Von Mumien- und Säuglings-Fressern

Kritischer Kannibalismus bei Walter Benjamin, in der Literaturkritik und in der Literaturwissenschaft

Von Christoph Schmitt-MaaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Schmitt-Maaß

1928 spitzt Walter Benjamin Die Technik des Kritikers in dreizehn Thesen (enthalten in der Einbahnstraße) zu, indem er einen Vergleich anführt, der ob seiner ‚Unappetitlichkeit‘ zunächst schockiert: „Echte Polemik,“ behauptet Benjamin, „nimmt ein Buch sich so liebevoll vor, wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet.“ Doch geht es Benjamin um mehr als den bloßen ‚Choc‘. Die Gleichsetzung von Kannibale und Literaturkritiker fokussiert die Fragestellung nach dem ‚Ursprung‘ von Literaturkritik, und zwar sowohl hinsichtlich der historischen wie der praxeologischen Koordinaten. Benjamins Vergleich ist ein Ausgangspunkt, von dem aus im Folgenden der analytische Mehrwert der Metapher ‚Kritischer Kannibalismus‘ bestimmt werden soll. Am Ende erweist sich, dass der zunächst abstoßende Vergleich Benjamins sehr präzise beschreibt, wie Literaturkritik funktioniert und wie sie – unter sich wandelnden Vorzeichen – noch im Zeitalter der Marktwirtschaft die Ausdifferenzierung von journalistischem Rezensionswesen und akademischer Philologie darstellbar macht.

Benjamin gibt selbst Möglichkeiten der weiteren Ausdeutung seiner polemischen Bemerkung. Die in den Dreizehn Thesen bemühten Begriffe ‚rüsten‘, ‚opfern‘, ‚richten‘ und ‚vernichten‘ oder auch ‚Kampf‘, ‚Rüstung‘ und ‚Waffe‘ öffnen den Blick auf Wortfelder, die die Tätigkeit des Kritikers (zumindest metaphorisch) in die Nähe des Kriegers, des Scharfrichters und des Schlächters rücken. Zudem vergleicht Benjamin im unmittelbaren Zusammenhang damit Bücher mit Dirnen und folgert: „sie haben jedes ihre Sorte Männer, die von ihnen leben und sie drangsalieren. Bücher die Kritiker.“ Aus dieser Gemengelage lassen sich drei Praktiken herausarbeiten, die den operationalen Ursprung der Literaturkritik erhellen. Zunächst inspiziert der Kritiker das zu Kritisierende nach seinem äußeren Anschein, und auch der erste Blick ins Buchinnere gilt Äußerlichkeiten. Diese ‚oberflächliche‘ Bibliophilie ist die uneingestandene Voraussetzung von Literaturkritik. Sodann dringt der Literaturkritiker tiefer in seinen Gegenstand ein. Er seziert die formalen Gründe, aus denen ihm das literarische Opus schön oder abstoßend erscheint. Anschließend verleibt er sich das Werk ein, indem er seinerseits zum Produzenten wird und einen eigenen Text dazu verfasst. Der Literaturkritiker bedient sich folglich dreier Praktiken, um seine ‚Speise‘ zu handhaben: Er liebt, tötet und verzehrt den Text. ‚Kannibalismus‘ verliert unter dieser Perspektive seine anfänglich sensationalistische Wirkung und seine negative Bedeutung, da nicht allein alimentäre, sondern auch politische, magische, rituelle und therapeutische Inhalte angesprochen sind. ‚Kritischer Kannibalismus‘ ist also nicht als inhumanes Verhalten zu verurteilen, sondern als kultiviertes Verhalten anzuerkennen.

Benjamins ‚Kritischer Kannibalismus‘

Nach Benjamin ist Text-Erkenntnis ohne liebevoll-umständliches Einlassen nicht möglich. Im Text erkennen wir Teile unseres Selbst wieder – wir lesen uns selbst. Wer liest, „stößt […] auf Fragmente des eigenen Daseins“, schreibt Benjamin in seinem Kafka-Aufsatz. Lesen ist für Benjamin folglich kein Akt der Entspannung, vielmehr betreibt er Lektüre mit theologischer Ernsthaftigkeit. Das Interesse des Lesers Benjamin gilt dabei jener Spur, die neben dem Text herläuft: „Was nie geschrieben wurde, lesen“, heißt für Benjamin, aus dem Geschriebenen das Ungeschriebene herauszulesen, herauszulösen.

Diese Lektürepraxis gilt auch für Benjamins Literaturkritiken. Benjamin hat mehrmals betont, dass es ihm nicht leicht falle, zügig zu schreiben – auch bei Rezensionen. Das Lesen des Kritikers unterscheidet sich hierin nicht von der Lektüre des Forschers, oder besser: Kritik ist für Benjamin Forschung. Walter Benjamins literaturkritisches Lesen folgt damit einer doppelten Spur: Der Leser kehrt zum einen immer wieder zu einem Text zurück, zum anderen lässt sich ein Text immer wieder neuen Lektüren unterziehen.

In einer für Benjamin typischen dichten Sprache heißt das, mutmaßlich bezogen auf die Lektüre von Kriminalromanen:

Es gibt Menschen, und darunter solche, die eine ganz Bücherei besitzen, die niemals recht an ein Buch herankommen, weil sie nichts zum zweiten Mal lesen. Und doch ist es nur dann, daß man wie klopfend ein Gemäuer absucht, und stellenweise auf einen hohlen Widerhall trifft, einhält und auf Schätze stößt, die der frühere Leser, der wir doch einst gewesen sind, in ihr vergraben hat.

Die Benjaminsche Metapher vom Wiederfinden des schon immer Dagewesenen bringt zwei Erfahrungsbereiche im Modus des Lesens zusammen: die Erinnerung und die Sehnsucht. Beide bündeln sich in einer Haltung dem Text gegenüber, die als ‚Liebe‘ bezeichnet werden kann. Sie – die im Wieder-Lesen sich bewährende Liebe zum Text – ist der Ausgangspunkt des Literaturkritikers Benjamin im Umgang mit dem Text, ist Motivation und Erfüllung literaturkritischer Arbeit zugleich.

