Pöbelnde Mittelschicht

Björn Vedder fragt, warum wir die Superreichen verteufeln

Von Christophe FrickerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christophe Fricker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die bürgerliche Mittelschicht klagt immer lauter über die wachsende soziale Ungleichheit. „Superreiche“ stellt sie als moralisch verkommen dar, als skrupellose Ausbeuter, die es in Kauf nehmen, dass die Anderen verrecken. Für viele in der bürgerlichen Mittelschicht ist es daher umso erstaunlicher, dass viele „Abgehängte“, die um ihr Überleben kämpfen, Superreiche wie Donald Trump in höchste politische Ämter wählen.

Björn Vedder untersucht in Reicher Pöbel. Über die Monster des Kapitalismus die Hintergründe dieser auf den ersten Blick paradoxen Konstellation. Auf methodisch innovativem Weg gelangt der Autor zu einer radikalen Schlussfolgerung. Er wählt als Ausgangspunkt die Darstellung der „Superreichen“ in Fernsehserien, auf Instagram, im Rap und in populären Romanen, die die Fantasie des Mainstreams prägen. Seine These lautet, dass die Mittelschicht die Dämonisierung der Superreichen als Feigenblatt verwendet, um von ihrer eigenen Komplizenschaft abzulenken – sie selbst profitiere von einem wirtschaftlichen System, dessen Spitzen über alle Maßen reich werden, das ihnen aber auch selbst weitreichende Privilegien einräumt.

Der analytische Ankerpunkt für diese Hypothese ist Georg Wilhelm Friedrich Hegels Begriff des „reichen Pöbels“, der sowohl das Wirtschaften als auch den Gemeinsinn von Eliten umfasst. Vedder knüpft hier an und spricht zunächst von einem „reichen Pöbel erster Ordnung“, jenen „Superreichen“, und dann von einem „reichen Pöbel zweiter Ordnung“, also denjenigen, die in OECD-Ländern in der Mitte rangieren, vielleicht sogar in deren unterem Drittel, die aber im globalisierten Wirtschaftssystem, aus dem sie ihre Smartphones, Burger und T-Shirts beziehen, immer noch zu einer kleinen, verwöhnten Minderheit gehören. Dieser „Pöbel zweiter Ordnung“ grenze sich in zwei Richtungen ab: nach oben, um das eigene Gewissen zu beruhigen und sich letztlich als willenloses Opfer des Kapitalismus zu gerieren, und nach unten durch das Narrativ vom „meritokratischen System“, im Rahmen dessen er seine Fähigkeiten entfalte und nicht nur seine ererbte und erkaufte Machtposition ausgebeutet habe.

Insofern sei es nicht verwunderlich, dass der arbeitslose Schweißer in Detroit sich Donald Trump zuwendet, der ihn nicht in den „basket of deplorables“ wirft, wie Hilary Clinton das tat, sondern ihm in seiner Abgrenzung gegenüber einer scheinheiligen Mittelschicht verbunden ist.

Vedders Grundfrage lautet also „Was verrät die Kritik über ihre Kritiker?“ – und die unbequeme Hypothese: „Der Pöbel brandmarkt den Pöbel.“ Das Buch geht jedoch über die film- und literaturwissenschaftliche Analyse im engeren Sinne deutlich hinaus; vor allem untersucht es, wie „der Kapitalismus seine zivilisierende Kraft verliert“. Der Autor antwortet darauf wiederum mit Hegel: Wenn der Bürger so viele Ressourcen hätte wie der Superreiche, würde er sich genauso unmoralisch verhalten; und der Superreiche nutze eben die Möglichkeiten eines Systems, das, wie Karl Marx feststellte, Gleichheit nur mit Blick auf die Rechte etabliere, ihn aber nicht dazu zwinge, sein Vermögen zum Wohle aller einzusetzen. Wie schon in seinem früheren Buch über die Freundschaft illustriert Vedder dieses große Theorem anhand von Beispielen auch aus seiner eigenen Lebenswelt, die von hohem heuristischem Wert sind.

Der stärkste Punkt in Vedders Argumentation ist die Kritik an Produkten, mit denen relativ wohlhabende Kapitalismuskritiker etwas Gutes tun wollen – die teuren und vermeintlich (in einem emphatisch-moralischen Sinne) „guten“ Alternativen. Der Autor spricht dem „Wertekonsum“ seine moralische Qualität grundsätzlich ab; er sei letztlich nicht mehr als ein brutales Distinktionsmerkmal. Die „einigermaßen Reichen“ beharrten so auf ihrer Subjektivität und ließen die Mechanismen des Konsums unangetastet, mittels derer die wirklich Reichen nun sie – und nicht mehr die Armen – ausbeuten.

Vedders Analyse schreitet von künstlerischen Darstellungen zu makroökonomischen Strukturen voran und mündet in einer düsteren Zukunftsvision: Die wirklich Armen bringen die wirklich Reichen an die Macht; die einigermaßen Reichen mokieren sich zwar darüber, haben aber kein Interesse an einer Veränderung der dazugehörigen Marktmechanismen; die superreichen Machthaber werden die Lebensbedingungen der Armen nicht verbessern, den Planeten aber weiter ausbeuten. CSR-Aktivitäten (Corporate Social Responsibility) sind ein Feigenblatt, dessen Verlogenheit sich schon daran zeige, dass viele der auf diesem Wege vermeintlich angegangenen Probleme noch existieren, obwohl den Superreichen und ihren Konzernen quasi unendliche Lösungsmöglichkeiten zur Verfügung stünden.

Reicher Pöbel ist brilliant geschrieben; der Bogen von The Walking Dead zu Arthur Schopenhauer gelingt. Am Ende bleibt jedoch die Frage, ob die Darstellung nicht doch zu einseitig ist. Sind nicht die enormen Erfolge im Kampf gegen absolute Armut und Tropenkrankheiten, der massive Rückgang des Bevölkerungswachstums und die Verbesserung der Grundbildung Hunderter Millionen Menschen in den letzten Jahrzehnten Grund genug, auch Positives an der bestehenden Weltordnung zu sehen? Auch ist zu fragen, ob eine Perspektive, die den individuellen Gestaltungsspielraum als so sekundär gegenüber Strukturen und materiellen Ressourcen sieht, nicht auch eine Bevormundung jener darstellst, die subversiv, positiv, konstruktiv, großzügig und freundlich agieren und die, wenn schon nicht die Welt, die Gesellschaft oder ihre Gegner so doch zumindest sich selbst verändern. Ihre Stimmen und die ethische Dimension ihres Verhaltens fehlen in dieser Analyse, deren Schärfe und Breite außer Frage stehen. Dass Vedder in der Lage ist, auch die „zweite Person“ zu profilieren, hat er mit seinem vorangegangen Buch Neue Freunde bereits bewiesen.

Titelbild

Björn Vedder: Reicher Pöbel. Über die Monster des Kapitalismus.
Büchner-Verlag, Marburg 2018.
186 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783963171260

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