Blicke auf die Welt Theodor Fontanes

Drei Sachbücher vermitteln zwischen damals und heute

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Theodor Fontanes Romanwerk ist eine bewundernswerte Altersleistung. Zwischen seinem 60. und 80. Lebensjahr hat der Autor 16 Romane veröffentlicht, in seinem Nachlass befand sich noch ein weiterer Roman. Ihr Bogen spannt sich von den beiden frühesten historischen Romanen über Preußens schwerste Krisenzeit zu Anfang des 19. Jahrhunderts bis zu den Zeitromanen der letzten Jahre. Ging man früher von einem „heiteren Darüberstehen“ des Autors über seine Gestalten und Begebenheiten aus, wird seit mehr als einem halben Jahrhundert immer stärker der Gesellschaftsschilderer, der Zeitkritiker Fontane wahrgenommen, der das Zeittypische im Persönlichen, das Repräsentative im „besonderen Fall“ einfing.

In welchem Maß ist in den Romanen Zitatmaterial von der bloßen versteckten Anspielung bis zur Spiegelung ganzer Gestalten, Szenen oder Werke anwesend? Für Fontane ergaben sich viele seiner Romane aus den Wanderungen durch die Mark Brandenburg, mit denen er diese Landschaft erst einem größeren Publikum nahegebracht hatte. Die Romanarbeit war immer wieder mit Reisen verbunden, um sich die Welt der Figuren zu erschließen. Teile seiner Romane entstanden sogar oft vor Ort. Der Autor nahm Authentisches auf, das man selbst heute noch aufsuchen kann, unterwarf es jedoch gewissen poetischen Notwendigkeiten und Veränderungen. Er konnte aber genauso gut scheinbar Authentisches selbst erfinden. Das Dreieck zwischen Rheinsberg, Kloster Wutz und Gransee bildet die Welt des alten Dubslav im Stechlin, die über den Stechlinsee in geheimnisvoller Weise mit der ganzen Welt verbunden ist. Zwar gibt es das Dorf Stechlin mit dem Schloss im Süden des Sees nicht, wohl aber Globsow und das Kloster Lindow am Wutzsee. Keiner der Romane Fontanes ist so unmittelbar aus seinen Wanderungen hervorgegangen wie der Stechlin.

Im Vorfeld des 200. Geburtsjahres Fontanes sind drei Sachbücher erschienen, die sich als spannende Lektüre erweisen: Fontanes Fünf Schlösser von Erik Lorenz und Robert Rauh, von denen letzterer ebenfalls Fontanes Frauen Fünf Orte – fünf Schicksale – fünf Geschichten verfasst hat, außerdem macht Bernd W. Seiler den Leser mit Fontanes Sommerfrischen bekannt. Sie alle erkunden den Lebensraum des großen Romanciers und „Wanderers“ durch die Mark Brandenburg und werfen Blicke von heute ins 19. Jahrhundert.

Lorenz und Rauh unternehmen eine Spurensuche in die Geschichte und Gegenwart von Fontanes Fünf Schlösser (Hoppenrade, Liebenberg, Plaue, Quitzöbel und Dreilinden), dem Fortsetzungsband der Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Sie erzählen die Geschichten der einstigen und heutigen Schlossbewohner und haben sich zu diesem Zweck mit Zeitzeugen aus den anliegenden Ortschaften unterhalten und intensive Archiv- und Literaturstudien betrieben. Gewissermaßen haben sie 130 Jahre nach dem Erscheinen von Fontanes Fünf Schlösser die Arbeit des großen märkischen Chronisten des 19. Jahrhunderts fortgesetzt und dessen Erkenntnisse auf den neuesten Stand gebracht. Im Netzwerk dieser Schlösser ist eine ganze Kulturgeschichte des märkischen Landes entstanden: eine Montage aus Reportagen, Reiseberichten, Feuilletonbeiträgen, Gesprächen, Geschichten und Geschichtsstudien mit subjektiven Einschätzungen, die zum Disput anregen. Die Autoren bezeichnen die fünf Schlösser als „Parabel für die Vergänglichkeit der Dinge – eine Parabel ohne Melancholie“, denn diese faszinieren noch heute – durch „morbiden Charme“ oder „neuen Glanz“. Von Dreilinden ist zwar nicht mehr als der Name und die Erinnerung geblieben, aber die Autoren lassen es so anschaulich wiedererstehen, dass sich auch in diesem Fall ein Besuch lohnen würde. Dagegen gleicht Hoppenrade heute einem „verwunschenen Schloss“, Liebenberg verbindet als Hotel und Tagungsort Kultiviertheit und Gemütlichkeit, Plaue wiederum ist von „morbider Eleganz“, während sich bei Quitzöbel niemand dafür zu interessieren scheint, welche Geheimnisse sich hinter den verfallenden Gemäuern verbergen. Diesen Geheimnissen sind die Autoren nachgegangen, und nun dürfte wohl auch diesem Schloss gegenüber wieder neue Aufmerksamkeit bekundet werden.

