Candide in Berlin 1942
Takis Würger erzählt in „Stella“, wie Naivität und Schuld aufeinanderprallen
Von Anne Amend-Söchting
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseStella sei der Beweis dafür, so Jan Süselbeck („Am Rand des Abgrunds“. literaturkritik.de, 24.01.2019), dass die deutsche Literaturkritik höchst lebendig sei. Ihre VertreterInnen hätten nahezu einhellig Takis Würgers Versuch abgelehnt, „mit seinem Roman Stella einen Bestseller zu generieren“ und dies völlig unabhängig voneinander. Süselbeck resümiert die Bemühungen des Hanser Verlags, den Roman vor seinem Erscheinen als Verkaufserfolg zu positionieren („mit allerhand marktschreierischem Broschüren- und Social-Media-Tamtam“) und kommt zu dem Schluss, dass KritikerInnen „auf all diese frivolen Kontaktanzeigen und internen Umarmungsversuche natürlich nicht hereinfallen“ dürften. Dem ist vollumfänglich zuzustimmen. Allerdings: Wenige Wochen nach dem Erscheinen des Romans kann man sich sehr wohl den manipulativen Verlagsstrategien entziehen, weniger aber der Armada an extremst kritischen Stimmen, die ohne Unterlass auf Stella niederprasseln. Vor diesem Hintergrund ist es nahezu unmöglich, die etwas mehr als 200 Seiten weitestgehend unbefangen zu lesen beziehungsweise sich ihnen mit dem üblichen Maß an hermeneutischem Vor-Urteilen und nicht mit kritischem Vorab-Verurteilen zu nähern.
Dennoch sei hier die Quadratur des Kreises unternommen, konkret ein Abriss des Inhalts aus einem unvoreingenommenen Blickwinkel heraus: Friedrich, Protagonist und Ich-Erzähler, wächst in Choulex am Genfer See auf. Seine existenziell frustrierte Mutter hat ein sehr enges Verhältnis zu ihm sowie ehrgeizige Pläne: Ihr Sohn soll ein Maler werden. Als jedoch ein Kutscher, erbost wegen eines Schneeballs, der ihn trifft und für den Friedrich aus seiner Peergroup heraus die Verantwortung übernimmt, dem Jungen mit einem Ambosshorn das Gesicht zerfetzt, gerät die Verwirklichung der Ambitionen in Gefahr. Eine tiefe Narbe entstellt Friedrich. Außerdem ist er farbenblind und muss lernen, Farben allein nach ihrem Geruch zu unterscheiden. Wenn ihm dies beim gemeinsamen Üben nicht gelingt, schlägt ihn die Mutter mit einem Bettklopfer aus Rattangeflecht. Während sie nicht selten bis zur Besinnungslosigkeit trinkt, befindet sich der Vater auf Reisen im Ausland, um Waren für seinen Textilkonzern einzukaufen. Als im Jahr 1935 die Nürnberger Gesetze verkündet werden, genehmigt sich die Mutter eine ganze Flasche Kartoffelschnaps. So begeistert ist sie von den Nazis, dass sie ihren Mann verlässt und mit einem Deutschen nach München zieht.
Friedrich, inzwischen ein junger Mann, möchte nach Berlin reisen, nicht um selbst Soldat zu werden, sondern in der Hoffnung, endlich die Wahrheit zu finden und ein bisschen von der „Stärke der Deutschen“ zu assimilieren. Im Januar 1942 fährt er nach Berlin, wo er nach dem ersten Unterricht in einer Kunstschule das Aktmodell Kristin kennenlernt. Mit ihr geht er zwei Wochen später in den Melodie Klub, hört sie verbotene Lieder singen und trifft den zwielichtigen Tristan von Appen. Zwei Monate später kommt Kristin spontan in Friedrichs Hotelzimmer. Beide verbringen fortan ihre Zeit miteinander. Mit Tristan nehmen sie an einem Fest in einer Villa auf Schwanenwerder, im Ministerium für Volksaufklärung, teil. Dort singt Kristin. Im Mai 1942 wird sie gefangen genommen und eine Woche lang gefoltert. Als sie eines Nachts zu Friedrich zurückkehrt, ist sie schwer verletzt. Nun gibt sie sich ihm als Jüdin zu erkennen. Ab Juni beginnt Kristin alias Stella als „Greiferin“ für die Gestapo zu arbeiten. Ihr Motiv: Sie möchte unbedingt verhindern, dass ihre Eltern, interniert im Lager Große Hamburger Straße, in ein Konzentrationslager deportiert werden. Da die Eltern auch auf Initiative von Friedrichs Vater hin das Lager nicht verlassen dürfen, lehnt die Tochter Friedrichs Ansinnen, mit gefälschten Papieren in die Schweiz zu fliehen, ab. Als Stella an Weihnachten 1942 erneut in der Villa auf Schwanenwerder auftritt, begleitet Friedrich sie, bevor er sie noch am selben Abend endgültig verlässt.
