Gegen den Zeitgeist des Ungefähren
Hans-Peter Schwarzʼ Lebenserinnerungen zeichnen sich durch Mut zur Provokation und Witz aus, neigen aber an einigen Stellen zur Langatmigkeit
Von Günther Rüther
Ein knappes Jahr nach dem unerwarteten Tod des angesehenen und über sein Fach hinaus geschätzten Politikwissenschaftlers Hans-Peter Schwarz erscheinen seine Lebenserinnerungen Von Adenauer zu Merkel, bei denen bereits im Untertitel darauf hingewiesen wird, dass es sich dabei um die Erinnerungen eines kritischen Zeitzeugen handeln würde. Diesem Anspruch wird das Buch gerecht. Der Autor knüpft damit an die Reihe seiner zahlreichen Publikationen an, die er zur Bonner Republik, zur Ära Adenauer und zu den Regierungen Kohl und Merkel geschrieben hatte. In seiner letzten großen Studie setzte er sich unter dem Titel Die neue Völkerwanderung nach Europa. Über den Verlust politischer Kontrolle und moralischer Gewissheiten (2017) ebenso kritisch wie pointiert mit der „Flüchtlings- und Migrationspolitik“ unserer Tage auseinander.
Schwarz war nicht nur ein gefragter und gern gelesener Sachbuchautor, er wusste auch als Kolumnist und Interview-Partner zu brillieren. Er gehörte zu den herausragenden Politikwissenschaftlern unserer Zeit. Als er im Juni 2017 bei München verstarb, hinterließ er ein beachtliches Werk, das in seiner Zunft seinesgleichen sucht. Herauszuheben sind seine großen Biografien, seine glänzenden Studien zur Außen- und Sicherheitspolitik sowie seine Betrachtungen zur Zeitgeschichte, die aktuellen Problemen nicht auswichen, sondern zuspitzten und als Nährboden für weitergehende Auseinandersetzungen Mut machten. Hier wie auch in anderen Fällen erwies sich Schwarz als Überzeugungstäter, als Mann der spitzen Feder, der beim Namen nennt, was seiner Meinung nach falsch läuft in der Republik. Er sparte bei seiner Würdigung der historischen Leistungen der politischen Riesen Adenauer und Kohl nicht mit Kritik, die allerdings bei Kohl viel heftiger ausfiel als bei Adenauer. An Kohl rügte er seinen autokratischen, teils selbstgefälligen und selbstverliebten Führungsstil und die seiner Meinung nach nicht zu Ende gedachte Europapolitik. In der Wirtschafts- und Währungsunion erkannte er eine Fehlentwicklung, die Europa mehr spalte als einige.
Schwarz war ein unabhängiger Geist, der sich von der gesuchten Nähe zu den Mächtigen seiner Zeit nicht einwickeln ließ, sondern stets klar und unmissverständlich Stellung bezog. Da er auch gerne weiterhin „bei Hofe“ Zutritt erhalten wollte, ging er in seiner Kritik weit, aber nie so weit, dass er das Tischtuch zerschnitt. Insofern übte er sich in der Kunst des Möglichen, wie es die Spitzenpolitiker bis heute tun. Als liberal-konservativer Wissenschaftler, der im Badischen heranwuchs und in Basel und Freiburg studierte, wusste er Lebensart und Fleiß so miteinander zu verbinden, dass beide Seiten des Lebens zu ihrem Recht kamen.