Hoppenrade, eine der bedeutenden barocken Anlagen in der Mark, das seit 2012 Donata und Julian von Hardenberg gehört, ist durch die „Krautentochter“ bekannt geworden: Luise Charlotte Henriette von Kraut, die auf Grund ihrer ausschweifenden Lebensart und amourösen Affären berühmt-berüchtigt wurde. Fontane kam erstmals 1861 ins Schloss Hoppenrade und war „fest entschlossen, das Dunkel nach Möglichkeit zu lichten“. Über die legendäre „Krautentochter“ begann er intensiv zu recherchieren. Bei seinem ersten Besuch hatte ihm die alte Stägemann die wichtigsten Ereignisse aus deren Leben verraten: drei Ehen, ein Duell und zudem noch eine Entführung. Dann – 1880 – fand Fontane in der Knyphausenschen Familienchronik in Ostfriesland noch „wahre Schätze“ über sie. Mit der „Krautentochter“ füllte er allein 12 von 14 Hoppenrade-Kapiteln. Die Autoren fragen sich zu Recht, warum Fontane den Stoff nicht für einen Roman verwendet hat. War ihm ihr Leben doch zu angreifbar? Aber dann hätte er sie doch in eine seiner unvergesslichen Frauengestalten verwandeln können.

An die glanzvolle „Krautentochter“-Zeit konnte das Schloss später nicht mehr anknüpfen. Zu DDR-Zeiten diente es als Konsum, Kneipe, Klub und Nische für Ostberliner Künstler. 1991 hat der Berliner Werbefachmann Klaus Fehsenfeld das heruntergekommene Schloss gekauft und saniert, die Sanierungskosten aber völlig unterschätzt. Es diente der vierten Adaption der Effi-Briest-Verfilmung als Kulisse. Seit 2012 befindet sich Hoppenrade nun in neuer Privathand. Bei der Restaurierung ist Erstaunliches geleistet worden, der wiederhergestellte Park steht der Öffentlichkeit zur Verfügung und auch die Rokoko-Kapelle soll weiter für geistliche und kulturelle Zwecke genutzt werden.

Fontane war 1880 in Liebenberg, hat aber nur das ursprüngliche Schlossgebäude gesehen. Denn das im historisierenden Stil erweiterte Schlossensemble wurde erst um 1900 von Philipp Graf zu Eulenberg vollendet. Es entwickelte sich eine „Beziehung auf Augenhöhe jenseits von Standesdünkel, den der Dichter in anderen Adelshäusern erfahren hatte“, schreiben die Autoren, doch für die Publikation von „Freundesbriefen“ verweigerte der inzwischen schwer erkrankte Eulenburg Fontane die Zustimmung. Die Basis für die landwirtschaftliche Nutzung der Umgebung ist seit dem 17. Jahrhundert dem Kleveschen Oberjagdmeister Jobst Gerhard von und zu Hertefeld zu verdanken, den Fontane in Fünf Schlösser als „epochemachend für die Kulturgeschichte der Mark“ beschreibt. Dem Urgroßvater Philipps, Friedrich Leopold von Hertefeld, widmete Fontane im selben Text ein umfangreiches Kapitel.

