Fernster Ort

Ein Sammelband über Jenseitsfahrer, Totengespräche und unnatürliche Räume in der Gegenwartsliteratur

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Jenseits ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Der christliche Himmel ist entvölkert, „der Teufel tot“ (Kurt Flasch), das Fegefeuer verwahrlost, ein trostloser Limbus. Mit aller Kraft aber kehrt das Jenseits zurück in der Gegenwartsliteratur, ganz besonders auf den Breitengraden der Narration. Da sind auf einmal Tote, die sprechen und erzählen, Jenseitsräume erscheinen im Diesseits, es gibt Zeitvorstellungen, die von unserem Chronotopos abweichen. Wie diese Phänomene im Horizont der postsäkularen Kultur erzählt werden, darum geht es in dem Sammelband Jenseitserzählungen in der Gegenwartsliteratur, den die Eichstätter Germanistin Isabelle Stauffer klug zusammengestellt hat.

Bereits in ihrer Einführung fasst die Herausgeberin die Ergebnisse der Forschung souverän zusammen und eröffnet neue Perspektiven. Mit den Begriffen der „minimal religion“ (Charles Taylor) und dem „believing without belongig“ (Grace Davies) ist das Phänomen eingezäunt: Denn die Jenseits-Figuren und Jenseits-Räume in der Literatur haben nur noch wenig mit liturgischen und theologischen Formaten zu tun, sie sind vielmehr Kennzeichen einer postsäkularen Revitalisierung von Religion und, mit Niklas Luhmann gesprochen, Ausdifferenzierungen des Codes von Immanenz und Transzendenz. Anders gesagt: Es geht um Grenzüberschreitungen in den an und für sich unsichtbaren Bereichen von Glauben und Religion. Die Jenseitserzählung ist, so eine glückliche Formulierung von Stauffer, eine „fließende Gattung“ in den Zonen reduzierter Realitätskompatibilität (was sie wiederum vom phantastischen Erzählen abgrenzt).

Behandelt werden in den Beiträgen der Tod des Erzählers in Werken von Thomas Hettche, Thomas Lehr und Georg Klein, Daniel Kehlmanns Sterbeerzählung Der fernste Ort (2001), Josef Winklers und Michael Köhlmeiers postmoderne Rezeption von Jenseitsmythen, Herta Müllers postkatastrophische Poetik in Atemschaukel (2009), Arno Geigers Umbettung des Jenseits in die Demenz (in Der alte König in seinem Exil, 2011) und Werner Fritschs Jenseitsmonologe. Stefan Neuhaus argumentiert anhand von Uwe Timms Rot (2001) und Helmut Kraussers UC (2003), dass der Ultrachronos – auf den Kraussers Romantitel Bezug nimmt – ein Jenseitsraum ist, der von der erinnernden und Todessekunden dehnenden Literatur eingenommen werden kann. Sehr lesenswert ist auch der Aufsatz von Isabelle Stauffer über Sibylle Lewitscharoffs Romane; in Pfingstwunder (2016) werden Danteforscher in den Himmel entrückt.

Am besten kommt man dem Thema wohl mit Martin Walsers Novelle Mein Jenseits (2010) bei, der sich Yvonne Nilges zuwendet. Walsers Hauptprotagonist Augustin Feinlein ist Psychiatrie-Professor, will aber Mesner werden. Er sucht Gott in den Reliquien, nicht in der Religion. Walser erzählt von einem entlaufenen Glaubensmutbürger und postfaktischen Jenseitssucher, der seine Transzendenzsehnsucht mit Friedrich Nietzsche einkleidet: das Dasein der Welt sei nur „als ästhetisches Phänomen“ gerechtfertigt, und Glauben heiße, „die Welt so schön zu machen, wie sie nicht ist.“ (Bei Nietzsche heißt es, dass die Wahrheit hässlich ist und wir insofern die Kunst brauchen, um nicht an der Wahrheit zugrunde zu gehen.)

Der Band zeigt den Wandel der Jenseitsvorstellung in der Gegenwartsliteratur: Das Jenseits tritt als ‚unnatürlicher‘ Zeitraum auf, es erscheint ins Diesseits verschoben, es ist kein Container für Religiosität, sondern – im Zuge des spatial turn der Kulturwissenschaften – Wahrnehmungsraum, Konstruktion und Repräsentation von Metaphysischem. Das freilich gilt es weiter auszufalten in einer postmodernen Geografie des Jenseits. Der Sammelband liefert dafür wertvolle Bausteine.

Titelbild

Isabelle Stauffer (Hg.): Jenseitserzählungen in der Gegenwartsliteratur.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2018.
373 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783825369095

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