Leben über Abgründen

Anne Goldmanns vierter Roman ‚,Das größere Verbrechen“ konfrontiert drei Frauen mit der Gewalt in unserer Welt

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Anne Goldmanns viertem Roman – nach Das Leben ist schmutzig (2011), Triangel (2012) und Lichtschacht (2014) – stehen drei Frauen im  Mittelpunkt. Theres Rössler, mit Mann und Tochter in mittelständischen Verhältnissen lebend, muss gerade das Scheitern ihrer Ehe konstatieren, als sich ein verdrängtes Kapitel ihrer Vergangenheit in Erinnerung bringt. Selma Sudić, im Bosnienkrieg schwer traumatisiert und seither ohne jegliches Vertrauen in das Gute im Menschen, hat sich von der Welt zurückgezogen. Sie macht es allen schwer, die ihr helfen wollen, über den ,,Morbus Balkan“ hinwegzukommen. Und schließlich ist da noch Ana. Die zeichnerisch Begabte versucht, einen Platz an der Wiener Kunstakademie zu finden. Das Geld fürs Leben verdient sie sich derweil, indem sie bei den beiden anderen Frauen als Haushaltshilfe arbeitet und dabei nach und nach in deren Konflikte hineingezogen wird.

Drei Frauen, die unterschiedlichen Generationen angehören, unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben und ihre je eigene Vorgeschichte mitbringen. Doch eines eint sie: ihre Stellung in einer Welt und Gesellschaft, in der die Rolle, die sie zu spielen haben, festgeschrieben zu sein scheint. Aus diesen verhängnisvollen Determinierungen auszubrechen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen, erfordert nicht nur Mut, sondern heißt meistens auch, sich mit männlicher Dominanz bis hin zur Gewaltausübung auseinanderzusetzen. Warum das so ist? Eine hat darauf eine so einfache wie empörende Antwort: „Weil es immer so war, dass er bestimmt, was geschieht. Weil man sich darauf verständigt hat, dass er es darf. Er hält es für normal. Weil keiner ihn daran hindert! Und das – das ist ein Verbrechen.“

Dieses größere Unrecht, worauf der Roman bereits mit seinem Titel hinweist, erzeugt auch all die Ereignisse, die tief und verstörend in das Leben der Protagonistinnen eingreifen. Die Bosnierin Sudić – man erfährt es in Rückblicken auf die Jahre 1992, als der Krieg auf dem Balkan begann, und 1997, als noch keine der von diesem geschlagenen Wunden auch nur ansatzweise verheilt war – wurde monatelang in einem Lager interniert, gefoltert und vergewaltigt. Der Gedanke, dass es ehemalige Nachbarn waren, aus denen praktisch über Nacht mordende, vergewaltigende und brandschatzende Bestien wurden, lässt sie auch ein Vierteljahrhundert nach dem Krieg nicht los. „Der Mensch ist so: Er reißt sich zusammen, solange er muss. Aber er ist immer auf seinen Vorteil aus. Er nimmt sich, was er kriegen kann, sobald er die Gelegenheit dazu hat. Im Rudel gibt es kein Halten. Er verroht. Er entdeckt seine Lust am Quälen. Er tötet“, lautet deshalb die Erkenntnis, die sie aus ihrer Heimat mit nach Deutschland gebracht hat.

Theres Rössler wiederum wurde mit 17 Jahren schwanger und gab unter dem Druck ihrer Eltern – der Vater ist Politiker und fürchtete um seinen Ruf – das Kind zur Adoption frei. Als sich der 18-jährige Jan plötzlich meldet und sich als ihr Sohn zu erkennen gibt, will sie wiedergutmachen, was sie einst versäumte. Doch Jan bringt Unruhe in Theres’ Familie, in der die heile Welt, die sie mit Kompromissen nach allen Seiten hin mühsam um sich herum aufgebaut hat, ohnehin gerade irreparable Risse bekommt. Ihr Mann Thomas geht fremd, die 15 Jahre alte Tochter Nina gibt Anlass zu Besorgnis, indem sie immer offensichtlicher in die Abhängigkeit von ihrem plötzlich aufgetauchten Stiefbruder gerät. Als dessen Adoptivvater dann noch bei einem durch Manipulationen am Fahrzeug verursachten Autounfall ums Leben kommt und Jan als möglicher Täter in der Untersuchungshaft landet, kulminieren die Ereignisse.

Anne Goldmann nimmt sich, wie man das auch aus ihren Vorgängerromanen kennt, viel Zeit für die Zuspitzung der Konflikte. Behutsam, in kurzen Sätzen und mittels einer weitgehend schlichten, bildarmen, die seelischen Innenräume genau ausleuchtenden Sprache lässt sie den Leser am Alltag ihrer Protagonistinnen teilhaben. Dass Selma Sudić als einzige der drei Frauen „Ich“ sagen darf – Theres und Ana teilen sich über die etwas distanziertere personale Erzählperspektive mit – mag nicht nur daran liegen, dass sie den beiden anderen an Alter und Erfahrung voraus ist. Sie ist zudem über die – zur Handlungszeit des Romans immer noch nicht abgeschlossene – Verarbeitung des ihr Anfang der 1990er Jahre Zugestoßenen zur einsamsten und kompromisslosesten Figur des Trios geworden. Sie traut niemandem mehr, lässt kaum jemanden an sich heran und ist der festen Überzeugung, dass Menschen zu allem fähig sind. Wenn sie sich gegen Ende des Romans aufmacht, ihre Wohnung verlässt, um Theres im Krankenhaus zu besuchen, ist das der erste Versuch, ihre selbst gewählte Isolation zu durchbrechen und wieder am Leben um sich herum teilzunehmen.

Das größere Verbrechen erzählt von drei Frauen unserer Tage und deren Umgang mit der ihnen begegnenden, vor allem von Männern ausgehenden Gewalt. Dabei reicht das Spektrum ihrer Reaktionen von totalem Rückzug aus allen sozialen Bindungen über aus ohnmächtiger Wut entstehende Rachefantasien bis hin zur Vergeltung des Gleichen mit Gleichem. Da in einer empathielosen Welt, wie Anne Goldmann sie zeichnet, aber Irrtümer und Fehleinschätzungen von Personen und Situationen vorprogrammiert sind, lauert hinter jeder getroffenen Entscheidung, jedem scheinbar naheliegendem Schluss und jeder auf offensichtlich richtigen Gründen basierenden Tat ein Abgrund. Ist Jan wirklich der Mörder seines Stiefvaters? Tut Ana Recht, wenn sie sich auf eine Affäre mit ihm einlässt? Und welche Rolle hat der bosnische Vater des von Theres’ Eltern zur Adoption bestimmten Kindes damals wirklich gespielt? Am Ende zeigt der Roman, dass es keine einfachen Antworten auf komplizierte Fragen gibt. Und hält ein paar Wendungen bereit, auf die die wenigsten Leser gefasst sein dürften.

Titelbild

Anne Goldmann: Das größere Verbrechen.
Argument Verlag, Hamburg 2018.
235 Seiten, 13,00 EUR.
ISBN-13: 9783867542340

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