Die Liebe zum Lesenswerten verknüpft sich mit der Liebe zum Sammelnswerten. Erinnert werden muss, dass der Grundstock von Benjamins Kinderbuchsammlung einem ersten großen „Raubzug“ aus der Bibliothek seiner Mutter entstammt und damit aus seiner eigenen Kinderbibliothek. Zeit seines Lebens beschäftigt sich Benjamin mit der Frage, was die Sammel-Leidenschaft ausmache. Für ihn ist Sammeln eine spezifische Verhaltensweise des Geistes, eine Leidenschaft – mit der Einschränkung, dass die Sammelleidenschaft nicht ans Chaos, sondern an die Erinnerung grenze. In seiner Rezension zu einem Puppenbuch reflektiert Benjamin 1930: „Dem Sammler ist in jedem seiner Gegenstände die Welt präsent. Und zwar geordnet. Geordnet aber nach einem überraschenden, ja dem Profanen unverständlichen Zusammenhange.“ Erinnerung und Leidenschaft werden somit zu Schlüsselbegriffen zum Verständnis des Sammelns und zu Konstituenten des sich im Sammeln verwirklichenden Glücks. Erst wenn sich die Erinnerung an den Erwerb des Sammlungsobjektes einstellt, erst wenn die Leidenschaft für den Gegenstand wiederhergestellt ist, ist das Glück erreichbar. Es besteht im Kampf gegen die Zerstreuung: Der Sammler „vereint das Zueinandergehörige“ (wie es im Passagenwerk heißt).

Als geradezu typischen Vertreter dieser Spezies präsentiert Benjamin den Kinderbuchsammler Eduard Fuchs, dessen Publikation zu alten Kinderbüchern Benjamin zustimmend rezensiert (und sich dabei selbst analysiert). Fuchs’ besondere Qualität bestehe darin, dass er sich nicht von Namen oder Wert habe leiten lassen, sondern nur „vom Objekt selber“. Der Sammler erscheint damit als ein in besonderer Weise zum Lieben Befähigter, dessen Sammlung die Kontinuität der eigenen Biographie gewährleistet.

Mitnichten handelt es sich dabei um eine ätherische Beziehung, die frei von Leiblichkeit wäre (wie auch immer die Metapher des ‚Jägers‘ mitschwingt). Benjamin denkt Prostitution und ‚Kollektionismus‘ zusammen. So wie die Dirnen von Zuhältern, so würden die Bücher von Kritikern drangsaliert. Damit verweist er auf die Leiblichkeit des Buches, kennt aber aus eigener Erfahrung die Gefahr der Vergänglichkeit des geliebten Gegenstandes: Seine Kinderbuchsammlung verlor er bei der Scheidung an Dora Benjamin, große Teile seiner Bibliothek musste er bei seiner Flucht in Deutschland zurücklassen.

Die Körperlichkeit der Bücherliebe ist mythengeschichtlich verankert: Benjamin rekurriert auf den Pygmalion-Mythos, der mit dem Midas-Mythos kontrastiert. Während Pygmalion zum Ahnherr einer liebenden Kunstkritik erhoben wird, fungiert Midas als Verkörperung des kunsttötenden Kritikers. Wer bedingungslos liebt, verlebendigt das Geliebte; wer es zu be-greifen versucht, tötet es.

Hier findet das romantische Erbe seinen Ausdruck, dessen Diktionen Benjamin in seiner Dissertation untersucht und untersuchend nachvollzogen hatte. Seine Feststellung, dass Kunstkritik immer ein „wenn auch geringeres Moment im Fortleben der Werke“ (Die Aufgabe des Übersetzers) darstelle, rückt Benjamins eigene Praxis in die Nähe der romantischen Kunstkritik. Diese Positionierung wird durch kunstkritische Forderungen gestützt, denen zufolge – wie es in Benjamins Dissertation heißt – „die Beurteilung der Werke an ihren immanenten Kriterien“ festzumachen sei. Mit dem Begriff des „Reflexionsmediums“ gelingt es Benjamin, die romantische Begründung der Autonomie von Kunstwerken zu verdeutlichen und sich zugleich in eine – durch Nachweis der reflexionstheoretischen Prämissen abgesicherten Wissenschaftsbegriff – romantische Tradition einzureihen.

Benjamin bezieht jedoch auch kritisch Position zum literaturkritischen Programm der Romantik. Der romantischen Tradition der „Erweckung des Bewußtseins in den lebendigen Werken“ hält er in seinem Buch  über den Ursprung des des deutschen Trauerspiels (1928) sein Programm der Kritik entgegen: „Kritik ist Mortifikation der Werke. […] nicht also – romantisch – Erweckung des Bewußtseins […], sondern Ansiedlung des Wissens, in ihnen.“ Kritik versteht er so als die Distanzierung der Erklärungskontexte im ästhetischen Nachvollzug. Damit ist der entscheidende Schritt angesprochen, der den nächsten Diskurs anschneidet: jenen des Tötens.

Im Diktum der Mortifikation der Werke distanziert sich Benjamin bereits in seiner Dissertation von einer Auffassung von liebender Literaturkritik, die der Romantik geschuldet ist:

„Wir müssen uns über unsre eigne Liebe erheben und, was wir anbeten, in Gedanken vernichten können, sonst fehlt uns … der Sinn für das Unendliche“. In diesen Äußerungen hat Schlegel sich über das Zerstörende der Kritik, über ihre Zersetzung der Kunstform, deutlich ausgesprochen.

Durch die Mortifikation erhofft sich Benjamin die Trennung von Sach- und Wahrheitsgehalt, die erst dann sinnvoll ineinander einzugehen vermögen. Damit fallen für Benjamin Kritik und Kommentar auseinander: Erstere „sucht den Wahrheitsgehalt eines Kunstwerkes“, letzterer „seinen Sachgehalt“ (Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘).

Für den Kritiker vollzieht sich ein wesentlicher Umbruch: In der Kategorie des „Ausdruckslosen“ gewinnt die Unterscheidung von „Schein“ und „Wesen“ eines Kunstwerkes unmittelbar Gestalt. Durch die Kritik vollzieht sich in den Werken eine Metamorphose: Das Moment der historischen Wiederkehr wird sichtbar gemacht. Die Kritik verhilft dem Werk also zu einer Wiedergeburt oder anders ausgedrückt: die ‚Mortifikation‘ der Werke ist zwangsläufig die Bedingung ihres Fortlebens.

Benjamin spricht jedoch weniger vom Töten als vielmehr vom Sezieren. Die Mortifikation soll bekanntlich durch die Analyse erreicht werden. Benjamin rekurriert auf die cartesianische Auffassung von der Zusammengesetztheit aller Erkenntnisobjekte. Um über die Funktion des Objekts etwas zu erfahren, muss der Gegenstand des Interesses seziert werden. Was bedeutet ‚Sezieren‘ daher im Zusammenhang des ‚kritischen Kannibalismus‘?