Würger ist nicht der Erste, der sich mit der Geschichte der Stella Ingrid Goldschlag auseinandersetzt. 1992 veröffentlichte Peter Wyden, ein Mitschüler Stella Goldschlags, ihre Biografie, von der wesentliche Teile im Spiegel abgedruckt wurden. Würger ist auch nicht der Erste, der Goldschlags Geschichte fiktionalisiert, denn die Neuköllner Oper in Berlin produzierte im Jahre 2016 das Singspiel Stella – Das blonde Gespenst vom Kurfürstendamm, dessen Aufführungen bis vor Kurzem mehr oder weniger unumstritten blieben.
Würger ist indessen definitiv der Erste, der es wagt – und das ist die Hauptzielscheibe der Kritik – ein Jahr aus dem Leben der Stella Goldschlag als Liebesgeschichte zu erzählen. Stella sei ein Liebesroman. Und Würger sei so leichtfertig und „breitbeinig“ (Antonia Baum: „Nazis, Drogen, Grandhotels“. Die Zeit, 17.01.2019) an die Geschichte von Stella Goldschlag herangegangen, dass er damit eine neue „Kitsch-Eskalationsstufe“ (Jan Süselbeck) erreicht habe, die weit über die „Relativierung deutscher Schuld in Bernhard Schlinks Weltbestseller Der Vorleser“ hinausgehe. Die These „Verkitschung des Stoffs qua Liebesgeschichte“ lässt sich zwar kaum widerlegen, aber: Ist nur diese Liebesgeschichte in Betracht zu ziehen? Und: Aus welcher Perspektive wird sie erzählt?
Von Beginn an entscheidet sich Wüger für eine sehr genaue chronologische Situierung seiner Fiktion, was sich ab dem Moment intensiviert, als Friedrich in Berlin eintrifft. Die erzählte Zeit erstreckt sich von Januar bis Dezember 1942. Jedem Monat entspricht ein Kapitel, jeweils eingeleitet mit einem Potpourri historischer Ereignisse. In den Chor der KritikerInnen wäre insofern einzustimmen, als man sich nicht zu Unrecht fragt, was zum Beispiel die Geburten von Alice Schwarzer, Wolfgang Schäuble oder John Lennon mit den Ereignissen im Berlin der Nazis zu tun haben. Doch gewinnen hier nur Beliebigkeit und eine gewisse Arroganz, die Dinge deuten zu wollen, die Oberhand? Ist die Kompilation der realen Ereignisse nicht vielmehr eine Geste der Distanzierung von der Narration der Liebe? Dasselbe kann für die Zitate aus den Prozessakten gelten, die in diese Textwelten hineingestellt werden, denn sie konfrontieren die reale Stella Goldschlag und die ihr nachgesagte Skrupellosigkeit mit der Stella aus der Liebesgeschichte. Aus den drei divergierenden Blöcken, die den Roman konstituieren (Liebesgeschichte, Ereignisse aus dem Jahr 1942, Prozessakten), resultiert eine Dynamik des Spiegelns und damit des interagierenden Relativierens, das mittels Parataxe und schnellen Wortwechseln in den Dialogpassagen zusätzlich an Fahrt aufnimmt. Diese Art von Konfrontation bedeutet das Durchbrechen der Illusion. Die triadische Gesamtkomposition steuert die LeserInnen in Richtung Distanzierung von der Fiktion, in Richtung Ent-Emotionalisierung und Versachlichung. Sie erlaubt es, sich dem Unsagbaren sukzessive anzunähern und historische Distanzen so zu überwinden, dass man wohl emotional umgarnt, aber aus diesem Gefühligen schnell wieder hinausgeschleudert wird. Zu Beginn des Romans dürften vor allem jüngere LeserInnen die Figur des Friedrich als Identifikationsangebot akzeptieren. Dieses zieht sich quasi subliminal durch den gesamten Roman, obgleich es durch die Interaktion der drei Blöcke immer wieder konterkariert wird. So bietet sich einerseits die Gelegenheit zur emotionalen Auseinandersetzung mit einer Zeit, zu der Jugendliche oftmals den Zugang verloren haben. Andererseits mag die Distanzierung und Versachlichung ethische Diskussionen anstoßen, obwohl sie dem erwachsenen kritischen Bewusstsein anstößig erscheinen, weil sie allzu oberflächlich daherzukommen drohen.