Seine nun postum erschienenen Lebenserinnerungen Von Adenauer zu Merkel können als Beleg dafür genommen werden. Doch um es gleich vorweg zu sagen: Sie erreichen nicht die Tiefe, Dichte und Überzeugungskraft seiner früheren Werke. Dafür gibt es mehrere Gründe. Einer liegt sicherlich darin, dass er das Buch zunächst nicht für eine Veröffentlichung geplant hatte. Es sollte seiner Familie dienen, über sein Leben berichten und seine Einsichten und Ansichten erklären. Dieser konzeptionelle Ansatz, Persönliches, Familiäres, Fachwissenschaftliches und Zeitgeschichtliches zwischen zwei Buchdeckeln zusammenzubringen, glückte nicht wirklich, auch wenn der Autor das zuvor noch wesentlich umfangreichere Manuskript kräftig zusammenstrich. In der nun vorliegenden Form entspricht das Buch, wie der Herausgeber Hans Jürgen Küsters betont, bis auf die üblichen Lektoren- und Korrekturarbeiten der von Schwarz durchgesehenen Manuskriptfassung. Dennoch bleiben dem Rezensenten Zweifel, ob er es wirklich in dieser Form zum Druck frei gegeben hätte. Denn das Buch entspricht über weite Strecken nicht seiner auf den Punkt kommenden Schreibweise. Manche Passagen geraten allzu langatmig. Für Zeitgenossen, die Hans-Peter Schwarz auf diese oder jene Weise verbunden gewesen sind, die eine gemeinsame Strecke mit ihm als Wissenschaftler, Wegbegleiter oder auch nur als interessierte Leser seiner Werke und kritische Beobachter des Zeitgeschehens gegangen sind, entpuppen sich seine Erinnerungen als Fundgrube über die Schwächen und Stärken kleiner und großer Leute. Dabei fällt auch manches Mal ein Schatten auf den Autor selbst, wenn sich eine gewisse Selbstgefälligkeit offenbart.
Nun zur Kritik an der konzeptionellen Anlage des Buches. Der Autor beabsichtigt, die Zeitgeschichte von Adenauer bis zu Merkel auszuleuchten. Dies legt der Titel nahe; im Wesentlichen geht es aber um die Regierungsjahre von Adenauer und Kohl. Die Betrachtung der sozialdemokratischen Kanzler Brandt, Schmidt und Schröder findet nicht in gleicher Weise statt. Hier schlägt der langjährige Forschungsschwerpunkt des Autors durch, der sich stets mehr der Politik der Unionsparteien verbunden wusste als der Sozialdemokratie oder gar den Grünen. In der rot-grünen Regierung entdeckte er das philiströse Abbild der Spaßgesellschaft zur Jahrtausendwende. Deren moralisch begründete globalen Einsätze der Bundeswehr erinnerten ihn an die hohlen aber lauten Worte Wilhelms II. Eine moralisch aufgeladene, statt von den Notwendigkeiten ausgehende Politik zu betreiben, wirft er auch der gegenwärtigen Kanzlerin Angela Merkel vor. Wohl nicht zu Unrecht sieht er ihr Politikverständnis in der Tradition von Rot-Grün. Allerdings kritisiert er an Merkels Politik einen Mangel an Konsequenz und Reformbereitschaft, die ihr Vorgänger Gerhard Schröder gegen heftige innerparteiliche Widerstände aufbrachte. Es ist schon fast vergessen, dass dieser nach der Wahlniederlage seiner Partei in Nordrhein-Westfalen seine demokratische Legitimation in Frage stellte und Neuwahlen herbeiführte. Die teilweise krachenden Wahlniederlagen der CDU während der Kanzlerschaft von Merkel hinterließen offensichtlich keine ähnliche Wirkung. Die Öffentlichkeit und die Unionsparteien nehmen es vielmehr als gegeben hin, dass sie bis zum Ende der Legislaturperiode im Amt bleibt, da sie nun einmal gewählt sei und es so will. Welch ein kultureller Wandel binnen weniger Jahre.
Merkel zählte nicht zu Schwarzʼ „Favoritinnen“, obwohl er es sicherlich begrüßt hat, dass erstmals mit ihr eine Frau an der Spitze unseres Staates steht. Seine Kritik gründet auf ihrem Nebel umwobenen Politikverständnis, das keine klare Position in zentralen Fragen der Innen- und Außenpolitik erkennen lässt. Ihre Politik erscheint ihm offenkundig eher als „Fähnchen im Wind“ denn als „Wegweiser in die Zukunft“. Er hält ihr unter anderem vor, in der Flüchtlingskrise jämmerlich versagt zu haben und „die Inkarnation des Nanny State“ zu verkörpern. Dabei nennt er sie in einem Atemzug mit so schillernden Gestalten wie Borris Johnson, Geert Wilders, Alexander Gauland und Beppo Grillo. Möglicherweise geschieht dies, um anzudeuten, dass sie ihre Politik für ebenso alternativlos hält wie jene. Aber auch den Unionsparteien und den Medien wirft er vor, ihrer Politik nahezu Gott ergeben zu folgen. Überall herrsche nur das Schweigen der Lämmer. Ob sich an diesem harschen Urteil etwas mit der Niederlegung des Parteivorsitzes und der Kür von Annegret Kramp-Karrenbauer als Nachfolgerin und potenzielle Kanzlerin geändert hätte, darf bezweifelt werden. Offenbaren sich in diesem Verfahren Züge einer „Monarchie-Demokratie“?
