Treibendes Transzendieren

Zur Schlagkraft von Ernst Blochs „Geist der Utopie“

Von Maximilian HuschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maximilian Huschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ui, haww‘ ich gesacht.“ – Mit diesem Satz einer Erzählung Friedrich Stoltzes lässt sich wohl auch der Eindruck der Leser von Blochs Geist der Utopie pointieren, denen keine Frankfurter Mundart eigen ist. Beeindruckt, wie es der Junge ist, von dem der alte Stoltze berichtet, als sein Großvater ihm Frankfurt vom Schiff aus zeigt, lässt einen die Lektüre von Geist der Utopie zurück. Bloch hätte in diesem Bild wohl die Rolle des „Großvatters“ inne – sie steht ihm nicht schlecht zu Gesicht.

Nicht bloß wegen des thematischen Umfangs, der schon allein eine gewisse Ehrfurcht gebietet – immerhin verhandelt Bloch auf 400 Seiten zeitgenössische Malerei, die Geschichte der Musik, den Begriff des Ornaments, Literaturtheorie und Philosophie von Kant bis Husserl –, sondern allein schon des Gestus wegen, mit dem hier gedacht wird, steht Blochs Debüt singulär in der Philosophiegeschichte da.

Bereits in der „Absicht“ zeigt sich diese Heftigkeit seines Denkens: Was mit der Absage an den „Triumph der Dummheit“ des Ersten Weltkrieges und der Forderung beginnt, dem Leben „seine Faust und seine Ziele [zu] werden“, schließt mit dem, was Bloch immer wieder erklärt: „incipit vita nova“ – Hier beginnt das neue Leben. Doch ist damit nicht schulmeisterlich die Einleitung zum Buch gemeint, vielmehr ist wie beim Dante’schen Frühwerk, aus dem die Losung stammt, der Geist der Utopie selbst dieser Anfang. Derart lassen sich die beiden dem Werk zentralen Gedanken vom „Dunkel des gelebten Augenblicks“ und des „Noch-nicht-Seins“ als der Versuch der Antwort auf die Frage verstehen, wie das grundsätzlich Neue, der „sozialistische Gedanke“ – der nach der „Absicht“ noch fehlt – gedacht werden kann, ohne augenblicklich Luftschlösser zu errichten, auch wenn ins „Blaue hinein“ gebaut werde. Mit der These vom „Dunkel des gelebten Augenblicks“ versucht Bloch begrifflich zu fassen, dass uns das real Allernächste zumeist das gedanklich Fernste ist; später nutzt Bloch zur Veranschaulichung oft den blinden Fleck des Gesichtsfeldes, der, physiologisch verursacht, dazu führt, dass ein bestimmter Bereich nicht gesehen wird und dabei meist nicht einmal als blinder Fleck wahrgenommen wird, weil das Hirn fehlende Informationen aus anderen Regionen der Retina ergänzt. Uns scheint also, wir wüssten, was uns unmittelbar begegnet. Doch erst wenn der Augenblick vergangen ist oder – so ein zentraler Punkt Blochs – wenn er kurz bevorsteht, haben wir eine Ahnung von ihm, können ihn erkennen. „Das Unmittelbare braucht Vermittlung, um gesehen, und vor allem, um gedacht zu werden“, fasst Bloch den Gedanken in einem Gespräch 1974 zusammen. Die Konzeption des „Noch-nicht-Seins“ kann als Vehikel gelten, um aus dieser Unmittelbarkeit herauszugelangen: Was noch nicht ist, wird zunächst gefasst als etwas, das nicht ist: ein Mangel. Bloch verweist später dazu regelmäßig auf die Feststellung Johnnys, einer Figur aus Brechts Oper Mahagonny: „Etwas fehlt.“ Mit der Erkenntnis des Mangels, des Fehlens einer Sache, ist man bereits den ersten Schritt aus dem Dunkel der Unmittelbarkeit heraus. Was folgen muss, ist die Bestimmung dieses Defizits, die wiederum die Tendenz dessen offenbart, was ist. Die Welt ist verwiesen auf etwas, das selbst noch nicht ist, was wiederum, wenn nicht begriffen, so doch umrissen werden kann.