Der sezierende Blick des Literaturkritikers Benjamin richtet sich auf das philologische Detail. Benjamin löst dazu in Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘ Kants Kritik der Urteilskraft in eine Kritik der Sprache auf, d. h. dass die Kritik am Kunstwerk die Struktur des Gehalts offen legt. Auf diese Weise ist es Benjamin im Trauerspielbuch möglich, die „Geburt der Kritik aus dem Geiste der Kunst“ herzuleiten. Benjamins philologisches Interesse richtet sich dabei besonders auf das Moment der Allegorie: „Das allegorische Kunstwerk trägt die kritische Zersetzung gewissermaßen schon in sich“. Allegorie ist bei Benjamin definiert als kritisches Wissen im Unterschied zum schönen Schein. Sie ist immer historisch bedingt, stellt sich aber auch als solche aus.

Die Allegorie ist nach Benjamin die Methode, die die Literaturkritik aufs Tiefste prägt. Sie zeichnet sich durch zwei Momente aus: die Montage und die Häufung von Bildern. Begreift man – wie Benjamin es im Trauerspielbuch tut – die Allegorie als zum Bilde drängende Schrift und die Häufung von Bildern als „Bilderspekulation“, so wird ein weiteres Mal offensichtlich, wie ambivalent Benjamins Begriff der Kritik ist: ging es in den Wahlverwandtschaften noch um die Durchdringung der Struktur des Kunstwerkes, so gilt hier das Wort von deren Zerschlagung. Benjamin spricht vom „zerstückelnde[n], dissoziierende[n] Prinzip“ der „allegorischen Anschauung“, an anderer Stelle tauchen die Schlagworte „Stückelung“ und „Entseelung“ auf.

An diesem Punkt anzusetzen bedeutet mit Benjamin die disziplinäre Trennung von Literaturkritik und Literaturwissenschaft bezüglich der ihnen zugrunde liegenden Praktiken zu reflektieren. Nach Benjamin stehen Philologie und Kritik in einem kongruenten Verhältnis zu Sach- und Wahrheitsgehalt. Unter Philologie versteht Benjamin – wie er in einem Brief an Theodor W. Adorno 1938 formuliert – weniger den „Schein der geschlossenen Faktizität, der an philologischen Untersuchungen haftet“, als vielmehr eine Einbeziehung geschichtlicher Darstellung in sprachliche Untersuchungen. Adornos Vorwurf der „staunenden Darstellung der Faktizität“ begegnet Benjamin, wenn er jene als „echt philologische Haltung“ charakterisiert: Vermittels der „Durchdringung von historischer und kritischer Betrachtung“ wird die Philologie von der Kritik abgelöst und Literatur zum „Organon der Geschichte“ (Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft). Um das Innere von Literatur darstellen zu können, „ringt“ die Kritik mit den Werken, „nicht jedoch zu Kosten des Dichterischen“.

Dieses Verfahren – von Bernd Witte als „allegorische Kritik“ bezeichnet – richtet den Blick „in die Sprachtiefe“ (Trauerspielbuch) und lässt die so entstandenen Bruchstücke in neuen Konfigurationen wieder zusammentreten. Der Mortifikation geht also die zergliedernde Analyse voraus, dem Töten das Sezieren. Die liebende Haltung und die tötende sind also keine Gegensätze, sondern zwei je unterschiedliche Praktiken der ‚Textbehandlung‘.

Benjamins Textgestaltungs- und Analyseverfahren stellt Zitat und eigene Betrachtung unmittelbar und autoritativ hintereinander. Hierbei handelt es sich – im Trauerspielbuch findet diese Anordnung ihren Höhepunkt – keineswegs um Praktiken der traditionellen Literaturauslegung. Das literarische Werk wird – wie Bernd Witte festgestellt hat – zerstückelt, und der Kritiker stellt die so entstandenen Bruchstücke in einen neuen, von ihm geschaffenen Kontext ein.

Auch im Trauerspielbuch konzentriert sich Benjamin – wie schon in seiner Lektüre der Wahlverwandtschaften – auf die Funktion des Todes: Das allegorische Verfahren, das im Goethe-Essay noch implizit geübt wurde, bestimmt nun die Verfahrensweise. Mittel seines Vorgehens ist die Zerlegung der Ideen in begriffliche Elemente, der „allegorische Tiefblick“, der „Stück für Stück, Glied für Glied“ analysiert. Als eine solche Zerlegung fasst Benjamin in der Entgegensetzung von Trauerspiel und Tragödie die Bedeutung bzw. Funktion der Zeit. Der Tod des Helden im barocken Trauerspiel durchbricht den Zeitablauf eben nicht; vielmehr ist sein Tod „wiederholbar“ und bedeutungsstiftend (nicht -zerstörend). Das Dasein, vom Lebensende her als „Trümmerfeld“ betrachtet, steht unter der Prämisse nicht nur der Sterblichkeit, sondern des Todes: „Produktion der Leiche ist, vom Tode her betrachtet, das Leben.“ Der Tod – als Ursprung aller Bedeutung verstanden – berechtigt den Kritiker Benjamin, seinen Gegenstand zunächst zu konstruieren, indem er darauf verweist, dass die Allegoriker den Leib (bei Benjamin: den Text) zergliedern, um ihn ihren Intentionen einzufügen. Der Kritiker lässt – wie der Allegoriker – die Bruchstücke der aus ihrem organischen Zusammenhang gelösten Werke in neuen Konfigurationen zusammentreten und „rettet“ sie dadurch. Gewaltsam ist dieses Lektüreverfahren nur auf den ersten Blick. Benjamin sieht es vielmehr in allegorischen Werken des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts angelegt: Trauerspiele seien „von Anbeginn auf jene kritische Zersetzung angelegt, die der Verlauf der Zeit an ihnen übte.“ Kritik vollendet also nicht das vorklassische allegorische Kunstwerk, sondern ist selber ein Kunstwerk, wenngleich im nachklassischem Sinne.

Darüber hinaus ist Kritik, wie sie Benjamin im Rahmen seiner ‚literaturwissenschaftlichen‘ Untersuchungen übt, Sektion der Analyse, Kritik der Kritik. Seine polemisch anmutenden Ausfälle richten sich gegen diejenigen unter seinen Kollegen, die – in der Nachfolge der Wiener Schule der Kunstgeschichte (Alois Riegl) oder Heinrich Wölfflins – die geistesgeschichtlich geprägte Stilgeschichte auf die literarische Formanalyse zu übertragen versuchen (Oskar Walzel).

Dieser verhängnisvollen pathologischen Suggestibilität, kraft welcher der Historiker durch ‚Substitution‘ an die Stelle des Schaffenden sich zu schleichen sucht, als wäre der, weil er’s gemacht, auch der Interpret seines Werkes, hat man den Namen der ‚Einfühlung‘ gegeben, in dem die bloße Neugier unterm Mäntelchen der Methode sich vorwagt. (Trauerspielbuch)

Benjamin lastet dieser geistesgeschichtlichen Ausrichtung ihren universellen Erklärungsanspruch an und legt mit dem Trauerspielbuch ein Gegenprogramm vor, das sich nicht durch den „geile[n] Drang aufs ‚Große Ganze‘“ (Rezension zu Walzels ‚Wortkunstwerk‘), sondern durch Verzicht auf den „Anblick der Totalität“ (Trauerspielbuch) auszeichnen will.