Der bekannteste Liebenberger Schlossherr, eben jener Fürst zu Eulenburg und Hertefeld, war Diplomat und enger Vertrauter Kaiser Wilhelms II. In den Liebenberger Wäldern gingen sie gemeinsam zur Jagd, um beide versammelte sich die „Liebenberger Tafelrunde“, ein Freundeskreis preußischer Aristokraten, bis Eulenburg Opfer einer Kampagne des monarchiefeindlichen Journalisten Maximilian Harden wurde, der ihn der Homosexualität bezichtigte. Fontane, der 1898 verstarb, hat die Harden-Eulenburg-Affäre nicht mehr miterlebt. Nicht nur Eulenburg war durch diese Affäre geächtet und isoliert worden. Die Autoren gehen sogar Spekulationen nach, dass es wohl den Ersten Weltkrieg nicht gegeben hätte, wenn Eulenburg noch in der Gunst des Kaisers gestanden hätte. In der NS-Zeit kam Reichsluftfahrtminister Hermann Göring als Gast zum Jagen hierher. Libertas Schulze-Boysen, die Enkelin Eulenburgs, heiratete 1936 in der Schlosskirche den regimekritischen Harro Schulze-Boysen. Um das Ehepaar bildete sich ein Freundeskreis, der politischen Widerstand leistete und der von der Gestapo als „Rote Kapelle“ observiert wurde. 1942 wurden beide von den Nazis hingerichtet. In der Schlosskapelle, die 1994 in Libertas Kapelle umbenannt wurde, wird heute an die mutige Frau erinnert.

1946 kam das Seehaus, das Eulenburg zwischen 1906 und 1908 auf einem Hügel an der Großen Lanke errichten ließ, durch die Enteignung des Gutes Liebenberg in den Besitz der SED, die dort für ihr Zentralkomitee ein Erholungsheim einrichtete. Das Areal wurde Sperrgebiet, der umliegende Forst zum Staatsjagdgebiet erklärt. Nach der Wende suchten Hasardeure ihr Geschäft mit dem „Rittergut Liebenberg“ zu machen, bis 2005 die DKB Stiftung für gesellschaftliches Engagement das Areal übernahm und heute neben dem Tagungshotel und dem Jagdtrainingszentrum auch ein Integrationsunternehmen betreibt. Wie auch in den anderen drei noch vorhandenen Fontane-Schlössern haben sich die heutigen Besitzer entschieden, auf die Wiederherstellung von historischen Räumen zu verzichten und das Schlossinnere einer modernen Nutzungskonzeption anzupassen. Mit Recht schreiben die Autoren: „In Liebenberg wurden politische Weichen gestellt und deutsche Geschichte geprägt, und doch findet sich der Ort in kaum einem Geschichtsbuch“.

Eine „wundervolle Roman-Szenerie“ sei Plaue, hat Fontane bekannt. Von der Schlossterrasse schaut man auf die Havel, die von einer schmalen Brücke mit Jugendstil-Geländer überspannt wird, bevor sie in den weiten Plauer See mündet. Die barocke Dreiflügelanlage hatte Andreas Keuchel vor zehn Jahren auf einer Radtour entdeckt; versuchte sie seit Oktober 2010 schrittweise zu sanieren, ohne viel vorangekommen zu sein. Im Schlosspark haben die Plauener Fontane mit einer Skulptur und einem Fontaneweg geehrt, der die Originalschauplätze, wie sie Fontane erlebt und beschrieben hat, sichtbar macht. Inzwischen – und dieser neueste Stand war den Autoren noch nicht zugänglich – will die Gesellschaft Delphin Trust aus Hannover das Schlossgelände in Plaue langfristig für betreutes Wohnen im Alter umbauen, die gastronomische Nutzung aber bis 2021 weiterlaufen lassen.