An der Offenlegung dieses Utopischen, das doch ins Seiende eingemengt ist, versucht sich Bloch in dem monströsen Mittelteil von Geist der Utopie. Besonders ausgiebig widmet er sich dabei der Musik – zunächst, indem er eine Geschichte der Musik schreibt, um dann zu deren Theorie überzugehen. Dabei werden die historischen Werke der Musik, allen voran die Bachs und Beethovens, Medium der Kritik der gesellschaftlichen Zustände der Gegenwart, weil sie Wahres artikulieren, das bisher noch nicht eingelöst wurde. In der Musik als einer Kunst, die nicht begrifflich verfasst ist, wird so das Innerste, das am schwersten zu Begreifende artikuliert, d. h. in sie „hineingelegt“, worin wir uns selbst wiedererkennen. Deshalb kann Bloch davon sprechen, dass „die Musik als innerlich utopische Kunst über alles empirisch zu Belegende im ganzen Umfang hinausliegt.“ Dass man eines anderen bedarf, um sich selbst als Selbst zu erkennen, demonstriert Bloch gleich zu Beginn in der „Selbstbegegnung“, die zugleich der Titel des Mittelteils ist, an einem „alten Krug“. Auf kaum mehr als zwei Seiten überschlägt sich Blochs Denken hier gleichsam, lässt den Krug sprechen, bis Bloch sich selbst „als einem Braunen, sonderbar Gewachsenen, nordisch Amphorahaften entgegen“ sieht und das „nicht nur nachahmend oder einfach einfühlend, sondern so, daß ich darum als mein Teil reicher, gegenwärtiger werde, weiter zu mir erzogen an diesem mir teilhaftigen Gebilde.“ Wie später an der Kunst, will Bloch schon an diesem gewöhnlichen Krug zeigen, dass er in „ein fremdes, neues Gebiet hineinragt“. Doch sind Kunst und Krug nicht nur Platzhalter des neuen Besseren, das in ihnen aufscheint, sondern selbst Forderung hin zu diesem Besseren. Das Utopische ist nicht statisch, nicht der Realität abstrakt gegenübergestellt, eben kein „Wolkenkuckucksheim“, sondern treibt selbst aus dem Bestehenden heraus; der „Ton ‚spricht‘ noch nicht“, doch das „Ohr hört mehr als der Begriff erklären kann“; dem Bann der Immanenz wird nicht mit gestelzter Transzendenz der Utopie opponiert, sondern das Utopische des Seienden ist Movens seiner Veränderung – Splitter im Fleisch des Seins. Blochs Utopie ist nicht transzendent, aber transzendierend; sie werde erst völlig begriffen werden können, wenn sie sein wird.

Auffallend ist jedoch nicht allein die inhaltliche Veränderung der Stellung des Gedankens zur Objektivität, wie sie sich an Krug und Musik zeigt, sondern die damit notwendig einhergehende Veränderung der Darstellung. Im Gestus des Denkens, der auf den siebzehnjährigen Adorno nach dessen Auskunft den Eindruck machte, „hier sei die Philosophie dem Fluch des Offiziellen entronnen“, liegt wohl der Grund für den Furor des Buches, mit dem es „in der deutschen Geistesgeschichte nicht viele Débuts … aufnehmen können“ (NZZ). Philosophie, die im Staunen beginnt, mündet hier wie sonst nirgends ins Erstaunliche, statt im Formalismus der wissenschaftlichen Methode zu zergehen. Dass Geist der Utopie immer noch Eindruck macht, liegt wohl nicht zuletzt daran, dass es auch gegenwärtig noch mit seiner Sprache in Opposition zum „Fluch des Offiziellen“ steht, was allein schon die vom Verlag erhoffte Wiederentdeckung wünschenswert macht. Dass die Darstellung auch für Bloch Primat hatte, zeigt sich in seinen unvermittelt einsetzenden Spekulationen, die bruchlos an Empirisches anschließen, um ins Metaphysische überzugehen. Von der Feststellung, es gebe keine empirische Antwort auf die Frage des russischen Individualisten Arzybaschew, weshalb man sich heute zum Galgen führen lassen solle, damit „die Arbeiter des zweiunddreißigsten Jahrhunderts keinen Mangel“ litten, springt Bloch zur „Antwort offenbarter Art“: „Was wir sterben nennen, bedeutet, daß es uns erlaubt ist aufzusteigen.“ Auch die sprachliche Wucht kann hier jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich am Sein, das aus dem Sollen geschlossen wird, lediglich der Paralogismus dieser „abgekürzten Seelenwanderungslehre“ offenbart. Auch hier kommt Bloch Stoltzes „Großvatter“ verdächtig nahe, dessen Überschwang – immerhin hätte er auch „mir nix, dir nix un ganz ohne weitersch des ganz Weltall nach Frankfurt“ verlegt – wohl Grund für die Begeisterung seines Enkels war. Den Impetus Blochs gegen die akademische Trockenheit zu retten, ohne sich in seinen eigenen Auswüchsen zu verheddern, wäre wohl die erste Aufgabe, die eine Lektüre von Geist der Utopie heute zu bewältigen hätte.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Ernst Bloch: Geist der Utopie. Erste Fassung.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
437 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518587225

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