Die Rache des verlorenen Sohnes

Édouard Louis’ „Wer hat meinen Vater umgebracht“ hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck

Von Tobias SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer hat meinen Vater umgebracht „folgt nicht den Erfordernissen der Literatur, sondern der Notwendigkeit, der Dringlichkeit, denen des Feuers“, schreibt Édouard Louis schon ziemlich am Anfang seines neuen Buches, das in Frankreich seit seinem Erscheinen im Frühjahr 2018 zu einem Bestseller avancierte. Seit einigen Wochen wird der Text zudem als Schlüsseltext gelesen, mit dem sich das Phänomen der Gelbwesten zumindest ansatzweise erklären und verstehen lasse. Louis spielt von Anfang an mit offenen Karten, er stellt sein Anliegen, das Versagen der politischen Elite anzuklagen, plakativ heraus. Ehrlich und authentisch ist dieser Text und kann deshalb zusammen mit seinen beiden Vorgängern Das Ende von Eddy und Im Herzen der Gewalt als möglicher Abschluss einer autobiografisch grundierten Trilogie gelten.

Ähnlich wie Édouard Louis’ andere Bücher fokussiert Wer hat meinen Vater umgebracht radikal auf die Biografie des Autors. Im Erstling war es das Leben des Jungen Eddy Bellegueulle (Louis’ mittlerweile abgelegter Geburtsname), der gefangen war zwischen einer starren Geschlechterordnung, dem Entdecken der eigenen Homosexualität und dem Wunsch, als Individuum akzeptiert zu sein, bis es zum Bruch mit dem Herkunftsmilieu kommt. Im Herzen der Gewalt ist eine Feier alternativer Familienbande vor dem tragischen Hintergrund der Vergewaltigung des Autors durch eine flüchtige Bekanntschaft. Freunde sind dem Autor wichtiger geworden als die Familie, gerade weil sie eine selbstgewählte Verwandtschaft sind. Wer hat meinen Vater umgebracht schließlich kehrt zur Herkunftsfamilie zurück und berichtet in offener Form von der Annäherung und Aussöhnung zwischen Vater und Sohn, oft mit überraschenden und zu Herzen gehenden Offenbarungen des Vaters, den man aus dem Debütroman noch als abweisenden, homophoben und emotional kalten Menschen in Erinnerung hat. Hier schließt sich der Kreis, der mit Das Ende von Eddy begann.

Für den Sohn ist der Vater ein lebender Toter, die noch lebende Ruine eines durch neoliberale, radikalkapitalistische Reformen geschundenen Körpers. Édouard Louis benutzt die Biografie seines Vaters, um seine Gesellschafts- und Kapitalismuskritik zu beglaubigen. Denn darum geht es dem Buch vor allem: die französische Gesellschaft mit den sozialen Verwerfungen, die das Land immer noch in eine Klassengesellschaft spalten, zu konfrontieren. Dass es dem Autor dabei nicht um eine differenzierende Beschreibung geht, macht schon der Titel deutlich. Wer hat meinen Vater umgebracht kommt zwar wie eine Frage daher, ist aber keine, weil das Fragezeichen fehlt. Der Text möchte auch gar nicht danach fragen, wer möglicherweise den Vater umgebracht haben soll, er weiß es bereits: Jacques Chirac, Nicolas Sarkozy, François Hollande und Emanuel Macron. Das sind die „Mörder“ seines Vaters und vieler anderer Menschen, deren Entscheidungen immer die Schwächsten der Gesellschaft benachteiligten. Über Macron heißt es: „Er findet, die Armen haben zu viel, die Reichen zu wenig.“

So plakativ die Schuldzuweisungen sind, so nachvollziehbar werden sie gerade durch ihre Anbindung an die Biografie des Vaters. Mit der Rigorosität seines Urteilens und Anklagens möchte Louis auf die offenen Wunden der französischen Gesellschaft und damit das Versagen der politischen Elite hinweisen. Auch das spiegelt sich im Fehlen des Fragezeichens, das ein subtiler rhetorischer Trick ist, der dem Text eine Gewissheit einschreibt, eine Unbeirrtheit, die sich aus dem Wissen um die wirklichen Lebenssituationen der französischen Unterschicht speist. Édouard Louis möchte mit seinem Text kein argumentativ überzeugendes Manifest vorlegen, das hat sein Freund und Mentor Didier Eribon mit seinen klarsichtigen und überzeugenden Büchern Rückkehr nach Reims und Gesellschaft als Urteil gemacht. Louis geht es vor allem um die (auch für ihn selbst) unangenehme Konfrontation mit den Unbilden eines prekären, von jeglichem Kapital abgeschnittenen Lebens, aus dem er selbst stammt.