In einem zusätzlichen Buch hat sich Robert Rauh mit den Frauen beschäftigt, die Fontane als Vorbild für seine Figuren gedient haben: Elisabeth von Ardenne steht für Effi Briest, das ist bekannt, Fontanes Tochter Martha für Corinna Schmidt in Frau Jenny Treibel, Grete Minde für die gleichnamige Figur in der Novelle, Karoline de La Roche-Aymon für Gräfin Amelie von Pudagla in Vor dem Sturm und für Prinzessin Goldhaar im ersten Wanderungen-Band und Charlotte von Arnstedt für die „Krautentochter“ in Fünf Schlösser. Aber dennoch verlieh Fontane seinen Frauenfiguren Lebensgeschichten, die mit der realen Biografie ihrer Vorbilder wenig gemein haben. Während Effi seelisch und körperlich an ihrem Schuldgefühl zerbricht, hat sich die reale Elisabeth von Ardenne nach ihrer Trennung ein neues Leben aufgebaut. Ihre Ehebruchgeschichte, die ihm erzählt wurde, hätte auf Fontane laut eigener Aussage kaum einen Eindruck gemacht, wenn nicht die Worte „Effi komm“ darin vorgekommen wären. Das Auftauchen der Freundinnen an dem mit Wein bewachsenen Fenster, während drinnen das 17-jährige Mädchen mit dem fast 40-jährigen einstigen Bewerber ihrer Mutter verkuppelt wird, der Zuruf ihrer Gespielinnen, zurückzukehren zum Spiel und in die Freiheit, „machten solchen Eindruck auf mich, dass aus dieser Szene die ganze lange Geschichte entstanden ist. An dieser einen Szene können auch Baron A(rdenne) und die Dame erkennen, dass ihre Geschichte den Stoff gab“. Aber eben nicht in der Einfühlung in fremde Lebensschicksale, sondern in der Bewältigung der Umgestaltung des ihm zugetragenen Stoffes besteht die phänomenale Leistung Fontanes, sodass daraus – wie Thomas Mann 1939 über Effi Briest schrieb – eines der „hoch differenzierten Alterswerke“ entstand, „ein Meisterwerk, das ins Europäische reicht“. Denn wer ist verantwortlich für den tödlichen Ausgang von Effis Leben? Die Gesellschaft erweist sich bei Fontane als eine unbarmherzige Macht, die sich an jedem rächt, der ihren Gesetzen zuwiderhandelt.

Es geht Rauh nun aber weniger darum, den Vorbildcharakter authentischer Personen für die fiktiven Figuren Fontanes herauszuarbeiten, Unterschiede und Ähnlichkeiten zu benennen, sondern er will vor allem die Biografien der authentischen Personen darstellen. Dabei bedient er sich ähnlicher Verfahrensweisen wie in Fontanes Schlösser, einer vieldimensionalen Erzählperspektive, die heutige Begegnungen, Gespräche mit Zeitgenossen, mit Nachfahren, Lokalhistorikern, Quellenstudien, wissenschaftliche Untersuchungen und eigene Auffassungen einschließt, die nicht immer zu einem abgeschlossenen Ergebnis kommen müssen.

War Marta Fontanes Schicksal als ewige Tochter und gesundheitlich leidende Frau vorgezeichnet oder hätte es für sie Alternativen gegeben? Hat sie in Waren an der Müritz 1917 tatsächlich Selbstmord begangen oder war ihr Tod ein Unfall? Dazu Rauh: „Aber vielleicht reicht die Gewissheit, dass es die eine Wahrheit nicht gibt. Dass Fragen offen bleiben können“. Oder: Hat Grete Minde die Stadt Tangermünde angezündet oder hat sie ihren Mann dazu angestiftet? Was geschah nach ihrer Hinrichtung 1619 mit ihrem Sohn Balthasar? Fontane hat der Grete-Minde-Geschichte eine ganz eigene Version gegeben. Sein historisches Figurenbild beruht auf einem zwar äußerlich bedingten, aber auch schon in sich widersprüchlichen Charakter. Grete steigt bei ihm die Rathaustreppe hinab als Richterin, sie glaubt sich berufen, selbst zu richten. Dagegen läuft die bronzene Grete-Minde-Figur von Lutz Gaede, die 2009 vor dem Historischen Rathaus aufgestellt wurde, nicht erhobenen Hauptes die Treppe herunter, sondern steht fragend mit ausgestreckten Händen und barfuß auf dem Pflaster – wie eine Bittende. Wen Rauh in Tangermünde auch befragte, eine eindeutige Antwort hat er nicht erhalten. Selbst die Lokalberichte über die Gedenkveranstaltung zum Stadtbrand-Jubiläum 2017 haben diesen fragenden Ton beibehalten: „Grete-Minde-Fall bleibt ungeklärt oder Wer hat Tangermünde vor 400 Jahren angezündet?“