Diese von Benjamin ‚rettend‘ genannte Form der Kritik hat er in seiner späten zentralen Abhandlung Über den Begriff der Geschichte (ca. 1940) explizit formuliert – sie tritt aber auch schon im Trauerspielbuch als Historismuskritik zu tage. Benjamins Rettungsbegriff zielt auf die Erinnerung dessen, was in der Geschichte gerade nicht eingelöst wurde. Geschichte stellt sich – vor der Folie der Theorie der barocken Allegorie – als „Vorgang unaufhaltsamen Verfalls“ dar. Geschichtliche Gegenstände haben keine Bedeutung an sich, vielmehr verleiht der Allegoriker wie der Kritiker ihnen erst Bedeutung. Benjamin begründet seine Auffassung von Kritik aus dem Wesen der Allegorie heraus, die Bedeutung festschreibe, statt diese der ‚profanen Welt‘ zu entnehmen. Zeit und damit Geschichte erscheint daher als ‚per se‘ bedeutungslos. Benjamin macht die „Katastrophe als das Kontinuum der Geschichte“ aus.

Benjamin, dem alle Terminologisierung suspekt ist und der am je neuen Gegenstand die einmal gebrauchten Begriffe neu entfaltet, hatte noch am Ende seiner Dissertationsschrift insistiert, dass „der Stand der deutschen Kunstphilosophie“ mit seiner antagonistischen Unterscheidung von lebendigem Symbol und toter Allegorie „legitim“ sei. Im Trauerspielbuch nun unternimmt Benjamin die Rettung der Allegorie, indem er seine bisherigen Ausführungen zur Sprache, zur Theologie u.a. zusammenzieht. Seine kritische Annäherung an die als Epoche des Barock in die Literaturgeschichtsschreibung eingegangenen annähernd zwei Jahrhunderte verzichtet auf die Herausstellung einzelner Dichterpersönlichkeiten (wie es zeitgleich Friedrich Gundolf tat) und stellt statt dessen die „Beschäftigung mit der Formenwelt“ als den „einzigen Zugang zu dieser Dichtung“ (Rezension zu Gundolfs Gryphius-Buch) heraus.

Benjamins Verfahren, aus den analysierten Texten Zitate heraus zu brechen, macht seine Habilitationsschrift für die akademische Literaturwissenschaft seiner Zeit (und in gewisser Weise bis heute) inkommensurabel – ist aber Zergliederung des Textes nicht weniger als geübte allegorische Kritik. Der Allegoriker – Benjamin zeichnet ihn faustisch als Typus des Mittelalters (christlicher Melancholiker) und der Moderne (den Schein durchbrechender Intellektueller) zugleich – steht nicht weniger als der Kritiker am „Abgrund des bodenlosen Tiefsinns“. Hier zeichnet Benjamin ein Bild seiner eigenen Befindlichkeit als Kritiker, welcher Literatursichtung im Zeichen der Allegorie betreibt. Sein Verfahren – Bruchstücke mit Bedeutung aufzuladen, nachdem er sie aus dem Organischen herausgeschlagen hat – ist ebenso allegorisch wie kritisch: Allegorisch ist die „Chiffre des Zerstückelsten, Erstorbensten, Zerstreutesten“, kritisch ist die „Ergründung der Trauerspielform“ trotz der projektierten, aber nie abschließend ausgeführten methodischen Gedankengänge über Kritik, da „das allegorische Kunstwerk die kritische Zersetzung gewissermaßen schon in sich“ trage. Die Kunstwerke erschließen sich allein jener Kritik, die um die Geschichtlichkeit der Kunst weiß und sie nicht symbolisch in Schönheit verklärt, sondern sie als in vieldeutige Verweiszusammenhänge eingebettete Allegorie begreift. Die durch die historische Fundierung der Idee in den Werken und Formen der Kunst bewerkstelligte Mortifikation der Werke bereitet zugleich ihre „Neugeburt“ vor: In der kritischen Darstellung erwachen die geschichtlichen Gehalte und damit das Werk zu neuem Leben. „Verwandlung des Kunstwerks in einen neuen, philosophischen Bereich“ hat Benjamin als Ziel des kritischen Verfahrens im Zeichen der Allegorie genannt.

Lieben und Töten verweisen zwingend aufeinander, erst in der Metapher des Verzehrs, genauer: des Einverleibens schießen sie zusammen. In einer Rezension von 1931 geißelt Benjamin – nicht ohne Ironie – den zeitgenössischen „Romanbrei“, durch den dem Kritiker „die Zähne locker geworden sind“, und fordert Literatur, an der der Kritiker ‚zu kauen‘ hat. Das Verschlingen von Romanen und die „Wollust der Einverleibung“ (Rezension Kleine Kunst-Stücke), das nahrhafte Gericht der Literatur und die ‚Rohkost der Erfahrung‘ können der diskursiven Praxis des Verzehrens zugerechnet werden (Rezension Dienstmädchenromane des vorigen Jahrhunderts). Dem Begriff der Erfahrung kommt dabei eine ganz eigene Bedeutung zu.

Erfahrung und Erkenntnis sind – in Anlehnung an Kant – bei Benjamin eng miteinander verknüpft (Über das Programm der kommenden Philosophie), Erkenntnis wird gar zur Bedingung der Erfahrung. Gleichzeitig garantiert die Erinnerung, das ‚Eingedenken‘, die „handwerkliche“ Handhabe der Erfahrung (Das Passagen-Werk). Das Lektüregedächtnis bildet die Voraussetzung für die Arbeit Benjamins als Literaturkritiker: Der Leser blickt dem Kritiker gleichsam über die Schulter, wenn er dessen Rezensionen liest. In ihnen zeichnet Walter Benjamin seine Spur des Lesens nach, gewährt dem Leser Einblick in seine ‚Karte(n)‘. Das lässt sich besonders durch Lektüre seiner Kritiken, Charakteristiken und Physiognomiken nachvollziehen. Diese Erfahrung von Lektüre ist nie zeitlos. Ihre Zeitgebundenheit macht sogar wesentlich ihre Qualität aus: „Denn es handelt sich ja nicht darum, die Werke des Schrifttums im Zusammenhang ihrer Zeit darzustellen, sondern in der Zeit, da sie entstanden, die Zeit, die sie erkennt – das ist die unsere – zur Darstellung zu bringen.“ (Gottfried Keller) Das Gedächtnis einerseits und das Bewusstsein und -machen der Zeitgebundenheit der Lektüre andererseits machen also die Qualitäten des Benjaminschen Erfahrungsbegriffes aus, soweit es den Literaturkritiker Benjamin betrifft.