In der Liebesgeschichte dominiert die Stimme des Schweizer Luxusknaben Friedrich, ein Naivling, wie er im Buche steht, ein „Pappkamerad“ (Süselbeck), ein moderner Candide, der durch die Welt stolpert, ohne sich lange mit Reflexionen aufzuhalten. Zwar entstammt er keineswegs der „besten aller möglichen Welten“, denn die daueralkoholisierte Mutter und die Misshandlungen, denen er ausgesetzt ist, spitzen sich fast zu Kindeswohlgefährdung zu. Dessen ungeachtet lebt Friedrich abgeschottet in seiner Schweizer Wohlstandsblase, die er allein aufgrund seiner Neugier und mit dem Impetus, die Wahrheit und persönliche Stärke suchen zu wollen, durchbricht. Seine Naivität lebt er auch außerhalb seines Heimatlandes mit voller Konsequenz. Er macht kein langes Federlesen, wenn er im lebensmittelrationierten Berlin ein üppiges Frühstück bestellt, oder denkt nicht weiter nach, wenn der Nazi-Dandy Tristan von Appen mit unverhohlener Tiersymbolik rassehygienische Ideologeme von sich gibt.
Und dennoch gelangt er allmählich zur Erkenntnis des Bösen, denn er kann nicht nicht bemerken, wovon er umgeben ist. Als Stella alle Fluchtpläne ablehnt und erneut für die Nazis singt, opponiert er gegen seine Affektwelt und besteigt den Nachtzug nach Süden. Leider geht mit dieser abrupten Kehrtwendung keine eindeutige ideologische Positionierung einher. Die Antwort auf die Frage, ob das amoralisch ist oder nicht, führt zu einem Dilemma. Da ist zum einen die mehr als grobe Antithetik, wenn es heißt: „Ich weiß nicht, ob es falsch ist, einen Menschen zu verraten, um einen anderen zu retten. Ich weiß nicht, ob es richtig ist, einen Menschen zu verraten, um einen anderen zu retten“. Diese Parallelismen passen innerfiktional. Friedrich liebt Stella nach wie vor, erblickt in ihr eine ganze Phalanx an Ego-States, „die Sängerin mit der dünnen Stimme, die Schönheit in meiner Badewanne, die Büßerin, die Lügnerin, das Opfer, die Täterin. Stella Goldschlag, die Greiferin, meine Frau“, und verurteilt sie nicht. Er bleibt ihr über die Jahre hinweg treu, so unterstellt der Autor, denn die Inspirationsfigur für Friedrich ist der „alte Mann“ (bei dem es sich höchstwahrscheinlich um Ferdinand Kroh, siehe unten, handelt), der außer der Pfarrerin bei Stellas Beerdigung anwesend war. Zum anderen aber bleibt intradiegetisch offen, zweite Facette des Dilemmas, wann Friedrich seine Erinnerungen niederschrieb und ob er überhaupt eine Distanz dazu entwickelt hat. Da hätte vielleicht eine ganz traditionelle extradiegetische Rahmung gute Dienste tun können, um die Reflexionsdimension von erzählendem und erlebendem Ich zu konturieren und zu vertiefen. Diese limitiert sich auf wenige Einsprengsel, zum Beispiel einmal den Ausruf „Wie naiv konnte ich sein“. Nachdenken über das Nachdenken hätte hier helfen können, hätte das Trio der Stimmen zu einem Quartett erweitert und Stellungnahmen wie „Konstruktion eines pornografischen Beurteilungs-Kinos“ (Antonia Baum) verhindert.
