Patriotismus als lebendiges Verantwortungsgefühl
Mit seinen kritischen „Gedanken eines Moskauer Dissidenten“ meldet sich der russische Historiker und Soziologe Igor Tschubais in pointierter Weise zu Wort
Von Volker Strebel
In der spannenden Lebensbiografie von Hermann und Gerda Weber Leben nach dem „Prinzip links“ (2006) wird ein bissiges Bonmot angeführt: „Frage: ‚Was ist im stalinistischen Kommunismus am schwersten vorherzusehen?‘ – Antwort: ‚Dessen eigene Vergangenheit‘.“ Die beiden haben in ihren Erinnerungen an ein kämpferisches Leben die schamlose Fälschung als ein Strukturmerkmal der Geschichtsschreibung der Länder des „real existierenden Sozialismus“ aufgedeckt.
Der russische Historiker Igor Tschubais belegt in Das andere Russland die bis in die heutige Gegenwart hinein anhaltende Vergiftung des historischen Gedächtnisses in Russland. Die ideologische Saat aus den Jahrzehnten der sowjetischen Herrschaft ist nach dem Zerfall des Imperiums zu Beginn der 1990er Jahre aufgegangen. Im heutigen Russland leben sowjetische Stereotypen unter dem Deckmäntelchen eines vorgeblich vaterländischen Russlands weiter.
Stellvertretend skizziert Tschubais die in jüngster Zeit verstärkt betriebene Instrumentalisierung des historischen Sieges der Roten Armee „über den Faschismus“. Dabei werden Fakten und Zahlen bis heute nicht objektiv belegt, sondern historische Vorgänge einer politischen Deutung untergeordnet. Völlig aus dem Blick geraten dabei verheerende Fehlentscheidungen Josef Stalins und seiner militärischen Führer, die „jeden fünften seiner Landsleute“ das Leben gekostet hatten. Es ist Tschubais’ Patriotismus, der ihn provokativ nachhaken lässt: „Müßte man nicht alle Generale und Offiziere dieses Krieges degradieren, und müßte man ihnen nicht, außer den einfachen Soldaten, ihre Kriegsauszeichnungen wegnehmen?“
In seinen Gedanken eines Moskauer Dissidenten widmet er sich neben dem „Mythos vom Großen Sieg“ auch weiteren Auswirkungen der nicht aufgearbeiteten sowjetischen Geschichte auf die aktuelle gesellschaftliche Wirklichkeit. In seinen kritischen Beiträgen umkreist Tschubais zwei Schwerpunkte. Neben einer dringend gebotenen Entmythologisierung der „Postsowjetischen Realität“ mahnt er eine „notwendige Entsowjetisierung“ als mentale, politische und strukturelle Entschlackung an. Tschubais weiß, dass es „bittere Wahrheiten“ sind, die im Interesse der eigenen Gesundung zur Kenntnis genommen werden müssen.
Nach einer von Michail Gorbatschow in den späten 1980er Jahren proklamierten Phase der „Glasnost“ (Offenheit) hatten erstmals in offiziellen Medien lebhafte Diskussionen über die Schattenseiten der Sowjetunion stattgefunden. Es schien, als würde fortan die Formel „Die Wahrheit ist unsere Stärke“ des sowjetischen Dissidenten und Stalinismus-Kritikers Roy Medwedjew beherzigt werden.
Im Zuge der neoimperialen Restauration der vergangenen Jahre, die nicht zuletzt durch die Auswüchse einer wilden Systemumwandlung ihre Legitimation bezog, kann eine schleichende Rehabilitierung der sowjetischen Jahrzehnte festgestellt werden. Im heutigen Russland haben sich wieder die altbekannten Reflexe aus der Zeit des Kalten Kriegs breit gemacht: Gelenkte Informationen in staatlichen Medien, eine schier unbegrenzte Korruption oder auch eine bereits in den Schulen um sich greifende Militarisierung kennzeichnen das gesellschaftliche Klima. In den Verlautbarungen finden sich wieder die aus der Zeit des Stalinismus herrührenden Verunglimpfungen gegen „Schädlinge“, Verräter“ und „Volksfeinde“, wenn abweichende oder gar oppositionelle Positionen gebrandmarkt werden sollen. Keine große Überraschung, wenn man die politische Sozialisation der herrschenden Klasse in Betracht zieht. Ein offener Diskurs findet allenfalls in kleinen Akademiker-Zirkeln oder in den legendären Küchengesprächen statt.
Wie bereits in Zeiten des Kalten Krieges ist es auch heute wieder von eminenter Bedeutung, Informationen über Russland aus glaubwürdigen Quellen zu erhalten. Angepasste Mitläufer und gut bezahlte Putin-Lobbyisten, die sich in Europa bezeichnenderweise mit Vorliebe in links- oder auch rechtsextremen Plattformen zu Wort melden, erfüllen ihre Aufgabe als Patrioten auch dann nicht, wenn sie diesen Anspruch lautstark für sich einfordern.
Tschubajs ist ein regierungskritischer Historiker und war 15 Jahre lang Leiter des Zentrums für Russland-Studien der Russischen Universität der Völkerfreundschaft in Moskau. Sämtliche Artikel dieses Bändchens waren ursprünglich auf der Internetseite des Senders Moskauer Echo verbreitet, einem der wenigen noch verbliebenen unabhängigen Portale in Russland.
Ausdrücklich hervorzuheben ist für die vorliegende Übersetzung das behutsame Vorgehen Dietrich Keglers, der so manchen Schlüsselbegriff aus der russischen Zeit- und Kulturgeschichte in einer Fußnote wie auch in einem kurzen Nachwort kritisch erläutert. In einer einleitenden Hinführung „An den deutschen Leser“ sowie in einem abgedruckten Brief an Kegler erläutert Tschubais sein Anliegen einer historischen Bilanzierung der Geschichte seines Landes: „Auch heute wird in Russland der Patriotismus als Liebe zur Macht gefördert und nicht als lebendiges Verantwortungsgefühl für die eigene Geschichte, Kultur, Sprache und das Land“.
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