Fontane hat wissen lassen, dass er sich in seine Frauengestalten „nicht um ihrer Tugenden, sondern um ihrer Menschlichkeiten, das heißt, um ihrer Schwächen und Sünden willen“ verliebt habe. Die Gräfin Karoline La Roche-Aymon beschrieb er im ersten Band seiner Wanderungen so: „Sie war mittlerer Figur, vom weißesten Teint und besaß, als besondere Schönheit, eine solche Fülle blonden Haares, dass es, wenn es aufgelöst, bis zu den Knien herab fiel und sie wie ein goldener Mantel umhüllte“. „Der Dichter kommt nicht umhin, Karoline fontanisch zu adeln“, schreibt Rauh. Als „Prinzessin Goldhaar“ ist sie in die Literaturgeschichte eingegangen. Bis zu ihrem Tod 1859 hielt die Gräfin La Roche-Aymon in ihrem Köpernitzer Gutshaus unweit von Rheinsberg Hof, bewirtschaftete aber zugleich erfolgreich ihr Gut und verschuldete sich nicht – wie Fontanes Schönheit vom benachbarten Gut Hoppenrade, die „Krautentochter“.

Bernd W. Seilers Fontanes Sommerfrischen ist eine Fortführung der Thematik seines vorangegangenen Bandes Fontanes Berlin. Der reich mit Abbildungen versehene Band ist den Aufenthalten Fontanes an der Nord- und Ostsee, im Harz, im Riesengebirge und im Berliner Umland gewidmet. Sie waren immer verbunden mit schriftstellerischen Arbeiten, mit Berichten nach Hause über Land und Leute, Begegnungen mit Freunden, Bekannten und Feriengästen oder darüber, wie er den aufkommenden Fremdenverkehr sah. „Eigentlich stellte er sich seinen Schreibtisch nur an einen anderen Platz“, stellt Seiler fest.

Die längeren Trennungszeiten des Ehepaares waren auch der Grund, weshalb Fontane seiner Frau so viel zu berichten hatte, was er neben seiner Arbeit beobachtete und erlebte. Schon während der Reisen mit der Eisenbahn hielt er Außergewöhnliches fest. Seiler verbindet das mit Erklärungen aus dem schriftstellerischen Werk, etwa dem Roman Cécile, in dem Cécile auf der Fahrt von Berlin in den Harz ratlos auf eine Gardine mit „eingemustertem M.H.E.“ (Magdeburg-Halberstädter Eisenbahn) starrt. Im Stechlin lässt Fontane seine Hauptfigur Dubslav den zu einer Schweizreise aufbrechenden Arzt Dr. Sponholz vor einer Schlucht in der Viamala warnen – er habe sie auf dem Bild eines ihm unbekannten Malers gesehen, das einen Lindwurm zeige, der nach einem Menschen schnappt. Fontane hatte Arnold Böcklins Bild Drachen in einer Felsenschlucht selbst bei seiner Fahrt durch die Viamala-Schlucht vor Augen gehabt. So erfährt man viel Wissenswertes, was Seiler aus den Selbstzeugnissen und dem literarischen Werk des Autors zusammengetragen und mit eigenen Schlüssen versehen hat.

Die erste eigentliche „Sommerfrische“ Fontanes war ein Aufenthalt auf Usedom im August 1863. Der erfundenen hinterpommerschen Stadt Kessin in Effi Briest hat er die Konturen von Swinemünde verliehen. Sieben Jahre vergingen, bis Fontane abermals an die Ostsee fuhr – 1870 kam er mit der Familie nach Warnemünde , 1871 ein weiteres Mal allein. Um sich auf Norderney „an einen Grafentisch zu setzen“, war er bis an die Grenze seiner finanziellen Möglichkeiten gegangen. Aber hier erfuhr er Anerkennung als Schriftsteller. Der Nutzen solcher Aufenthalte für das schriftstellerische Werk kommt in der milieusicheren Schilderung der Verhältnisse in den Adelsfamilien zum Ausdruck; er selbst gehörte nicht in diese Welt.