Unter Berücksichtigung des Erfahrungs- und des sich daraus ergebenden Lektürebegriffs kann festgehalten werden, dass der Einverleibungsdiskurs in seiner produktionstechnischen Ausrichtung den Literaturkritiker befähigt, sich „zu erkennen [zu] geben“ (Die Aufgabe des Kritikers), besprochene Werke nicht in einem kommentar- und geschichtslosen Raum stehen zu lassen, sondern in ihnen die Spur der eigenen Lektüre nachzuzeichnen.

Dem Moment des Verzehrs kommt aber noch eine viel weiter reichende Bedeutung zu. Jenes oben bereits angeführte Benjaminsche Apodiktum der Mortifikation der Werke birgt – konsequent zu Ende gedacht – noch einen anderen Gesichtspunkt: Dem Kritiker Walter Benjamin ist es mit einer „Abtötung“ der Werke nicht getan, vielmehr ist nach deren Erfolg eine „Ansiedlung des Wissens“ in den „abgestorbenen Werken“ notwendig, mithin eine „Neugeburt“ (Trauerspielbuch). Erst mit vollzogener Metamorphose ist auch der Einverleibungsprozess vollzogen. Die Lektüre ist Teil der eigenen Lesespur, des eigenen Gedächtnis’, mithin: des eigenen Leibes geworden – hat sich gleichsam ein-geschrieben.

So wird denn auch jene apodiktische Forderung Benjamins verständlich, demzufolge der Kritiker im „Idealfalle vergißt […] zu urteilen.“ (Die Aufgabe des Kritikers) Erst nach Darlegung seines „subjektive[n] Standpunkt[es]“ (Entwürfe und Studien zur Kritik) – jenem Stadium der Literaturkritik, das ich mit ‚Lieben‘ bezeichnet habe – kann eine solche Forderung Sinn ergeben.

Literaturkritik und Literaturwissenschaft: ‚Kritischer Kannibalismus‘ im marktwirtschaftlichen Zeitalter

Die durch Benjamins Polemik ermöglichte Einsicht in die kannibalische Praxis der Literaturkritik lässt sich für die deutschsprachige Literatur historisch vertiefen und bis in die Zeit um 1700 zurückverfolgen. „Wer in der Vergangenheit wie in einer Rumpelkammer von Exempeln und Analogien herumstöbert“, warnt Walter Benjamin jedoch 1939 in Das Jetzt der Erkennbarkeit, „der hat noch nicht einmal einen Begriff davon, wieviel in einem gegebnen Augenblick von ihrer Vergegenwärtigung abhängt.“ Im Folgenden wird daher der Versuch unternommen, die Praxis des ‚kritischen Kannibalismus‘ ansatzweise zu historisieren, und zwar hinsichtlich der funktionalen Ausdifferenzierung von Literaturkritik und Literaturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Von hier aus ließen sich weitere Perspektiven für den kritischen Kannibalismus im digitalen Zeitalter der Globalisierung konturieren.

Zunächst jedoch ist die Funktion des Kannibalen als Muster kultureller Verständigung zu reflektieren, das eine Brücke zwischen dem frühen 20. Jahrhundert und der Gegenwart bildet. Bereits Homer imaginiert den Zyklopen Polyphem als kulturlosen Gottesverächter, der, durch den von Odysseus kredenzten Wein betäubt, einschläft, wobei dem ‚Rachen‘ des ‚schnarchenden Trunkenbolds‘ Wein und ‚Stücke von Menschenfleisch‘ entstürzen (Odyssee). Doch erst mit der Kolonialisierung Amerikas erhielt der Kannibale seinen Namen und kann politisch zur Unterdrückung indigener Völker instrumentalisiert werden. Seither wird Kannibalismus als Vorwurf aufgefasst oder zur Skandalisierung eingesetzt. An der metaphorischen Verwendung des Begriffs ‚Kannibale‘ (und ‚Neokannibalismus‘) wird postkoloniale Kritik geübt, da sie Praktiken des Einverleibens bezeichnet, Alterität negiert und Unterschiede einebnet. Doch ist die Figur des (nichtmenschlichen) Kannibalen notwendig, um das (menschliche) westliche Subjekt zu konstituieren. Daher wird ‚der Kannibale‘ mit dem Beginn der philosophischen Anthropologie im 17. und 18. Jahrhundert zu einer Verständigungsmetapher, der aufgrund der skandalträchtigen Wirkung und der Grausamkeit des realen Kannibalismus eine ambivalente Funktion zukommt. Imaginationen des Kannibalen kommen daher seit der Frühen Neuzeit auch identitätsstiftende Funktionen zu, wenn nicht gar der ‚imaginäre Kannibale‘ die dominierendste Variante des Menschenfressers im westlichen Kulturdiskurs ist. Aufgrund dieser anthropologischen, historischen und metaphorischen Diskurse errichtet die Metapher vom Kannibalen ein kompliziertes System von Verhältnissen, innerhalb dessen die Frage, wer wen verschlingt, nur schwer zu beantworten ist (Maggie Kilgour).

Im 18. Jahrhundert wird nicht nur erstmals ‚Kannibalismus‘ als Ausgrenzungsstrategie des ‚ganz Anderen‘ kritisch diskutiert, sondern auch zur metaphorischen Selbstbeschreibung und -Imagination verwendet, etwa in Bezug auf die neu entstandene Marktwirtschaft. Die Differenz des Kannibalen zur westlichen Zivilisation erfährt gar eine Umkehrung: ‚Wir‘ – also die Zugehörigen der westlichen Kultur der Moderne – sind infolge der rücksichtslosen Naturausbeutung die eigentlichen Kannibalen (Deborah Root). Mit dieser gleichsam dialektischen Umkehrung erweist sich die Chiffre des Kannibalen als Selbstdeutung westlicher Kultur.

In der klassischen Moderne um 1900 wird der Kannibale schließlich als Chiffre des Barbaren eingesetzt, um die Notwendigkeit einer kulturellen Neubesinnung vitalistisch gegen die überkommene Décadence zu begründen (Manfred Schneider). Walter Benjamin gehört zur vordersten Front jener Autoren, „die an einer Positivierung des Barbaren gearbeitet haben.“ (Manfred Schneider) Als ‚positiven Barbaren‘ hat Benjamin Karl Kraus gedeutet. Es lohnt sich an dieser Stelle, auf Benjamins Karl-Kraus-Essay von 1931 zu sprechen zu kommen, weil Benjamin darin den Konnex von Barbarei und Kultur im Modus der Literaturkritik erläutert.

