Der Titelheld als Marke

Vor 300 Jahren erschien Daniel Defoes „Robinson Crusoe“

Von Rolf SchönlauRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Schönlau

You know Moby-Dick before you know it“, schreibt Jonathan Lethem über Herman Melvilles weltberühmten Roman. Das gilt auch für Daniel Defoes Weltbestseller Robinson Crusoe: Man kennt ihn, bevor man ihn kennt.

Die steile Karriere des Titelhelden begann gleich im Erscheinungsjahr 1719. Nach der Erstveröffentlichung von The Life and Strange Surprising Adventures of Robinson Crusoe of York, Mariner am 25. April ging das Buch bereits am 7. August in die vierte Auflage; einen Tag zuvor war eine unautorisierte Kurzfassung auf den Markt geworfen worden. Schon am 20. August erschien der Fortsetzungsband The Further Adventures of Robinson Crusoe.

Noch im selben Jahr hatte Robinson seinen ersten Auftritt außerhalb der Romanhandlung. Charles Gildon, in der Literaturgeschichte häufig als hack writer, also Lohnschreiber abqualifiziert, veröffentlichte – 200 Jahre vor Luigi Pirandello! – ein Dramolett, in dem Crusoe und Freitag ihren Autor zur Rede stellen. Gildons Büchlein ist Defoes Roman im Titel exakt nachgebildet: The Life and Strange Surprising Adventures of Mr. D… De F… of London, Hosier. Die Berufsbezeichnung „Strumpfmacher“ war selbstverständlich herabsetzend gemeint, auch wenn Defoe zu Beginn seiner Kaufmannslaufbahn tatsächlich mit Strumpfwaren gehandelt hatte.

Den Schritt zur Markenwerdung machte Robinson Crusoe als Namensgeber des literarischen Genres der Robinsonaden, die im Anschluss an die französische und deutsche Übersetzung von 1720 überall in Europa auf den Markt kamen. Nach dem Schema „Schiffbrüchiger strandet auf einsamer Insel“ erschienen 1721 der holländische, 1722 der italienische, 1723 der französische, sächsische, schlesische und geistliche, 1724 der moralische und raisonnierende, 1726 der spanische sowie 1732 der medizinische Robinson, letzterer selbstverständlich mit einem Arzt als Gestrandeten. Am bekanntesten ist die deutsche Robinsonade, ab 1731 in vier Teilen von Johann Gottlieb Schnabel veröffentlicht, 1828 von Ludwig Tieck bearbeitet und mit dem Titel Die Insel Felsenburg versehen.

Kaum war die Robinson-Begeisterung zur Mitte des 18. Jahrhunderts ein wenig abgeflaut, verlieh ihr Jean-Jacques Rousseau 1762 neuen Schwung. In Émile oder Über die Erziehung gab er seinem Zögling als einziges Buch Robinson Crusoe zu lesen, allerdings nicht den ganzen Roman, sondern nur die von allem unnötigen Beiwerk entschlackte Inselepisode. Am Beispiel von Defoes Helden, der sich vom Palisadenzaun bis zum Suppenlöffel alles selbst anfertigen müsse, reife der Heranwachsende bei der Lektüre zum „natürlichen Menschen“ heran. Schon auf dem Frontispiz der französischen Erstausgabe war der Titelheld nicht, wie bei der englischen, als Abenteurer mit Gewehren und Säbel dargestellt, sondern als Handwerker mit Säge und Axt.

Rousseau bereitete den Weg für den Robinson Crusoe als Jugendbuch. Im deutschsprachigen Raum stutze Joachim Heinrich Campe den Roman auf Kindertauglichkeit zurecht und erzielte mit seinem zweibändigen Robinson der Jüngere von 1779/80 einen Bestseller, der bis Ende des 19. Jahrhundert auf über 100 Auflagen kam. Der Schweizerische Robinson des Johann David Wyss von 1812, in dem gleich eine ganze Familie auf eine Insel verschlagen wird, inspirierte Jules Verne zu mehreren Variationen des Themas: Onkel Robinson von 1871, Die Schule der Robinsons von 1882 und Zwei Jahre Ferien, auch Ein Pensionat von Robinson genannt, von 1888.

Die Marke hatte sich längst aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gelöst, als Robinson im 20. Jahrhundert mit Comic, Film und Fernsehen die visuellen Medien eroberte. Heute verläuft der Erstkontakt über Lego- und Playmobilfiguren. Der Familienurlaub im Robinson-Club steht für Abenteuer und das Etikett auf der Flasche Robinson-Rum erzählt, dass schon Defoes Schiffbrüchiger ein Fässchen davon aus dem Schiffswrack rettete. Mit der Robinson-Crusoe-Wirtschaft als vereinfachtem ökonomischen Modell mit erst nur einem und dann zwei Produzenten und Konsumenten hat Robinson schließlich auch in die Volkswirtschaftslehre Einzug gehalten.

Dass Robinson Crusoe als ökonomische Parabel, realistisch erzählte Abenteuergeschichte, Erziehungsroman, spirituelle Autobiografie oder als Selbstreflexion des aufstrebenden Bürgertums gelesen werden kann, spricht für die Vielschichtigkeit von Defoes Weltbestseller. Grund genug, den Roman zum 300. Jubiläum seiner Erstveröffentlichung (wieder) zur Hand zu nehmen, sei es in Hannelore Nowaks ungekürzter Übersetzung von 1968 im Insel Verlag, Lore Krügers von 1973 im Aufbau Verlag oder Martin Schoskes von 1995 im Fischer Verlag. Ein Digitalisat der Erstausgabe von 1719 stellt die Bodleian Library der Universität Oxford zur Verfügung.