Dem Beurteilungskino zuwider läuft hingegen das unkommentierte Nebeneinander von Prozessakten und Liebesgeschichte. Es lotet die Ambivalenz der Figur Stella aus. Opfer und Täterin ist sie gleichermaßen, sie ist die unschuldig Schuldige. Dabei kann sie zwar durchaus als Neuauflage des „philosemitischen Kippbilds“ der „unschuldig-schuldigen ‚schönen Jüdin‘“ (Süselbeck) gedeutet werden, aber spräche man hier weitergehend von einer Viktimisierung, ginge das an Würgers Darstellungsweise vorbei. Als Stella der achttägigen Folter in den Kellern des Gestapo-Quartiers entkommt, ist sie tatsächlich zum willfährigen und traumatisierten Opfer geworden. Daraus ist aber in keiner Weise abzuleiten, dass LeserInnen Stellas Leben als Denunziantin entschuldigen könnten. Bis zu einem gewissen Punkt ist ihr Verhalten nachzuvollziehen, zu verstehen und zu interpretieren als eine Art posttraumatischer Automatismus. Zwischen Verständnis und Entschuldigung liegt ein schmaler Grat, und ja, verstehen meint auch relativieren, nicht jedoch minimalisieren. Dem Roman vorzuwerfen, dass er Stellas Verhalten entschuldigen wolle, würde auf einer reduzierten Lektüre basieren.
Ein sehr ernstzunehmendes Argument, das Thomas Assheuer („Hauptsache, starke Bilder“. Die Zeit, 24.01.2019) vorbringt, ist, dass die Nazi-Zeit zum „Themenpark“ verkomme und „uns über die Zukunftsangst hinwegtrösten“ wolle. Assheuer fragt, was aus der kritischen Kunst werde, wenn sich jede Autorin / jeder Autor aus diesem Themenpark ad libitum bediene. „Das alte Bündnis aus linker Kunst und linkem Fortschrittsdenken“, auch und vor allem „der Negativismus eines Theodor W. Adorno“, habe in den 1990er Jahren einer postmodernen Beliebigkeit Platz gemacht, die ihre vordringliche Aufgabe in der Produktion starker Bilder sehe und den Hunger der Menschen nach Sinn nicht befriedige. Stella sei ein Symptom dafür.
Die hier aufgezeigte Entwicklungstendenz ist nicht von der Hand zu weisen, aber: Könnte man im Fall von Stella nicht genau andersherum argumentieren? Ja und Nein. Im Wesen engagierter Literatur liegt es, explizite Parteilichkeit zu vermeiden (alles andere würde laut Adorno auf Tendenzliteratur hinauslaufen), lediglich vorzuführen und nur dadurch Missstände aufzudecken. Beurteilungen obliegen den LeserInnen. Mit dem bloßen Benennen hat, laut Jean-Paul Sartre, der Autor einen „sekundären Modus des Handelns“ gewählt. Jedes Ding, das man benenne, habe seine Unschuld verloren, weil es dem kritischen Bewusstsein der Leserschaft ausgesetzt sei. Stella entspricht dem derart akzentuierten Konzept engagierter Literatur, zumal Würgers Äußerungen zu seinem Roman alle Zweifel ausräumen dürften. Aber: Funktioniert das so definierte Engagement auch noch, wenn, um im Bild Sartres zu bleiben, den Dingen die Unschuld schon längst genommen wurde? Werden die benannten Phänomene dann nicht eher ad absurdum geführt und kommt diese Geste in diesem Fall nicht sogar dem Versuch gleich, den Dingen die Unschuld zurückzugeben? Gerinnt das bloße Präsentieren in diesem Fall letztendlich doch zur post-postmodernen Montage?
