1046: Finis.

„Aber du bist nicht tot“ – Zum 30. Todestag von Hermann Burger und über sein Gedicht „Worte“

Von Ulrike SteierwaldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Steierwald

Vorbemerkung der Redaktion: Am 28. Februar 2019 jährt sich der Todestag des Schweizer Autors Hermann Burger zum dreißigsten Mal. Ulrike Steierwald nahm dies in der Vorlesungsreihe „10 Minuten Lyrik. Der Dichtung eine Gasse“ der Leuphana Universität Lüneburg zum Anlass, Burger mit dessen eigenen  „Worten“ und in der ihm eigenen logischen Konsequenz zu antworten: „Aber du bist nicht tot.“[1]
Der Beitrag liegt auch als Hördokument vor: https://www.youtube.com/watch?v=rx_4tUlnupI.

Als ich gefragt wurde, ob ich in der Reihe „10 Minuten Lyrik. Der Dichtung eine Gasse“ wieder mit von der Partie sein könne – es wäre allerdings mit dem 30. Januar ein sehr später Semestertermin – schlug ich sofort ein; denn ich war mir gleich der Chancen und Risiken bewusst, hier ein kleines Finale zu gestalten. Und so soll es heute mit Hermann Burgers Gedicht Worte[2] um eines meiner ultimativen Lieblingsgedichte gehen. Denn wenn eine Aussage über die so schwer zu definierende Lyrik letztgültig und nicht zu widerlegen ist, dann doch wohl die, dass es sich um die klanglich-textuelle Form und Struktur der Sprache, also um „Worte“, handelt.

Jan Wagner bekannte neulich, seine Lieblingsgedichte seien diejenigen, die er in  jungen Jahren entdeckt habe und seitdem mit sich herumtrage; und er würde sie auch mit 80 Jahren – falls er dann noch lesen könne – wieder und wieder, aber wieder und wieder anders lesen. Dies mache Gedichte ja aus, dass sie nie ausgelesen seien.[3] Ich sage, es macht die Liebe zur Dichtung und gerade zur Lyrik aus, dass man sich selbst immer erneut in ein Verhältnis, in eine Beziehung, zu ihr setzen kann und einige Gedichte dann zu Lebensbegleitern, zu Lebenstexten, werden.

Früher hätte ich hier in diesem Rahmen nie eines meiner Lieblings- und Liebesgedichte aus der Sammlung „Rauchsignale“ des Schweizer Autors Hermann Burger öffentlich gemacht und damit zum Besten gegeben. Ich las den Gedichtband eines im Erscheinungsjahr 1967 erst 25 Jahre alten Dichters und Germanistik-Studenten zum ersten Mal Ende der achtziger Jahre, als ich noch glaubte, es gäbe Texte, die man sich nur und ausschließlich für den Geliebten aufbewahrt. Aber heute lehre ich Literatur, stelle also den Anspruch, öffentlich über literarische Texte sprechen zu können, und es wäre fatal, wenn ich hier meine inzwischen stattlich angewachsene Zahl von Lebenstexten außen vor halten wollte.

Daher jetzt das Gedicht. Ich hoffe, es wird gleich sichtbar, dass ich eigentlich schon in den ersten drei der zehn Minuten versucht habe, etwas über es auszusagen.

WORTE

Worte,
Steine im Brett,
fügbar zu jeder Figur,
schwarz weiß schwarz,
fügbar zu Fuge und Gitter,
zu Muster und Klang.

Welches Wort aber beschwört
den Schattentanz an der Wand,
schürt das Flammenbündel im Aug,
und welches Wort läßt die
Silbertonreihe erklingen
im Unterwassergarten?

Worte,
Steine in der Hand,
Wasser zu treffen, Schatten und Flamme.
Graues zuckt auf, lächelnd
weiten sich Ringelblumen und Augen
im Gitter meiner Worte,
schwarz weiß auf Schweigegrund.