Benjamin kennzeichnet den Literatur- und Theaterkritiker Karl Kraus als „Satiriker echten Schlages“, den er von jenen polemischen Kritikern gesondert wissen will, „die aus dem Hohn ein Gewerbe gemacht“ haben und denen es einzig darum gehe, das Publikum zum Lachen zu bringen. Kraus hingegen sei zum „eigentlichen Mysterium der Satire“ vorgedrungen, das „im Verspeisen des Gegners besteht. Der Satiriker ist die Figur, unter welcher der Menschenfresser von der Zivilisation rezipiert wurde. Nicht ohne Pietät erinnert er sich seines Ursprungs und darum ist der Vorschlag, Menschen zu fressen, in den eisernen Bestand seiner Anstrengungen übergegangen“.

Nur wo „Ursprung und Zerstörung“ zueinander finden, wo „Kind und Menschenfresser“ eins werden, ist der kritische Kannibalismus durch den „Unmensch“ und „neue Engel“ zu überwinden. Einem „neuen, positiven Begriff des Barbarentums“ (Erfahrung und Armut) entspricht die unrealisierbare messianische Utopie einer Literaturkritik, die Philologie, Polemik und Dichtung entgrenzen würde und zudem mit der kapitalistischen Verwertungslogik (der Literatur, der Philologie und der Literaturkritik) wie der technisch-maschinellen Dominanz bräche. Das Kind (Verkörperung der Ursprünglichkeit und Reinheit) und der Kannibale (Verkörperung der Zerstörung mythischer Ordnung) ermöglichen erst die Erschaffung einer modernen Zivilisation als „Ursprung der Kreatur“: „es ist […] das Lachen des Säuglings, der im Begriff steht, seinen Fuß zum Munde zu führen. So begann die Menschheit […] von sich zu kosten. […] Es ist das Lachen des gesättigten Säuglings. Diese Menschheit hat das alles ‚gefressen.‘“ (Karl Kraus) Jedes neu erschienene Buch gibt Anlass zu einer neuen Literaturkritik, die – nach Benjamin – an der Neuerrichtung dessen mitwirken soll, was Benjamin als Literaturkritik imaginiert haben mag.

In Benjamins Einlassungen zum Kannibalen amalgamieren sich (kommerzielle) Literaturkritik und (akademische) Philologie, und Benjamin hat – auch vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen – die Aktualität der literaturkritischen Marktwirtschaft reflektiert und auf die eigene Gegenwart bezogen: Beide folgen unterschiedlichen Marktlogiken. Wie die anthropologische Reflexion im späten 17. Jahrhundert entstanden, nötigt die Marktwirtschaft die Gelehrtenelite zur Ummünzung ihres erworbenen ideellen Kapitals (Reputation) in klingende Münze (Publikation) und eröffnet so ganz neue Felder. Literaturkritik unterlag in der (literaturhistorisch betrachteten) kurzen Zeitspanne ihrer dreihundertjährigen Existenz vielfältigen medialen und ökonomischen Wandlungsprozessen. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert folgen Literaturrezensionen – nach gängigem Verständnis – marktwirtschaftlichen Kriterien: Sie besprechen aktuellste Neuerscheinungen in bündiger Form, um vom Kauf eines Buches ab- oder zuzuraten. Versieht die im späten 17. Jahrhundert ‚entstandene‘ Marktwirtschaft die Literaturrezension mit einem Beschleunigungsimpuls, begründet also die marktwirtschaftliche Einbindung von Literaturkritik einen Modernisierungsschub? Zunächst dominiert noch die überlieferte Form der Ars critica: Wenige gelehrte ‚Kritiker‘ rezensieren wissenschaftliche Neuerscheinungen für gelehrte Leser. In dieser an den Maßgaben der Rhetorik orientierten literarischen Kultur ist jeder Produzent zugleich auch Rezipient und umgekehrt. Indem Julius Caesar Scaliger in seinen Poetices libri septem (1561) die Literaturkritik aus dem Bereich der Grammatik ausgliedert und sie in die Poetik einordnet, löst er sie aus dem Verbund der gelehrten Philologie (Steffen Martus). Damit ist der Weg geebnet: Mit Begründung des literarischen Marktes im 17. Jahrhundert differenzieren sich die Funktionen von Autor und Leser aus. An die Stelle einer „Mechanik des Tausches“ tritt nun das „Gewebe der Konkurrenz“ (Joseph Vogl). Das klare Machtgefüge der Repräsentationskultur wird durch die Marktorientierung diffus. Zugleich überführt die marktwirtschaftliche Orientierung die ältere und kriegerische Tradition der literarischen Polemik vom Kampf zwischen Feinden in einen Kampf zwischen Gegnern, und, daraus resultierend, zu einem Wettstreit mit dem Kontrahenten; der „Antagonismus“ wird durch den „Agonismus“ überwunden (Chantal Mouffe). Das bedeutet nun nicht, dass keine Urteile mehr notwendig oder möglich sind: Gerade die Ökonomisierung zwingt die Literaturkritik, Grenzen zu ziehen, einzuschließen und auszugrenzen, kurz: zu urteilen.

Jedem Medienwechsel entspricht eine Produktionssteigerung – ein Umstand, der schon 1806 dem Berliner ‚Literaturpapst‘ Friedrich Nicolai das Bekenntnis abrang, dass durch die „ungeheure Zunahme der Bücher“ die Aufgabe des Kritikers „auf mancherlei Weise viel beschwerlicher geworden“ sei, „denn die deutsche Literatur, so wie der deutsche Buchhandel, ersticken nach und nach, gleich sorglosen Schlemmern, in ihrem eigenen ungesunden Fette.“ Der kannibalische Diskurs der Literaturkritik tritt im Zeichen des Konsums hinter den ökonomischen Diskurs zurück. Im ökonomischen Zeitalter ‚essen‘ die Kritiker nicht mehr, um zu überleben, sondern sie konsumieren um zu produzieren – Literaturkritik ist die ‚exkarnierte‘ (d. h. ent-fleischlichte) und ins Ökonomische gewendete Praxis der Literaturwissenschaft.

Nicht ohne Grund gerät die Literaturkritik zu etwa demselben Zeitpunkt in eine Krise, als auch die politische Revolution von 1789 die Banken in eine Krise stürzt, indem sie das Substitut (das Papiergeld) vom Warenwert (dem Goldwert) entkoppelt: Die Hyperinflationen des Bedeutungsträgers (Papiergeld bzw. Buchseiten) führt zu einer Entkoppelung der jeweiligen Ökonomie – Papiergeld ist nicht mehr durch Münz- oder Goldwert gedeckt (Joseph Vogl), und Literaturkritik kommt angesichts der inflationären Buchproduktion weder mit den Besprechungen nach noch kann sie die Rezensionsproduktion hinreichend kontrollieren. Der Literaturmarkt taxiert am Ende des 18. Jahrhundert Gewinn und Verlust, und zwar auch in Bezug auf die Ökonomie der Literaturkritik: Wichtig wird nun, dass der Literaturkritiker möglichst viele verschiedene Felder besetzt, sich rasch zu unterschiedlichen Neuerscheinungen ein Urteil bilden kann und Literaturkritik als Geschäft betreibt. Darüber hinaus eignet der Literaturkritik um 1800 eine Scharnierfunktion: Sie vermittelt zwischen der Produktionsideologie und ihrem Gegenentwurf, der Genieästhetik.