Schwarz hatte über Jahrzehnte Zugang zu den inneren Zirkeln der Macht. Mit Angela Merkel saß er bis zu seinem Tod im Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung. Er konnte die Politiker-Persönlichkeiten wie nur wenige andere studieren und analysieren. Er wusste, wie politische Entscheidungsprozesse ablaufen und welche persönlichen Komponenten dabei eine Rolle spielen. Eine Stärke des Buches liegt gerade in diesen Studien. Ob dabei immer der Geist der Wissenschaft weht, darf bezweifelt werden. Aber es tut gerade in unseren lauen Zeiten des grünen Mainstreams gut, wenn ein Autor den Mut aufbringt, gegen den Zeitgeist Stellung zu beziehen und dabei die handelnden Akteure einbezieht.
Vor diesem Hintergrund erscheint es nur konsequent, dass Schwarz seine eigene Urteilskraft kritisch hinterfragt und vor dem Leser ausbreitet, wo er sich geirrt und wo er nach Lage der Dinge recht behalten hat. Dass seltener Irrtümer eingestanden als richtige Vorhersagen bestätigt werden, liegt in der Natur des Menschen. Aber immerhin findet eine solche kritische Selbstbetrachtung statt.
Die bereits erwähnte Langatmigkeit der Autobiografie entsteht dadurch, dass der Autor immer wieder Passagen einstreut, die für ihn selbst von Bedeutung gewesen sein mögen, die aber den Leser im Grunde nicht interessieren. Zu denken ist dabei an seine Kindheitserinnerungen, an die Schule und seine ehemaligen Lehrer. Hier verlassen die Lebenserinnerungen die Sphäre des Politischen und begeben sich in die Welt des Privaten. Dies gilt ebenso für die eingestreuten Berichte über bedeutende Familienereignisse, die in einer zeitgeschichtlichen Studie fehl am Platze sind.
Ermüdend wirkt auf den Leser auch die mehrseitige Darlegung früherer Vorlesungskonzepte, deren Systematik zwar bestechend ist, die ihren Reiz aber dadurch verloren haben, weil die Zeit darüber hinweggegangen ist. Selbst für Fachwissenschaftler sind sie nur noch von geringem Interesse. Bemerkenswert ist demgegenüber die Ausbreitung des wissenschaftlichen Netzwerkes, in dem sich Schwarz bewegte. Hier erfährt der Leser, wie der Wissenschaftsbetrieb schon vor Jahrzehnten funktionierte und wie Kontakte und Freundschaften Karrieren auf die Sprünge helfen und wohlwollende Buchrezensionen beflügeln.
Der Herausgeber Hanns-Jürgen Küsters, ein Meisterschüler von Schwarz, wäre gut beraten gewesen, die Längen des Buches einzudämmen. Dies hätte der Stringenz des Werkes gedient und den Leser erfreut. Vielleicht sprachen der Respekt vor der Familie und vor dem Autor dagegen. Verdienstvoll ist es gewiss, ein Verzeichnis aller Veröffentlichungen des Autors zu erstellen. Der Verzicht auf ein Personenverzeichnis wiegt allerdings schwer, weil das Buch ja auch ein Nachschlagewerk darstellt. Zudem hätte ein sorgfältigeres Lektorat nicht geschadet.
Fassen wir zusammen: Schwarzʼ Lebenserinnerungen spannen einen weiten Bogen von der Kriegszeit bis in die jüngste Gegenwart. Die Darstellung fügt Erinnerungen zusammen, die für den Leser von sehr unterschiedlichem Interesse sind, da sie Privates und Öffentliches verbinden. Dennoch lohnt es sich, das Buch zu studieren, weil es zum Widerspruch aufruft und gegen den Zeitgeist des Ungefähren Stellung bezieht.
![]() | ||
|
||
![]() |