Rein intentional verfolgt Würger unmissverständliche Zielsetzungen. Ihm anzulasten, dass er mit der Widmung an seinen Urgroßvater Willi Waga („der 1941 während der Aktion T4 vergast wurde“) Stellas Schuld in irgendeiner Weise vermindern wolle, wäre blanker Hohn. Wäre es dennoch besser gewesen, auf diese Widmung zu verzichten? Vermutlich ja, denn unmissverständlich ist sie nicht. Sie insinuiert eine Expansion von Schuld in dem Sinne, dass nicht nur die Nazis, sondern auch einige Juden, die kollaboriert haben, als Inkarnation des Bösen zu apostrophieren sind. Das könnte Anlass zu nivellierenden Vergleichsmechanismen geben. Die Kurzfassung des Lebens von Stella Goldschlag nach dem Krieg – und sei sie noch so summarisch, gar „blockbustermäßig“ (Antonia Baum) – unterstreicht, dass die Last der Vergangenheit die Chance auf ein einigermaßen normales Leben nicht zuließ und die Schuld am Ende nur den Weg bot, Hand an sich selbst zu legen.
Eine weitere fundamentale Frage, die in den Besprechungen zu Stella auftaucht, bezieht sich auf die Deutungshoheit am historischen Stoff. Immer wieder liest man von Geschichtsklitterung, die ZDF-Serie Unsere Mütter, unsere Väter wird unablässig als Vergleichsgröße bemüht. Dürfen in erster Linie GeschichtswissenschaftlerInnen die Vergangenheit aufarbeiten? Woraus nährt sich Erinnerungskultur und wie wird diese praktiziert? Erinnerungskultur ist immer kollektiv und partizipativ. Und aufarbeiten lässt sich Vergangenheit oder eine traumatisierende Gegenwart (wie man sehr gut an Beispielen aus der Französischen Revolution belegen könnte) besonders effizient mit Fiktionen, auch und gerade im postfaktischen Zeitalter, besonders gelingend möglicherweise als Konjunktion von Fiktion und Fakten (Prozessakten). Dass dies wiederum niemals der Wahrheit letzter Schluss sein kann und dass mit der Vermarktung der realistischen Fiktion unter Umständen Persönlichkeitsrechte verletzt werden können, beweist die Intervention eines Berliner Anwalts, der im Namen des Historikers Ferdinand Kroh, dem Goldschlag vier Jahre vor ihrem Tod alle publizistischen Persönlichkeitsrechte übertrug, sowohl das Singspiel der Neuköllner Oper absetzen als auch den weiteren Vertrieb von Würgers Roman verbieten lassen möchte (vgl. u.a. Micha Brumlik: „Wem gehört Stella“. Die Zeit, 31.01.2019).
Insgesamt ist Würger mit Stella schon allein deshalb ein bedeutender Roman gelungen, weil sich die Kritik – zu Recht – ungewöhnlich heftig an ihm abarbeitet. In diesem reichhaltigen Diskurs geht es oftmals nicht um den Text oder zumindest nicht um ihn allein, sondern um die Art und Weise, wie er auf den Buchmarkt lanciert wurde. Rein kommerziell ist Würger dabei immer der Gewinner – das Kreuzfeuer der konträren Stimmen dürfte für höhere Verkaufszahlen sorgen. Lässt man beiseite, dass sich Würger in seinen Peritexten sehr selbstsicher gibt und abstrahiert man ebenfalls kurz von der Brisanz des Stoffes, dann kommt man trotz der Einwände, die vielerorts zu lesen sind und die nicht hinwegargumentiert werden können, nicht umhin zu sagen, dass Würger mit Stella einen in ästhetischer Hinsicht gut konzipierten und ausgeführten Roman vorgelegt hat. Die hohe atmosphärische Dichte in der Fiktion, immer wieder destruiert und in Frage gestellt mittels Konfrontation mit den Prozessakten und den summierten historischen Fakten, unterstreicht die Ambivalenz der historischen Figur Stella, ohne ihr die Schuld zu nehmen. Würger erweist sich darüber hinaus als Meister der Parataxen und lakonischen Dialoge, die den Roman sprachlich leicht, aber paradoxerweise alles andere als einfach machen (was aber eine einfache Lektüre nicht ausschließt). So kann man in letzter Konsequenz dafür plädieren, sich auf die Konstruktion (des zweifelsohne kulturindustriell geprägten) Ästhetischen einzulassen. Dies soll der nicht unberechtigten Kritik keinesfalls den Wind aus den Segeln nehmen, sie aber schon ein bisschen relativieren.
|
||