Zunächst zur Produktionsideologie: Unter den verschärften ökonomischen Bedingungen stellt der kritische Kannibalismus eine Selbstverzehrleistung – eine Autophagie – dar, deren Ursachen in der massiven Expansion des Buch-, Lese- und vor allem Kritikmarktes begründet liegt und der der Umstellung von gelehrten und kennerschaftlichen auf ökonomische Kriterien geschuldet ist (Sebastian Domsch). Die Expansion des Buch-(und damit: des Kritik-)Marktes lässt sich nicht allein als Zunahme von Wissen beschreiben, sondern umgekehrt auch als Bedrohung der (Lebens-)Standards jener, die – wie die kannibalischen ‚Cariben‘ – bereits länger in diesem Umfeld (ihrer Insel) leben: die Gelehrten in ihrem ‚Elfenbeinturm‘. Diese haben im Lauf der Frühen Neuzeit ein komplexes System von Regeln entwickelt, das einen gewaltsamen Schlagabtausch reglementiert, nämlich die Disputation. Doch im 17. Jahrhundert wird diese Disputationspraxis zunehmend abgelöst durch eine öffentliche Adressierung von Kritik: Der Literaturkritiker wendet sich nicht mehr in lateinischer Sprache an Experten, sondern in der jeweiligen Nationalsprache an alle Lesefähigen. Dazu nutzt er Zeitschriften und Zeitungen, die periodisch erscheinen und kommerziellen Interessen gehorchen. Der technologische Wandel (die ‚Erfindung‘ der Periodika) ermöglicht also eine erhöhte Produktionseffektivität, die jedoch mehr Arbeit für den einzelnen Kritiker bei gleichzeitig sinkendem Lohn und reduzierten Privilegien bedeutet. Literaturkritik wird ein Geschäft, mit der Folge, dass Kritik professionalisiert wird und selbst erheblichen Einfluss auf den ökonomischen Erfolg eines literarischen Werkes hat. Literaturkritik wird folglich Teil des Literaturmarktes und ist nicht mehr nur ‚neutrale‘ Beobachterin. Die ökonomische Einbettung lässt die ‚Neutralität‘ der Literaturkritik fragwürdig erscheinen: Ist nicht zu befürchten, dass der Literaturkritiker Gewinn (auch ideeller Art) auf Kosten seiner kritischen Unabhängigkeit zu machen versucht? Und dass Rezensionskartelle, Allianzen von Verlegern, Kritikern und Autoren die Autorität des Kritikers korrumpieren?

Im Zuge der Ökonomisierung der Literaturkritik kommt es daher zum Selbstverzehr (Autophagie). Das hat zwei Ursachen: Erstens orientiert sich die Literaturkritik auf dem entstehenden Markt – Literaturkritik begleitet den ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit‘ nicht nur, sondern trägt in ihren ‚barbarischen‘ Praktiken (Polemik, Satire und Pasquill) allererst zu einer Herausbildung von öffentlichkeitsfokussierten Formen der Literaturkommunikation bei, die nicht mehr länger einzig auf ein Fachpublikum (Gelehrte) zielen, sondern auf Unterhaltung (mit allen Begleiterscheinungen wie: Oberflächlichkeit, Skandalisierung, Einseitigkeit etc.) abstellen. Diese ‚Genese‘ der Literaturkritik bedingt aber zugleich die erste Krise des frühen Literaturmarktes: Wo immer mehr literaturkritische Zeitschriften entstehen, wo immer mehr Kritiker schreiben, entsteht letztlich auch immer mehr Literatur, die von immer mehr Kritikern in immer mehr Zeitschriften besprochen werden will. Am Ende des 18. Jahrhunderts droht das Literatursystem zu kollabieren. Das mag man bedauern, wie auch mutmaßlich der Bibliothekar der Königlichen Bibliothek Berlin, Johann Erich Biester, im anonym erschienenen Beitrag Auch ein Wort über unsre recensirenden Journale und gelehrten Zeitungen im Leipziger Litterarischen Anzeiger 1798 konstatiert: Die „RecensionsAnstalten“ erfüllen keinen belehrenden Zweck mehr, vielmehr „liest oder blättert [der Rezensent] das Buch für Geld durch, und setzt dann, statt Gründe, einen MachtSpruch“. Immer häufiger komme es daher vor, dass der Rezensent „ein Buch anpreist, ohne sein Urtheil zu rechtfertigen.“ Vor allem aber lassen sich die Rezensenten für ihre „überaus leichte und seichte Arbeit bezahlen“. Hier agitiert ein Verfasser von gelehrten (und daher kostenlosen) Rezensionen gegen die „triviale[n] Kritiken“ und bescheidet: „Geld ist die Losung, und so wird BücherMachen und Recensiren ein merkantilisches Geschäft!“

Zwar kanalisiert der literarische Markt den kritischen Kannibalismus; er transsubstiiert die ‚primitive‘ Praxis – und ist doch selbst wieder kannibalisch, weil er die Literaturkritiker in Stämmen organisiert, die sich gegenseitig bekriegen und um einen ‚König‘ (oder um einen anderen ‚starken Mann‘) herum organisiert sind. Friedensschlüsse sind nahezu unmöglich, da kein ‚König‘ oder ‚Papst‘ seine Untertanen überzeugen kann, dass es gleichgültig ist, ob man isst oder gegessen wird. Noch 1797 kritisiert der Berliner Literaturpapst Friedrich Nicolai (selbst ein begnadeter Polemiker) den Versuch seiner Weimarer Widersacher, in den Xenien das Egalitätsprinzip der Gelehrtenrepublik durch eine „poetische Universalmonarchie“ zu ersetzen als unzulässig – und verschweigt doch, dass er selbst den Thron beansprucht. Die Verdrängungsmechanismen, die Nicolai (wie vor ihm viele Andere) nutzt, zeugen von subkutanen Kritikerkriegen und feindlichen Übernahmen, die den ‚kritischen Kannibalismus‘ in marktwirtschaftliches Vokabular übersetzen. Zugleich zeugen sie jedoch von einer Polemik, die sich nicht nur gegen die Dichterkritiker, sondern vor allem gegen die zunehmende Masse unstudierter Kritiker und ihre ‚unbegründeten‘ Urteile richtet.