1989, zur Zeit meiner Erstlektüre, nahm sich Hermann Burger im 47. Jahr das Leben. Er war so alt wie Jan Wagner heute. Damals kannte ich Burger noch nicht als Autor des Tractatus logico-suicidalis, in dem er sich in 1046 sogenannten „Mortologismen“[4] einer „Totologie“[5]und in sprachlich radikaler Konsequenz dem Gesetz der Logik widmet, dass sich das menschliche Leben immer schon in einer Selbstausrichtung zum Tod hin befindet. Ich kannte nicht seine manisch ausufernden, von tiefstem Witz und ironisch-grotesken Sprachspielen durchdrungenen Prosatexte oder seine exhibitionistischen Selbstinszenierungen als Zauberkünstler oder Ferrari-Fahrer in Rot. Burger war ein auf Volksbühnen der Schweizer Berge tanzender, politisch-apolitischer Artist. Seine drei großen Romane Schilten, Die Künstliche Mutter und Brenner sind sprachlich von souveräner Leichtigkeit, heiterer Groteske wie auch immer massiver werdender Atemlosigkeit und Verzweiflung geprägt.

Demgegenüber könnte man die Gedichte der Rauchsignale als typisches Frühwerk mit epigonalen Zügen einordnen, denn hier kommen unüberlesbar literarische Vorgänger/innen zur Sprache, und die Formgebung im sprachlichen Kunstwerk scheint auf den ersten Blick vielleicht sogar konservative Züge zu tragen. Hermann Burger war schließlich Student eines eher humorfreien und tänzerisch unbegabten Emil Staiger an der Universität Zürich der frühen 1960er Jahre. Burgers Ironie und sein sehr klarer Realitätssinn, die die Sprachkunst seines Gesamtwerks durchziehen, sprechen jedoch gegen eine solche Einordnung. Mit Ernst Jandl formuliert Burger die relationale Grundkonstellation des „Schreibend-Seins“ als eine „Lebenshaltung“[6]:Fiktion ist immer Opposition zum Bestehenden. […] Indem Literatur vorspiegelt, was sein könnte, setzt sie sich indirekt mit dem auseinander, was ist. Die Geschichten, die ich erzähle, sind Alternativenergien meines Lebens. Ein leidenschaftlicher Leser bin ich nicht zuletzt deshalb, um an solchen Alternativenergien teilzuhaben.“[7]

Eine Alternativenergie setzt sich in diesem Gedicht in einem sicht- und hörbaren Dreischritt frei: Die den Sehsinn weitende Logik der Strophenabfolge ist ganz pragmatisch und analytisch-konsequent zu lesen: Die sprachliche Projektion geht aus von den Worten als Steinen in der Formation eines schwarz-weißen Schachbrettmusters, das in der figurativen Darstellung von Schattentanz, Flammenbündel und Tonreihe versagen muss. Schließlich sind die Aggregatzustände der Verflüchtigung von Wasser, Flamme und Schatten nicht als Manifestationen zu haben. Sie sind also auch nicht mit dem Stein in der Hand und ihrem etwas treffen wollenden Gestus zu fassen. Es geschieht im dritten Schritt die Rückführung in das festförmige, unbewegte Sprachgitter des Schwarz/Weiß, in das Schwarz auf Weiß des Textes, das seinen Grund bzw. Abgrund allein im Schweigen hat.

Ich weiß nicht mehr, ob ich das Gedicht vor 30 Jahren auch so las; ich denke, eher nicht. Aber auf jeden Fall konnte ich schon das Durchschimmern anderer Gedichte und Alternativenergien erkennen, und zwar von Burgers eigenen Lieblingstexten von Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Denn ich hatte in meiner Abiturrede – sehr mutig, würde ich heute sagen – über Bachmanns Gedichtsammlung Anrufung des Großen Bären gesprochen, und Celans Lyrikband Atemwende war längst in meinem Reisegepäck. Dieser Band war übrigens auch 1967 erschienen, Paul Celan war damals 47 Jahre alt; er nahm sich drei Jahre später das Leben. Ingeborg Bachmann starb im Alter von 47 Jahren durch Selbsttötung in Rom.

