ein Reisebericht, der auch und vor allem den Versuch Welzbachers darstellt, bestimmte Erscheinungen im Alltag der Islamischen Republik wie den Stau zu einer „Funktion der Soziologie“ zu machen. „Erkenntnisgewinn durch Beobachtung und Ausdeutung der Phänomene, durch Ursachenforschung und Rekonstruktion der Zusammenhänge“, schreibt der Autor – und dass, obwohl er zu Beginn seiner Aufzeichnungen selbst davon spricht, dass er „kein Soziologe“ sei. Der Widerspruch stört ihn aber nicht. Man spürt im Gegenteil seinen Wunsch, sein Vorbild Siegfried Kracauer, dessen Name am Ende tatsächlich auch fällt, nachzuahmen: „Auf den unbeteiligten Beobachter wirkt der Verkehr wie eine allegorische Performance, deren Pointe im Stillstand liegt. Steckenbleiben ist ein Schicksal, das jeder als Teil seines Lebens anerkennt.“

Das Buch, das den Untertitel Reisebilder trägt, ist eine Zusammenstellung  von Erlebnisberichten, Skizzen und Gesprächen mit Reflexionen.  Welzbacher lässt dabei mit Schah-in-Schah (1982) von Ryszard Kapuściński und Telex: Iran (1983) von Gilles Peress zwei weitere Titel und Namen fallen, die neben Kracauer die Struktur des vorliegenden Buches beeinflusst haben. Am Ende reflektiert der Autor auch Entstehung und Aufbau seines Berichts und lässt die Leser mit Aussagen zurück wie: „Es stimmt, dass ich auf meiner Reise etwas gefunden habe, von dem ich nicht weiß, was es ist.“ Denen, die vorhaben sollten, sein Buch im wahrsten Sinn des Wortes zu analysieren, gibt er noch einen Hinweis, der erstaunt: „Eine Abfolge hintereinander geschachtelter Bilder ergibt in der Wahrnehmung eines Menschen zwangsläufig eine Geschichte. … Die Gedankenkonstruktionen wieder aufzulösen, die Geschichte wieder zu entwirren, auf die Einzelbilder zurückzukommen, wäre eine geradezu unnatürliche Zwangshandlung.“

Iran, Ordibehescht 1396 ist tatsächlich ein Buch, das eine „Reise als Herausforderung“ darstellt, aber anders als es der Klappentext meint. Welzbacher reißt zwar viele Themen an, kann sie aber nicht bewältigen. Seine Collage ist sprachlich und inhaltlich nicht gründlich durchgearbeitet. Sie bleibt an der Oberfläche, wirkt unfertig und ist fehlerhaft. Es wäre die Aufgabe des Lektorats gewesen, hier auf eine Nachbearbeitung zu pochen. Das Hauptproblem besteht aber vor allem darin, dass der Autor kein wirkliches Interesse für Land und Leute hat, das und die er drei Wochen besucht hat, dass er das Gesehene und Erlebte aber trotzdem einordnen will. Will – denn auch das gelingt ihm nur in wenigen Fällen. Welzbacher steht seinem Vorhaben selbst im Weg. Er wirkt saturiert, starr und ist wie Orth und Pungs nicht wirklich bereit, die eigene Sichtweise anlässlich der Reise kritisch zu hinterfragen oder sich mit Empathie in die Situation der Menschen im Iran hineinzuversetzen. So gelingt es seinem Buch nicht, wie behauptet, „für den Dialog“ zu plädieren.

Titelbild

Christian Welzbacher: Iran, Ordibehescht 1396.
Mit Fotografien des Autors.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2018.
182 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783957576415

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