Die formale Anlage des Textes ist äußerst heterogen, möchte er doch vieles zugleich sein: Brief, Pamphlet, Manifest, Sozialstudie und auch eine Erzählung. Wer hat meinen Vater umgebracht als eine Art Brief zu lesen liegt nahe, weil der Erzähler den Vater direkt anspricht. Die Form des Briefes ist aber mit stilistischen Brüchen durchsetzt, etwa wenn Louis dem Vater gegenüber immer von „meiner Mutter“ spricht, oder dem Vater erläutert, dass „Deine Mutter, meine Großmutter“ sei. Eher sind das Hinweise dafür, dass der eigentliche Adressat des Textes nicht der Vater ist, sondern jene Person, die den Text gerade liest und die den Vater vielleicht nur als Projektionsfläche versteht. Der Vater wäre dann tatsächlich nur ein Beispiel, das Nebenhergesagte. Dann bekäme er vom Sohn eben jene Stelle am (gesellschaftlichen) Rand zugewiesen, die er nie wird verlassen können. Das wäre in der Tat ein Vorwurf an den Text, den Vater genau so zu behandeln wie er von den politischen Eliten seit jeher behandelt wurde. Oder aber man versteht es vor dem Hintergrund der Absicht des Buches, das ja auch und vor allem Gesellschaftskritik sein möchte und dafür die Biografie des Vaters hernimmt. Der wird zum Zeugen der angeprangerten Verhältnisse gemacht, ein Zeuge, der nicht selbst spricht oder sprechen kann, aber in dessen Namen der Sohn Édouard Louis spricht. Es ist eine Zeugenschaft des Körpers, die der Vater aber nicht in Worte fassen kann und die deshalb der Sohn formuliert, indem er die Zurichtungen des Körpers als sichtbaren Ausdruck der Unmenschlichkeit des politischen Systems anprangert: „Die Geschichte deines Körpers ist eine Anklage der politischen Geschichte.“

Wer hat meinen Vater umgebracht wurde von Hinrich Schmidt-Henkel übertragen, einem der renommiertesten Übersetzer aus dem Französischen, der auch schon Louis’ andere Werke übersetzt hat. Und doch ist es gerade die Übersetzungsarbeit, die das größte Unbehagen bei der Lektüre hervorruft. Sprachlich ist der Text von Gespreiztheiten gespickt, die auf nahezu jeder Seite unangenehm auffallen. Die der Form des Briefes geschuldete Zeitform des Präteritums der 2. Person Singular erzeugt in ihrer grammatikalisch korrekten Wiedergabe oft antiquiert und gestelzt anmutende Satzreihen: „Du entschuldigtest dich.“ – „Du erklärtest, du littest an einer schweren Form von Diabetes.“ – „Ich wusste, du logst.“ – „Du fuhrst in das Geschäft“ – „Den ganzen Abend feiertest du“ – „du schlugst an die Wände und Fenster, du schriest herum“ – „du tatst so“ – „Du klatschtest ihr auf den Hintern“ – „Du gabst alles auf und kehrtest in das Dorf zurück“ – „ihr schwammt los und stiegt ein paar hundert Meter weiter wieder aus dem Fluss“ – „du schliefst bei ihnen“ – „botst ihnen an“ etc.

Was sich an dieser kleinen Auswahl zeigt, ist zweierlei: Die korrekte Verwendung des Präteritums der 2. Person Singular legt der Lektüre im Deutschen mitunter Stolpersteine in den Weg und lenkt die Aufmerksamkeit vom Thema ab. Das ist deshalb problematisch, weil das der Text gerade nicht möchte, ist es ihm doch gerade an einer Nähe zu seinen Figuren gelegen, v.a. zum Vater nicht von Ungefähr spielt dessen Körper eine entscheidende Rolle. Die deutsche Übersetzung tut dem Text hier keinen Gefallen, wenn sie eine zwar korrekte aber dafür distanzierende, weil disktinktive Sprachform verwendet. Mag sein, dass es im Französischen ebenfalls diesen Effekt gibt, dann wäre es eine stilistische Entscheidung von Édouard Louis gewesen, die ebenfalls zu kritisieren wäre.

Wer hat meinen Vater umgebracht hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Die Dringlichkeit des Anliegens teilt sich deutlich mit und wird an mancher Stelle überdeutlich ausgestellt. Teilt man als Leser auch nur ein wenig jene Erfahrungen oder politischen Überzeugungen, von denen Édouard Louis schreibt und für die er steht, stimmt man der gesellschaftskritischen Haltung des Buches zu. Louis möchte die „Mörder“ seines Vaters „in die Geschichte einschreiben: Das ist meine Rache.“ Allerdings bleibt der Eindruck, dass dieses Buch vielleicht nicht einer anderen Motivation, aber sicher einer anderen, strengeren Form bedurft hätte.

Titelbild

Édouard Louis: Wer hat meinen Vater umgebracht.
Übersetzt aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2019.
77 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783103974287

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