Was diese drei Autoren miteinander verbindet, sind die sie sowohl überleben als auch sterben lassenden Alternativenergien einer beim Wort genommenen Sprache des Möglichen. Dies konnte ich damals bereits lesend erfahren und verstehen, auch ohne zu wissen, dass Burger 1973 mit der Arbeit Auf der Suche nach der verlorenen Sprache über Paul Celan promovieren und 1978 Ingeborg Bachmann postum einen Essay unter dem Titel Undine bleibt widmen sollte. Dieser Essay ist eine Antwort auf Bachmanns Erzählung Undine geht. Auch die Undine ist ja eine nicht zu fassende, liquide Figur des Schönen, also eine Figuration der Fiktion der Liebe. Der Allegorie der flüchtigen mythologischen Gestalt der Wassernymphe, deren Terrain im „Unterwassergarten“ des Gedichtes Worte auftaucht, hat Burger in den Rauchsignalen ein weiteres Gedicht gewidmet, das mit „dein Wort, Undine, / Wasser, das dir entströmt, / die Liebe, / komm“[8] endet. Und schließlich ist Burgers Bildbegriff „Gitter meiner Worte“ ohne Paul Celans Gedicht Sprachgitter aus der gleichnamigen Anthologie von 1959 kaum zu denken.

In den unübersehbaren Anklängen und Gleichklängen der drei Werke geht es weder um Vorbildfunktionen oder Adaptionen, auch nicht um Harold Blooms Einverleibungen aus Einflussangst.[9] Vielmehr setzen sie sich zueinander immer wieder und wieder anders in Beziehung – also wenn Sie so wollen, in eine Liebesbeziehung. In diesem Sinne hier abschließend noch Anfangs- und Schlussstrophe des ersten Gedichts der Rauchsignale, überschrieben mit Der stumme Bruder:

Noch muß ich einen Bruder haben,
der kommt mir entgegen
auf einer verschatteten Straße,
irgendwo in einem Sommer,
irgendwo in einem grünen Land,
ohne Sprache, nackt,
mit verdunkelten Brillengläsern
und die behaarten Arme
von Zornesgebärden erschlafft. […]

Mein Bruder, mein Gegenblut,
mir ins Fleisch geschrieben,
als wir wie eine Münze hart
in diese Welt geworfen wurden,
lag dein Gesicht unten.
Aber du bist nicht tot.

Was also sind Gedichte? In unserem kleinen Finale antworte ich schlicht und einfach, nämlich liebend, und bin daher – wie alle Liebenden – nicht zu widerlegen:

Es sind Worte.

 

Anmerkungen

[1] Hermann Burger: Der stumme Bruder. In: ders.: Rauchsignale. Gedichte. Zürich und Stuttgart: Artemis 1967, S. 8.

[2] Hermann Burger: Worte. In: ders.: Rauchsignale. Gedichte, a.a.O. S. 28.

[3] „Die Live Butterfly Show!“ Katharina Borchardt im Gespräch mit Jan Wagner (Aufzeichnung vom 7. November 2018 aus dem Literaturhaus Stuttgart), SWR 2 Lesenswert, 15.1.2019.

[4] Hermann Burger: Tractatus logico-suicidalis Nr. 631, In: ders.: Werke in acht Bänden, hrsg. von Simon Zumsteg. München: Nagel & Kimche 2014, Band 8, S. 155-330, hier S. 264.

[5] Ebda, S. 168. Nr. 4: „Totologie nennen wir die Lehre und Philosophie von der totalen Vorherrschaft des Todes über das Leben.“

[6] Vgl. Hermann Burger: Schreiben als Existenzform. Aargauer Literaturpreis-Rede. In: ders.: Werke in acht Bänden, a.a.O, Band 8, S. 55-64, hier S. 55.

[7] Ebda, S. 56.

[8] Hermann Burger: Undine. In: ders.: Rauchsignale. Gedichte, a.a.O., S. 13.

[9] Vgl. Harold Bloom:The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry. New York: Oxford Univ. Press, 1973.