Vom Umgang mit Uneindeutigkeiten
Mario Grizelj geht den religiösen Vorformen der Ästhetik nach
Von Jakob Christoph Heller
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas Verhältnis von Literatur und Religion hat es in den letzten beiden Jahrzehnten zu erneuter Prominenz in der Forschung gebracht, wofür exemplarisch die Arbeiten von Bernd Auerochs, Wolfgang Braungart, Clemens Pornschlegel und Daniel Weidner stehen können. Kennzeichen dieses religious turn ist die Wegorientierung von kulturhistorischen und motivgeschichtlichen Ansätzen einerseits, vom Säkularisierungstheorem andererseits hin zur Untersuchung der ästhetischen und medientheoretischen Implikationen von (spezifischen) Religionen. Spätestens mit dem von Stefanie Ertz, Heike Schlie und Daniel Weidner verfassten Band Sakramentale Repräsentation (2012) ist darüber hinaus die Notwendigkeit, theologisches Wissen auch bei philologischen und kulturwissenschaftlichen Fragestellungen zu berücksichtigen, anerkannt und in höchstem Maße produktiv gemacht worden. Auch Mario Grizeljs Studie Wunder und Wunden. Religion als Formproblem von Literatur (Klopstock – Kleist – Brentano), die als Habilitationsschrift an der LMU München entstanden ist, verortet sich in diesem Forschungsfeld. Die Hauptthese seiner lesenswerten Arbeit ist weitreichend: Moderne Literatur habe ihre „prägenden Vorformen“ in „spezifischen Figuren religiöser Rede, religiöser Erfahrung und religiöser Phänomenalität“ gefunden. Diese Figuren und ihre literarischen ‚Nachformen‘ spielt die Studie im Rahmen von vier „Metaphernarrangements“ durch: „Literatur als Wunder, Literatur als Eucharistie, Literatur als Monstranz, Literatur als Reliquie.“
Schon diese in der Einleitung formulierte Problemskizze zeigt, dass Mario Grizeljs Arbeit sich nicht zuletzt innerhalb der komplexen Forschungsdebatten zu verorten hat, um ihren originär eigenen Beitrag markieren zu können. Ihren Schwerpunkt legt die Studie somit auf die systematische und theoretische Ebene. Gegen den „Kompaktbegriff“ der ‚Kunstreligion‘, der dazu beitragen würde, Uneindeutigkeiten und Unentscheidbarkeiten – etwa im Verhältnis von Theorie und Darstellung, von Religion und Literatur – zu verdecken, setzt Grizelj die dichte Beschreibung von religiösen Figuren und ihren literarischen Nachwehen. Ein zentraler Punkt seiner Argumentation ist die Definition von Literatur wie Religion als zwei Formen (beziehungsweise Sets von Praktiken), die einen analogen „modus operandi des Erkennens selbst“ anwenden: Beide bieten (prekäre) Verfahren, „das Unbeobachtbare und Nicht-Präsente [zu] (re-)präsentieren.“ Beide „sind für die Verwaltung von Unbestimmtheit und Uneindeutigkeit zuständig“, wobei Religion „eindeutige Uneindeutigkeit“ (den geregelten Bezug auf Nichtwissen) und Literatur „uneindeutige Eindeutigkeit“ (die Kommunikation von Aisthesis) markieren würden.
Die formal bestimmte Ähnlichkeit – „Uneindeutigkeit ist die Konvertierungseinheit für Religion und Literatur“ gleichermaßen – bildet nun den Hintergrund, vor dem die Analyse der ‚religiösen Figuren‘ (Eucharistie, Stigma, Reliquie, Mystik) stattfindet, die dabei gleichsam den Status von Modellen erhalten, denen gemeinsam ist, dass sie Unterscheidungen verunmöglichen: Die Eucharistiefeier stelle „mediale Gegenwärtigkeit“ her, das Stigma lasse Semiotizität und Medialität kollabieren, die Reliquie inszeniere Transzendenz im Dinglichen, die Mystik sei Kommunikation über das Inkommunikable. Schon die Kurzcharakterisierung der vier Figuren – und ein Blick auf die quantitative Gewichtung im Inhaltsverzeichnis – mag andeuten, dass sie nicht alle denselben Status in Grizeljs Darstellung haben. In der Studie wird, im Anschluss an die Arbeiten von (vor allem) Petra Bahr, Stefanie Ertz, Jochen Hörisch und Daniel Weidner, die Eucharistiefeier zu einer master trope, die die für Grizelj interessanten Verwerfungen und Unentscheidbarkeiten im Verhältnis von Präsenz und Repräsentation, Körperlichem und Geistigem, Vermittlung und Inkommunikabilität beinhaltet: „Die Eucharistiefeier als ars celebrandi ist ein wichtiger […] Anlehnungsdiskurs für die Entdeckung der Sinnlichkeit als epistemischer Größe durch die Ästhetik im 18. Jahrhundert“, so Grizelj, wobei in seinem Text nicht ganz unterscheidbar ist, ob es sich bei der Eucharistiefeier nun um einen (von mehreren?) wichtigen „Anlehnungsdiskurs“ für die Ästhetik handelt oder ob die „systematische Unhintergehbarkeit des Medialen […] ohne religiöses Erbe nicht denkbar“ sei, wie er wenige Seiten später zuspitzt.