Es gibt jedoch eine Gegenbewegung gegen die Kommerzialisierung der Literaturkritik und die Produktionsideologie. Die Frühromantiker entheben (‚transsubstituieren‘) um 1800 die Literaturkritik der marktwirtschaftlichen Ebene. Indem Friedrich Schlegel den Kritiker zum Vollender des literarischen Kunstwerks erklärt, wechselt die Literaturkritik die Diskursebene: Literaturkritik ist nicht länger nur rezeptiv, sondern produktiv. Anders gesagt, vollzieht der kritische Kannibalismus einen Diskurswechsel von der autophagen Critophagie (also vom Verzehr der Literaturkritiken durch Literaturkritiker) zur Fötophagie (also zum Verzehr der frischen ‚Werke‘ – der ‚Kinder‘ des Literaten – durch Literaturkritiker). Der Opferpriester (also der Literaturkritiker) beansprucht Anteil am Göttlichen, d. h. am kreativen Schöpfungsprozess des literarischen Autors. Aus diesem liminalen Zustand – zwischen göttlicher Kreativität (Dichter) und Dienst am Text (Philologe) – ergibt sich ein Spannungsverhältnis, das in der Opferung gelöst wird: Der literarische Text wird zwar durch den Priester getötet, erfährt jedoch durch die verschriftlichte Kritik eine Wiedergeburt. Die Priester-Kritik ‚reinigt‘ gleichsam den Text durch die Opferung, jedoch nicht im Sinne der Philologie, die sich um die Herstellung einer ‚reinen‘ Lesart bemüht, sondern im Sinne der Literaturkritik durch Vollendung des Kunstwerks.

Diese Gegenbewegung gegen die autophage Kommerzialisierung ist notwendig, da die Leserevolution des 18. Jahrhunderts zwar zu einer wahren Flut von literaturkritischen Zeitschriften führt, zugleich aber die Verdienstmöglichkeiten der einzelnen Kritiker erheblich erschwert. Zwar wird Literaturkritik mit Universalpoesie und Symphilosophie selbst Kunst, macht aber dadurch ihrerseits der Literatur das Terrain streitig. Durch das Einverleiben des literarischen Textes absorbiert der Literaturkritiker Eigenschaften des ‚Opfers‘. Frühromantische Literaturkritik wird gleichsam zu eine Art kannibalischen Pharmazeutikum, wie es vom realen europäischen ‚Kannibalismus‘ der Frühen Neuzeit her bekannt ist: Die beiden Prinzipien „Homo homini salus“ (Galenus) und „Homo homini lupus“ (Thomas Hobbes) greifen ineinander. Wie beim real existierenden Kannibalismus der Frühen Neuzeit die Alten den Jungen als Speise dienen, um das Überleben des Spezies zu sichern, so formiert sich bereits an der Wende zum 18. Jahrhundert ein kannibalischer Diskurs der jungen Schriftsteller gegen die alten Autoritäten, der in der Querelle des Anciens et des Modernes ausgetragen wird (im deutschsprachigen Raum mit gehöriger Verspätung um 1750 zwischen Leipzig und Zürich).

Die Frage ist also nicht, ob der ‚critische Cannibale‘ Menschenfleisch verzehren soll, sondern welche Sorte: andere Kritiker („Fleisch vom eignen Fleisch“, Gen 29,14) oder alte und neue Bücher (das fleischgewordene Wort, Joh 1,14). Der Umschlag der Ars critica zur Literaturkritik und damit der Umschlag von der Kritik an antiken Autoren zur Kritik an den Autoren der eigenen Gegenwart steht im Zentrum des ‚kritischen Kannibalismus‘: Die Aufwertung der eigenen Gegenwart korrespondiert mit einer notwendigen Abwertung von (geschichtlicher) Vergangenheit (und heilsgeschichtlicher Zukunftserwartung). Der kannibalische Literaturkritiker ist auf sich gestellt, erfährt jedoch keinen Trost in der Schriftauslegung, sondern ist auf literaturkritische Selbstvermarktung angewiesen.

Der Niedergang des Kannibalismus kann mit der Emanzipation der Naturwissenschaften im 18. Jahrhundert angesetzt werden, doch der ‚kritische Kannibalismus‘ wird nicht überwunden. Die Tradition, in der er steht, entspricht der archaischen Vorstellung, dass der Verzehr des Anderen die Kräfte auf den Essenden überträgt – und tatsächlich hat der Literaturkritiker der Frühromantik selbst Anteil am kreativen Prozess, wenn Literaturkritiken eine eigene (nicht mehr nur dienende) Kunstgattung werden. Der Literaturkritiker wird zu Beginn des 19. Jahrhunderts selbst zu einem Produzenten. Das entspricht der kannibalischen Ordnung, in der die Seelen der Toten beseitigt werden, indem man sie isst. Schlegel vollzieht in seiner Kritik an Goethes Wilhelm Meister exakt diesen Schritt: durch Einverleibung die Kräfte absorbieren.

Unverändert ist somit der ‚kritische Kannibalismus‘ im 19. Jahrhundert wirksam, als sich (kommerzielle) Literaturkritik und (philologische) Literaturwissenschaft auszudifferenzieren beginnen: Während der Literaturwissenschaftler im Rahmen der kannibalischen Ordnung die ‚großen Toten‘ durch Verzehr ehrt, wendet sich der Literaturkritiker dem soeben Erschienenen, dem literarischen ‚Frischfleisch‘ zu. Man könnte auch sagen, dass sich die Literaturkritik der Säuglinge (der neu herausgekommenen Bücher) bedient, um sich selbst und die zeitgenössische Literatur zu kräftigen (Marvin Harris). Die Literaturwissenschaft hingegen greift auf die Mumien (die kanonisierten Autoren) zurück, um die Literatur zu heilen (Richard Sugg). Da Pharmakoi sowohl Heilmittel als auch Gift sein können, gilt es ihre Dosierung zu beachten (Barry Murnane). Indem die Literaturwissenschaft nach 1968 zunehmend auf jüngste Literatur zurückgreift, trachtet sie – wie die Literaturkritik, die dies seit jeher praktiziert – nach Stärkung und Verjüngung. Benjamin markiert also mit seinem unappetitlichem Vergleich unbewusst exakt jene Scheidegrenze, gegen die er sein Leben lang angeschrieben hat: die Trennung von Literaturkritik und Literaturwissenschaft.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag greift zurück auf die 2019 im transcript Verlag erschienene Monographie des Autors mit dem Titel „Kritischer Kannibalismus. Eine Genealogie der Literaturkritik seit der Frühaufklärung“.