Die Entdeckung der Unsterblichkeit

Hanya Yanagiharas „Das Volk der Bäume“ ist ein mitreißender Roman mit Schwächen am Ende

Von Karsten HerrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karsten Herrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach dem heiß diskutierten Weltbestseller Ein wenig Leben ist nun auch das Debüt von Hanya Yanagihara in deutscher Übersetzung erschienen. In Das Volk der Bäume führt uns die Autorin in  mittreißender Weise auf eine von der Zivilisation unberührte Insel im mikronesischen Archipel und in tiefe menschliche Abgründe. Sie erzählt von einer sensationellen Entdeckung  und stellt große ethische Fragen. Doch letztlich läuft ihr dieser Roman wie auch schon ihr Weltbestseller aus dem Ruder.

Das Debüt der New York Times-Chefredakteurin ist als Autobiografie angelegt und wird mit Zeitungsberichten sowie dem Vorwort eines langjährigen Freundes eingeleitet. Den Zeitungsberichten entnehmen wir, dass Norton Perina, der 1974 für die Entdeckung der Unsterblichkeit mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, im Alter von 71 Jahren wegen sexuellen Missbrauchs seiner Adoptivkinder angeklagt und zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt wurde. In seiner Autobiografie, die vom Herausgeber kommentiert und mit bibliografischen Hinweisen versehen ist, erzählt Norton Perina, wie es dazu kommen konnte.

Über Stationen seiner Kindheit und den frühen Tod der Mutter folgen wir seinem Weg hin zu einem eher lustlos absolvierten Medizinstudium und einem stoisch absolvierten grausamen Job in einem Tierversuchslabor. Als er das Angebot bekommt, als Mediziner an einer anthropologischen Expedition teilzunehmen, zögert er nicht lange. Zusammen mit seinen Forscherkollegen schlägt er sich auf der mikronesischen Insel Ivu’ivu tagelang durch den dichten Dschungel mit seiner überschäumenden Vegetation und dem lautstarken Konzert der Tiere. Der Dschungel ist „durchnässt, kreischend und mit Geheimnissen angefüllt wie etwas aus einem Märchen“ Wie erhofft stoßen sie hier auf das geheimnisvolle Volk der Ivu’ivu und studieren ihre Linguistik, Philosophie, Religion, Rituale und Traditionen. Hier wird Norton Perina auch „Zeuge eine tiefgreifenden sexuellen Freiheit und Offenheit“ und glaubt zu erkennen, „dass Kinder an sexuellen Handlungen Gefallen finden können“. Es erscheint ihm hier „auch vollkommen natürlich, was es auch war“, und er schlussfolgert „dass jede Form von Ethik oder Moral kulturabhängig ist“.

Doch die eigentliche Entdeckung Perinas ist die Unsterblichkeit einiger Stammesmitglieder. Diese wird, wie er durch langjährige Versuche an den Ivu’ivu und an Mäusen herausfindet, durch den Verzehr der seltenen Opa’ivu’eke-Schildkröte verursacht. Zunächst verschwiegen wird, dass es sich nur um eine „Parodie der Unsterblichkeit“ handelt, weil zwar der Körper jung bleibt, aber der Geist verfällt.

Mit seiner Entdeckung wird Perina zum gefeierten Held der Wissenschaft und gibt die Insel zugleich der Zerstörung durch Horden von Forschern und Pharmakologen preis, die den großen Ruhm und das große Geld wittern. Bei weiteren Besuchen auf der traurigen Tropeninsel nimmt Perina mehr als 40 Kinder mit in seine Heimat, adoptiert sie und zieht sie groß. Erst in einem Nachtrag erfahren wir schließlich die Wahrheit über seinen Missbrauch wie auch über sein späteres mysteriöses Verschwinden.

Hanya Yanagihara hat in Das Volk der Bäume auf bewundernswerte Weise eine fiktive – jedoch am Mediziner Daniel Carleton Gadjusek angelehnte – Biografie geschrieben, die sie mit allen Ingredienzen wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit würzt und mit großen Fragen auflädt: Wo sind die ethischen Grenzen der Wissenschaft? Welche Erwartungen haben wir an sie und was sind wir bereit zu tolerieren? Wie die Autorin in ihrem Vorwort selber ausführt, stecken wir hier in einer schier unausweichlichen Zwickmühle: „Vor der Wissenschaft zurückzuschrecken hat Tode zu Folge, ihr zu huldigen hat andere Tode zu Folge.“

Auch in ihrem Debüt zeigte sich Yanagihara schon als eine packende, höchst sinnliche Erzählerin. In ihrem aktuellen Buch zieht sie den Leser tief in den pulsierenden Dschungel und in das Leben der Ivu’ivu hinein, doch letztlich läuft ihr der Roman aus dem Ruder, wenn Norton Perina im letzten Viertel des Romans von der Zerstörung der Insel  und vom Zusammenleben mit seinen zahlreichen Adoptivkindern erzählt. Hier gibt es einen Bruch im Buch, und hier tritt wie schon in Ein wenig Leben Yanagiharas Hang zu Tage, zu überziehen und sich geradezu im Schmerz und Unglück zu suhlen.

Titelbild

Hanya Yanagihara: Das Volk der Bäume.
Hanser Berlin, Berlin 2019.
480 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783446262027

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