Hölderlins unsterbliche Diotima

Zum 250. Geburtstag von Susette Gontard

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Die Liebesbeziehung zwischen Susette Gontard (1769–1802) und Friedrich Hölderlin (1770–1843) gehört zu den großen Liebesgeschichten der Weltliteratur. Obwohl Allgemeingut der Literaturgeschichte, ist die Wahrheit dieser Beziehung immer noch von romantischer Stilisierung verdeckt. Wie bei den meisten berühmten Liebespaaren war ihre innige Zuneigung von einer unterschiedlichen gesellschaftlichen Stellung überschattet. Susette Gontard, geboren am 9. Februar 1769 als Susanna Borkenstein, war die Tochter einer wohlhabenden Hamburger Kaufmannsfamilie. Ihr Vater Hinrich Borkenstein (1705–1777), kurzzeitig auch Lustspielautor, starb, als die Tochter gerade acht Jahre alt war. Ansonsten ist über ihre Kindheit wenig bekannt. Hölderlin dagegen war der Sohn eines Klosterhofmeisters und einer Pfarrerstochter. Da seine Familie (der Vater war bereits 1772 verstorben) nur über geringe finanzielle Mittel verfügte und der junge Hölderlin den Wunsch seiner pietistischen Mutter nach einer kirchlichen Laufbahn stets verweigerte, musste er sich als Hauslehrer verdingen.

Im Frühjahr 1796 trat der 26-jährige und stets klamme Hölderlin bei den Gontards eine Hofmeisterstelle an, die ihm der Arzt, Naturforscher und Reiseschriftsteller Johann Gottfried Ebel (1764–1830) vermittelt hatte. Jakob Friedrich Gontard (1764–1843) war Frankfurter Bankier. Während einer Geschäftsreise nach London hatte er 1784 in Hamburg Station gemacht und dabei die 15-jährige Susanna Borkenstein gewissermaßen in Augenschein genommen. Ihr ging der Ruf von außergewöhnlicher Schönheit und großem Liebreiz voraus. Zwei Jahre später erfolgte die Hochzeit in Hamburg, wohin die junge Frau nie mehr zurückkehren sollte. Das junge Paar bezog das herrschaftliche Anwesen „Weißer Hirsch“ am Großen Hirschgraben in Frankfurt – in unmittelbarer Nachbarschaft der Familie Goethe.

Als Hölderlin zu den Gontards kommt, waren die Eheleute bereits seit zehn Jahren verheiratet und hatten vier Kinder. Die Ehe war nach bürgerlicher Konvention geschlossen, weniger aus einem Gefühl heraus. Jakob Friedrich Gontard gilt als weltoffen und geschäftstüchtig und ist Mitinhaber eines florierenden Bank- und Handelshauses. Darüber hinaus hat er mannigfaltige gesellschaftliche Verpflichtungen. Um die familiären Aufgaben kümmert er sich dagegen kaum. Für die Erziehung und Ausbildung der Kinder werden Hofmeister und Erzieherinnen engagiert. Hölderlin soll den einzigen Sohn und künftigen Erben Henry (1787–1816) unterrichten, der ein durchaus lernbegieriger und freundlicher Knabe ist. Zwischen Zögling und Lehrer entwickelt sich schnell eine gegenseitige Sympathie. (In späteren Briefen redet Henry Hölderlin stets mit „Mein Holder“ an.) Der Unterricht findet vormittags statt und umfasst die Fächer Geschichte, römische Geschichte, Deutsch und Geografie. Für den Französischunterricht am Nachmittag wird eigens ein „französischer Meister“ eingestellt, ebenso Hauslehrer für Schönschreiben, Zeichnen, Rechnen, Tanzen und Fechten.

Zu Hölderlins weiteren Pflichten gehört die Anwesenheit bei den zahlreichen Gesellschaften, die der Bankier in seinem Haus veranstaltet. Hier hat er über die Erfolge seines Zöglings zu berichten. Hölderlin erhält ein ansehnliches Jahresgehalt von 400 Gulden (bei freier Kost und Logis). Für die Erziehung von Henrys drei jüngeren Schwestern, die zwischen sieben und vier Jahren alt sind, ist eine Schwägerin des Hausherrn, die junge Demoiselle Marie Rätzer aus Bern zuständig, die gleichzeitig als Gesellschafterin mit der Hausherrin freundschaftlich verbunden ist.