Doch unabhängig von dieser Frage gehört die ausführliche Auseinandersetzung mit der Eucharistie – unter Berücksichtigung der medientheoretisch und semiotisch hochrelevanten konfessionellen Differenzen – zu den Höhepunkten von Wunder und Wunden. Akribisch, materialreich und dennoch auf beeindruckendem Abstraktionsniveau bestimmt Grizelj den polysensoriellen, multimedialen Charakter des Abendmahls und die Funktion dieses konstitutiven Überschusses zur Hervorbringung beziehungsweise Erfahrbarmachung (Grizelj spricht von „Her(aus)stellung“) der „Präsenz des anwesend abwesenden Gottes […]. [E]rst indem die Botschaft Gottes als ‚unfassbarer Sinn‘ erfasst und das Unfassbare daran in der intensiven, medial induzierten, Erregung der Sinne erlebt und erfahren wird, wird die Botschaft Gottes in Erfüllung gebracht.“ Dass in Grizeljs Argumentation das ausschließlich katholische Fronleichnamsfest zur paradigmatischen feierlichen Ausstellung der Medienabhängigkeit von Präsenz gerät, ist im Rahmen seiner systematischen Bezugnahme von Religion und Literatur nachvollziehbar. Jedoch lässt es die Frage aufkommen, wie sich das (historische) Verhältnis der beiden Bereiche – samt Übertragungen – im Rahmen der reformierten Kirche im Zeichen Zwinglis gestaltete. Sein Hinweis, „Luthers und Zwinglis Abendmahlslehren [hätten] ihren gemeinsamen Nenner in der Vorstellung, dass die Präsenz Christi bzw. Erinnerung an die Präsenz Christi“ erst „rhetorisch, semiotisch und medial“ hervorgebracht werden müsse, scheint mir die – für die Konfessionen wie für Grizeljs Argument gleichermaßen relevante – Differenz zwischen Erinnerung und Präsenz einzuebnen.
Der Analyse der Eucharistie folgt ein kurzes Kapitel zu Stigmata und Mystik, das die bisherige Argumentationslinie stützt und auf andere Figuren überträgt – im Mittelpunkt steht die Ersetzung von „Repräsentation durch Intensität und Erregung“, die beide Figuren kennzeichne. Auch das umfangreichere und im Buchtitel bereits versprochene Kapitel zum Wunder schreibt das an der Eucharistiefeier gewonnene Paradigma fort, verankert die Diskussion jedoch historisch dezidierter in der Aufklärung, in der verschiedene Wissensbereiche und Diskurse „die Möglichkeiten sensationell-sinnlicher Erkenntnis durchspielen und damit implizit an religiöse Codierungen anschließen, ohne selbst deshalb religiös werden zu müssen.“
Diesem Durchspielen widmet sich abschließend der dritte Teil von Grizeljs Studie, in dem an drei literarischen Fallbeispielen die Formatierung literarischer Rede durch das Ununterscheidbarkeitsparadigma religiöser Figuren gezeigt wird. Friedrich Gottlieb Klopstocks Dichtung wird einer knappen, vor allem über Sekundärliteratur arbeitenden Analyse unterzogen, an deren Ende die Dichtung als „Feier der Medialität“ ausgezeichnet wird. Heinrich von Kleists Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik analysiert Grizelj überzeugend als Text, der die „Formvorgaben seines Sujets – Wunder – inhaltlich und formal“ umsetzt und aufzeigt, dass es gerade das Medium der Literatur ist, das im Zeitalter der Religionskritik „eine Form bietet, uneindeutigem Wissen und den mit diesem korrelierenden Vermögen […] einen epistemischen Status zuzuschreiben.“ Die ebenfalls recht knappe Untersuchung von Clemens Brentanos Emmerick-Schriften schließlich vertieft den bei Klopstock formulierten Befund: Nicht die inhaltliche Repräsentation der Visionen sei entscheidend an Brentanos Aufschreibeprojekt, sondern die sinnliche Intensität der Beschreibungen. Die „erregte Erfahrbarkeit von Gottes Leiden durch unsere ganze Körperlichkeit [wird] als sinnlich anhermeneutischer Modus der Gotteszuwendung“ präsentiert.
Obgleich die Knappheit der literarischen Analysen ein wenig betrübt, bietet Mario Grizeljs argumentativ überzeugende Studie vielfältige Einsichten in die Analogien zwischen den religiösen und literarischen Modi des Umgangs mit Uneindeutigkeiten – seien diese nun strikt transzendent oder schlicht aisthetisch zu denken. Das „Formproblem“, das der Titel seiner Studie anspricht, ist freilich weniger Problem als vielmehr Chance der Literatur: Religiöse Figuren werden ihr nicht zum Problem, sondern zur (mindestens) Anregung für den produktiven – und damit klare Oppositionen durchkreuzenden – Umgang mit dem Sinnlichen, dem Geistigen und beider Verhältnis zueinander.
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