Im August 1867 besuchte Fontane erstmals den Harz und nahm Aufenthalt im Hotel Zehnpfund in Thale. Er trat eine „große Partie“ durch das Bodetal nach Treseburg an und sollte 15 Jahre später in Cécile seine Thale-Urlauber genau den umgekehrten Weg nehmen lassen. Im August 1877 ließ ihn ein abermaliger Aufenthalt in Thale und im Hotel Zehnpfund an seinem ersten Roman Vor dem Sturm arbeiten. 1879 beschäftigte ihn in Wernigerode die Ellernklipp-Geschichte. Wie viele Wegpunkte hat er auf eigenen Wanderungen erkundet, was hat er erfunden, welche Begegnungen und Beobachtungen hat er verwertet, welche nicht? Viele Gespräche in seinen Romanen sind „Wunschbilder guter Geselligkeit“, schreibt Seiler, Beispiele für ein Umgangsverhalten, wie er es tatsächlich nur selten antraf. Seine Welt waren nicht nur die Hotel- und Ausflugsszenen, sondern die kleinen Pensionen und Privatzimmer, wie ihm die „kleinen Leute“ begegneten. Fontane projizierte eben nicht einfach verschiedene Gesellschaftsschichten oder deren Repräsentanten auf eine einheitliche Erzählebene, sondern übertrug die gesellschaftliche Schichtung in die Erzählstruktur. Er formte aus seinem „Material“ das gesellschaftliche Gefüge seiner Epoche nach.

Im Mai 1884 begab sich Fontane nach Hankels Ablage an der Dahme, um mit dem Liebes- und Eheroman Irrungen Wirrungen weiterzukommen. Viele Einzelheiten und Begebenheiten werden in die gebrochene Idyllik jener Gärtnerei am Stadtrand des Romanes übernommen. Als er wieder einen Rückzugsort in der Nähe von Berlin für sich suchte, entdeckte er Rüdersdorf und schrieb hier das Kapitel „Quitzöwel“ für Fünf Schlösser. 1897 schloss er am Tollensesee bei Neubrandenburg den Stechlin ab, den die Zeitschrift Über Land und Meer zum Vorabdruck übernahm.

Zehn Male hielt sich Fontane im Riesengebirge auf. Seiler gibt detaillierte Beschreibungen der Örtlichkeiten und ihrem Bezug zum Autor und dessen Werk. Und immer wird der Vergleich mit heute gesucht: Was ist aus den Orten geworden, in denen sich Fontane aufgehalten hat, welche Veränderungen haben sie erlebt, welchen Zwecken dienen sie inzwischen – oder handelt es sich nunmehr um ruinöse Bauwerke? 1872 kam Fontane in Krummhübel an den Stoff des Quitt-Romans, der Rechenschaft über die vielfachen Brechungen einer Lebensform nach neuen Mustern ablegt. Hier fand er auch einen neuen Gesprächspartner und Freund, Georg Friedlaender, mit dem er sich bis an sein Lebensende austauschen sollte. Mit den Poggenpuhls, die die Gesprächs-, Bild- und Anspielungskunst Fontanes abermals zur vollen Entfaltung bringen, nahm er noch einmal neben Berlin das Riesengebirge in den Blick. Nirgendwo hat er sich in fremde Lebensverhältnisse so tief eingefühlt wie bei seinen Aufenthalten im Hirschberger Tal.

Ob in Bad Kissingen und Bayreuth, in Dresden und am Weißen Hirsch oder in Karlsbad – Fontane hat gearbeitet, seine Erinnerungen ausgewertet oder – etwa wie in Dresden – für sich behalten. Im Anschluss an Nach der Sommerfrische, so der Titel einer Reiseskizze, ist er wieder an den heimischen Schreibtisch in Berlin zurückgekehrt und hat die Texte vollendet. So stecken alle Fontane-Figuren, -Schlösser und -Orte voller Geschichte und Geschichten.

Titelbild

Erik Lorenz / Robert Rauh: Fontanes fünf Schlösser. Alte und neue Geschichten aus der Mark Brandenburg.
Bebra Verlag, Berlin 2017.
288 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783861247012

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Titelbild

Robert Rauh: Fontanes Frauen. Fünf Orte – fünf Schicksale – fünf Geschichten.
Bebra Verlag, Berlin 2018.
255 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783861247166

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Titelbild

Bernd W. Seiler: Fontanes Sommerfrischen.
Quintus-Verlag, Berlin 2018.
184 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783947215317

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