Durch die ständigen Geschäftsreisen von Jakob Gontard ist seine Ehefrau gewissermaßen Hölderlins Vorgesetzte. Er gehört zum häuslich-weiblichen Familienbereich, der in den Sommermonaten ein Landhaus östlich der Stadt bezieht, wo der Hausherr höchstens an den Wochenenden einmal vorbeischaut. Bei gemeinsamen Spaziergängen entdecken Susette Gontard und Hölderlin hier wahrscheinlich ihre Zuneigung. Sie ist ein Jahr älter als er und – ganz im Gegensatz zu ihrem Gatten – an schöner Literatur, Musik und neuerer Philosophie sehr interessiert. So hat sie auch Hölderlins Hyperion-Fragment gelesen, das bereits 1793 in Friedrich Schillers (1759–1805) Zeitschrift Neue Thalia erschienen war. Selbst nach der Geburt der vier Kinder ist Susette noch immer eine außerordentlich schöne Frau, so jedenfalls berichten es einige Zeitgenossen. Hölderlin selbst schwärmt in einem Brief an seinen ehemaligen Tübinger Studienfreund Christian Ludwig Neuffer (1769–1839): „Lieber Freund! Es gibt ein Wesen auf der Welt, woran mein Geist Jahrtausende verweilen kann […]. Lieblichkeit und Hoheit, und Ruh und Leben, u. Geist und Gemüth und Gestalt ist Ein seeliges Eins in diesem Wesen.“ Neben der geistigen Verbindung entwickelt sich zwischen der Hausherrin und dem jungen Hauslehrer eine Liebesbeziehung, die sich im Sommer 1796 in Bad Driburg intensiviert. In der Abgeschiedenheit des Badeortes im Teutoburger Wald hat Susettes Ehemann die Familie vor den anrückenden napoleonischen Truppen in Sicherheit gebracht. Ursprünglich soll die Flucht, in Begleitung des Schriftstellers Wilhelm Heinse (1746–1803), zu Susettes Familie nach Hamburg gehen, doch unterwegs ändert man die Pläne. Ob diese Änderung Susettes Wunsch ist, darüber ist sich die Literaturwissenschaft bis heute uneins. Jedenfalls kann sie in dem beschaulichen Driburg ihr Liebesgeheimnis besser tarnen als in Hamburg, wo sie jeder kennt.

Mehrere ungestörte Wochen können Hölderlin und Susette in Bad Driburg verbringen; es werden die glücklichsten Wochen des Dichters, er spricht von „übermächtigem Glück“. Die Schönheit der Natur und die Nähe der geliebten Frau, die er nach dem antiken griechischen Philosophen Plato Diotima nennt, beflügeln ihn. Sie wird zur Schlüsselfigur seines Lebens und seiner Dichtung. („Er macht aus dem Bild der Geliebten ein Inbild: Diotima.“, Peter Härtling.) In Frankfurt und Bad Driburg entstehen zahlreiche Diotima-Gedichte, die Hölderlin auch an seinen Ziehvater, den hochverehrten Schiller, schickt, die dieser jedoch nicht in seiner neuen Zeitschrift Die Horen abdruckt. Schiller kritisiert an seinen komplexen Gedichten vor allem die übertriebene Neigung zu philosophischen Stoffen, die er als überholt ansieht.

Diotima, seelig Wesen!
Herrliche, durch die mein Geist
Von des Lebens Angst genesen
Götterjugend sich verheißt!
Unser Himmel wird bestehen
Unergründlich sich verwandt,
Hat, noch ehʼ wir uns gesehen
Unser Wesen sich gekannt.

Neben den Unterrichtsstunden arbeitet Hölderlin, unterstützt von Susette, eifrig an seinem lyrischen Briefroman Hyperion, dessen erster Band im April 1797 auf Vermittlung Schillers in der J.G. Cotta’schen Verlagsbuchhandlung erscheint. Hölderlin ist jetzt ein deutscher Dichter. Mit der Rückkehr nach Frankfurt Anfang Oktober beginnt jedoch wieder der Alltag, dazu kommt das Versteckspiel der Gefühle. Etwas Ablenkung findet Hölderlin durch den Besuch seines Bruders Karl im April 1797 und den Kontakt zu Freunden (Neuffer und Christian Landauer (1769–1845)). Außerdem vermittelt er seinem ehemaligen Studienfreund Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) eine Hauslehrerstelle bei der Familie des Frankfurter Wein-Großhändlers Johann Noe Gogel. So können sich beide regelmäßig über Philosophie, Kunst und Religion austauschen. Hölderlins Mutter fordert dagegen immer wieder dringend die Rückkehr des Sohnes nach Nürtingen, wo sie ihm eine Stelle als Hilfspfarrer (nebst lediger Pfarrerstochter) in Aussicht stellt. Doch Hölderlin, der keineswegs die Absicht hegt, in den Kirchendienst einzutreten, gibt vor, untauglich für die Ehe zu sein. Schließlich kommt es am 22. August 1797 zu einem letzten Zusammentreffen mit Johann Wolfgang Goethe (1749–1832), der während einer Schweiz-Reise Station in seiner Heimatstadt macht. Goethe schreibt einen Tag später an Schiller: „Gestern ist auch Hölterlein bei mir gewesen, er sieht etwas gedrückt und kränklich aus, aber er ist wirklich liebenswürdig und mit Bescheidenheit, ja mit Ängstlichkeit offen. […] Ich habe ihm besonders geraten kleine Gedichte zu machen und sich zu jedem einen menschlich interessanten Gegenstand zu wählen“. Goethes Empfehlung, „kleine Gedichte“ zu schreiben, zielt dabei weniger auf die Form derselben, sondern auf deren Gegenstand; er rät Hölderlin, sich nicht zu sehr den großen, universalen Themen zu widmen, die sich weniger für eine lyrische Auseinandersetzung eignen. Hölderlin hat diesen guten Rat sicher als Schulmeisterei empfunden, jedenfalls ist sein Verhältnis zu Goethe nach diesem Treffen eher von Distanz geprägt.

Im Hause Gontard indes wird Hölderlin immer unzufriedener mit seiner Situation („der unhöfliche Stolz, die geflissentliche tägliche Herabwürdigung“). Der Zustand, der Unterwürfigkeit und zugleich pädagogische Autorität von ihm erfordert, ist ihm unerträglich. Er wird zunehmend gereizter, er klagt über ständige Stimmungswechsel – die ersten Anzeichen einer Krankheit? Hegel macht sich Sorgen und konsultiert ohne Hölderlins Wissen einen Arzt.

Am 25. September 1798 kommt es schließlich zu einer Auseinandersetzung mit Jakob Gontard, in deren Folge Susette ihn auffordert, „auf der Stelle [sich] zu entfernen“. Wahrscheinlich wurde schon längst über die Liaison in der Frankfurter Gesellschaft getuschelt. Hölderlin quittiert seinen Hofmeisterdienst und zieht ins nahe Homburg (das heutige Bad Homburg vor der Höhe) zu seinem Freund Isaac von Sinclair (1775–1815), der dort Regierungsrat in den Diensten des Landgrafen von Hessen-Homburg ist.

Hölderlin ist niedergeschlagen. Der Schmerz, von der Geliebten getrennt zu leben, und die Erkenntnis, dass die Liebe doch nicht imstande ist, die Gesellschaftsschranken zu überwinden, versetzen ihn in eine tiefe Krise:

Hoch auf strebte mein Geist, aber die Liebe zog
Schön ihn nieder; das Leid beugt ihn gewaltiger;
So durchlauf ich des Lebens
Bogen und kehre, woher ich kam.

Da Homburg nur ein paar Meilen von Frankfurt entfernt ist, kommt es bald zu heimlichen Treffen – vor allem Susette ersinnt immer neue Wege und Kontaktmöglichkeiten. Drei Stunden Fußmarsch … selbst Regen, Wind und Kälte können Hölderlin nicht abhalten. Im Frankfurter Comödienhaus begegnet man sich „zufällig“ und steckt sich dabei eilig Briefe zu. Aus dieser Korrespondenz sind von Hölderlin nur drei Briefkonzepte erhalten geblieben, während von Susette 17 Briefe überliefert sind. Sie dokumentieren eine große Liebe, die unerfüllt blieb.

Träumen möchte ich immer, doch träumen ist Selbstvernichtung! Selbstvernichtung Feigheit!… Fühlen! – Mein Herz fühlt noch in dieser armen, alles tötenden Zeit lebendig und warm, sehnt sich nach Würklichkeit, nach dem Widerhall der Liebe, nach Mitteilung, Einklang, Harmonie! Seligkeit! soll ich es tadeln? Doch ruft jedes Gefühl in mir meine ganze Sehnsucht vermischt mit tausend Schmerzen zurück. Selbst durch meine tiefsten Gedanken finde ich nichts Wünschenswertes als die innigste Beziehung der Liebe. 
(Susette, Februar 1799).

In diesen Wochen und Monaten arbeitet Hölderlin unermüdlich an seinem Dramenprojekt Der Tod des Empedokles, das jedoch unvollendet bleibt und erst nach seinem Tod veröffentlicht wird. Das 18. Jahrhundert verabschiedet sich. „Als Dreißigjähriger tritt Hölderlin über die Schwelle“ (Stefan Zweig), seiner Geliebten kann er den zweiten Band seines Hyperion mit der Widmung „Wem sonst als Dir.“ zukommen lassen, wahrscheinlich die berühmteste der Literaturgeschichte. Am Ende des Briefromans stirbt Hyperions große Liebe Diotima. Eine böse Vorahnung?

Auch wir, auch wir sind nicht geschieden, Diotima, und die Tränen um dich verstehen es nicht. […] O Seele! Seele! Schönheit der Welt! du unzerstörbare! du entzückende! mit deiner ewigen Jugend! du bist; was ist denn der Tod und alles Wehe der Menschen? […] Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder.

Mit seinem Weggang aus Homburg im Mai 1800 bricht die Beziehung schließlich ab; Hölderlin zieht zurück nach Stuttgart. Seine Mutter hat ihr Ziel erreicht, der Sohn ist nun in ihrer Reichweite, zumindest bis Anfang Dezember 1801, als er zu einem gefahrvollen Winterfußmarsch nach Bordeaux aufbricht. Hölderlin hat sich entschlossen, das Vaterland zu verlassen und sich seinem Schicksal zu ergeben. Im Juni 1802 ist er jedoch wieder in Stuttgart zurück, abgemagert und völlig zerrüttet, nur noch ein Schatten seiner selbst. Erst Anfang Juli erfährt Hölderlin durch einen Brief Sinclairs, dass seine Susette am 22. Juni mit erst 33 Jahren gestorben ist – an Röteln, die ihre Kinder gut überstanden hatten.

Die Todesnachricht trifft Hölderlin schwer, Wutanfälle und Schreibwut sind die Folge. Mit Sophokles-Übersetzungen und eigenen Hymnen (Vaterländische Gesänge) versucht er, über den Schmerz hinwegzukommen. Sinclair holt ihn schließlich nach Homburg und verschafft ihm auf eigene Kosten eine Stelle als Hofbibliothekar, doch sein psychischer Zustand verschlechtert sich weiter. An eine Dichterexistenz ist nicht mehr zudenken. Die Ärzte geben ihm noch drei Jahre, doch daraus sollen 36 Jahre werden. Die zweite Hälfte seines Lebens, von 1807 bis 1843 (7. Juni), verbringt Hölderlin als unheilbar geisteskrank in Pflege bei der Schreinermeisterfamilie Zimmer in Tübingen.

Bereits 1804 hatte Hölderlin sein kommendes Schicksal im Gedicht Hälfte des Lebens vorausgesehen; mit den beiden Strophen charakterisierte er seine beiden Lebensabschnitte (Ausschöpfung des Lebens bzw. Todesahnung):

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehmʼ ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.

1826 gaben Ludwig Uhland (1787–1862) und Gustav Schwab (1792–1850) bei Cotta eine erste Ausgabe seiner Gedichte heraus, die allerdings die Gedichte nach 1800 („Periode der Geistesverwirrung“) ausklammert. Erst Schwabs Sohn Christoph Theodor (1821–1883), der den Dichter in seinem Tübinger Turm noch mehrfach besucht und auch die Grabrede bei seiner Beerdigung am 10. Juni 1843 gehalten hatte, druckte in seiner zweibändigen Ausgabe von Hölderlins sämtlichen Werken (1846) einige „Gedichte aus der Zeit des Irrsinns“ ab – ergänzt durch eine erste Hölderlin-Biografie, die auch heute noch gelegentlich separat verlegt wird. Doch erst im 20. Jahrhundert wird Hölderlins Werk und damit auch seine Susette Gontard wiederentdeckt. Heute gilt er als ein Begründer der modernen Lyrik und sie als seine große Liebe, als seine Diotima. „Ewig glücklich und ewig unglücklich.“