Kurz vor der Kernschmelze

Max Wolfs Debütroman „Glücksreaktor“ schwankt zwischen Überdosis und Transzendenzerfahrung

Von Sebastian EngelmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Engelmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Tristesse der fränkischen Provinz ist förmlich spürbar, wenn Max Wolf seinen adoleszenten Protagonisten Fred zu Beginn seines Romans Glücksreaktor pseudophilosophische Ausführungen zu Ameisen und Drogenkonsum verlautbaren lässt. Es schwingt ein bisschen Nietzsche und ein wenig Existenzialismus mit, wenn vom großen Ausbruch aus der Monotonie des Alltags gesprochen wird. Fred, 17 Jahre alt, durfte das Haus seiner Eltern zu seiner großen Freude bereits zurücklassen und kifft viel. Das tut auch sein bester Freund Nick und der vom Bodybuilding begeisterte Mische. Die drei Weggefährten durchleben gemeinsam das stetige Auf und Ab einer prägenden Zeit, in der noch so viel möglich erscheint – selbst in Erlangen, wo die Handlung spielt.

Zwischen Subkulturen wie Punk, Rockertum und eben Techno suchen sie sich ihre Nische. Aufbegehren ist dabei das Motto, gegen die „Ameisen“ wie Fred sie nennt. Ameisen, das sind vor allem die anderen, diejenigen, die bereits vorgefertigte Lebenswege im Kopf haben und ihr Leben mit beinahe asketischer Leidenschaftslosigkeit führen. Fred setzt dem Ganzen etwas entgegen. Seine Vorliebe für die Naturwissenschaften – genauer die Physik – macht ihn empfänglich für Technomusik. Durch eine Freundin das erste Mal an „Pillen“ gekommen, sprich MDMA, macht Fred erste Erfahrungen im Technoclub „Das Boot“. Begeistert, beinahe euphorisch werden die Nächte durchgetanzt. Das alles ist zu Beginn noch harmlos, nimmt aber spätestens mit der Verlängerung des Raves auf mehr als eine Nacht ein nur schwer zu kontrollierendes Ausmaß an. Es beginnt eine rasant erzählte Reise zum Mittelpunkt des Drogenkonsums, zu den Abgründen des Mensch-Seins und irgendwie auch in den eigenen Geist. Dabei trifft Fred nicht nur auf zahlreiche Ameisen, sondern auf komplett aufgelöste Gestalten, die seine Vorstellungen vor Normalität herausfordern, ihn erschrecken, beeindrucken und selbst verändern.

Der Roman von Max Wolf – Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei – fügt sich als Mosaiksteinchen ein in eine große Anzahl an Werken, die sich mit Techno, seiner Kultur, seinen Licht- und Schattenseiten auseinandersetzen. Sei es nun Lost and Sound von Tobias Rapp, Jürgen Teipels Ich weiß nicht oder auch die brachialen Ausführungen von Airen in Strobo: Techno spielt(e) in der Kultur der 90er und 00er Jahre eine herausragende Rolle. Und auch heute hat Techno kaum etwas von seiner Anziehungskraft eingebüßt, was an zahlreichen florierenden Clubszenen in Metropolen und dem Einfluss elektronischer Musik auf den Mainstream auszumachen ist. Die Verschmelzung mit der Maschine und die Idee des Überschreitens physischer – beispielsweise im exzessiven, stundenlangen Tanz – oder auch psychischer Grenzen – sowohl durch drogeninduzierte Wahrnehmungserweiterung als auch durch das meditationsgleiche Zeremoniell des Tanzens selbst – gehören zu dieser Ausprägung der Alltagskultur untrennbar dazu. Transhumanismus als Überschreitung der dem Menschen gesetzten Grenzen ist nicht explizit, aber zumindest implizit Thema des Buches, das sich nicht zuletzt damit auseinandersetzt, was das Leben abseits der Ameisenstraßen noch zu bieten hat.

Techno bietet eine Möglichkeit „Realitätsflucht light“ zu betreiben, immer mit der Gefahr, auf Tabletten oder anderen Substanzen hängenzubleiben. Ähnliches erlebt auch der Protagonist von Wolfs Roman. Wo zu Beginn Cannabis das Gift der Wahl ist, treffen Fred und ein Nick schnell auf ihren ersten weiblichen Kontakt zur Technoszene. Am Anfang ist es deshalb nicht nur die Verlockung des Technos im Club „Das Boot“, sondern auch eine nicht näher ausdifferenzierte und trotzdem latent vorhandene Anziehung zwischen Heranwachsenden. Diese wird von Wolf wundervoll unklar und latent durch das gesamte Buch aufrechterhalten – bis sich die Personen verlieren. Bis dahin setzt sich die Handlung zusammen aus einer raschen Aufeinanderfolge von ekstatischen Phasen des Rausches, lethargischen Phasen des Runterkommens und dem, was sich dazwischen abspielt: Schule, Privatleben und all das andere. Danach ist Unruhe, Ambiguität und Aggression. Der Roman endet in der Schwebe.

Besonders spannend an ihm ist, dass der Alltag kaum eine Rolle spielt. Es gibt keine seitenlangen Beschreibungen von Schulerfahrungen, Konfrontationen mit den Eltern oder der Familie. Das Universum des Protagonisten setzt sich zusammen aus wenigen namentlich benannten Personen, die entweder selbst der Technokultur angehören oder ihr gegenüber kritisch eingestellt sind. Ergänzt wird die Konstellation um die Nachbarn Freds, die in ihrer Konsumkarriere schon einen Schritt weiter sind und letztlich Bezugs- und Reibungspunkt zugleich sind.

Glücksreaktor überzeugt durch eine schnell erzählte Geschichte und ein durch den Protagonisten nüchtern-technisch analysiertes Geflecht von Ereignissen. Man meint, förmlich neben Fred und den anderen zu stehen, was auch auf den teilweise bemühten Duktus des Textes zurückzuführen ist. Stets gelingt es Wolf jedoch, die für Außenstehende irritierende Handlung noch exzessiver zu gestalten, ohne den Rahmen des Möglichen zu überspannen. All das, was Wolf da schreibt – so möchte ich meinen –, könnte jederzeit in fast jedem Club einer beliebigen Großstadt geschehen. Überall tanzen Menschen, die Drogen zu sich nehmen, mit sich selbst kämpfen und sich schlicht und ergreifend fremd fühlen. Und damit greift Wolf einen wohl für viele LeserInnen bekannten Gedanken auf: Wie wäre es, wenn ich anders sein könnte als die anderen? Techno bietet für Fred die Möglichkeit, aus dem maschinenhaften und entfremdeten Alltag auszubrechen. Zugleich führt auch das schönste Gefühl der möglichen Kernschmelze im Tanzrausch wieder in die Gleichförmigkeit zurück. Gesellschaftliche Normen und die Gefahr des Verschwindens der Individualität im grauen Alltag schweben drohend über der Erzählung. Dieses Gefühl fängt Wolf in seinem Roman ein. Er spielt mit dem Gefühl der Freiheit in Unfreiheit – und damit trifft er genau den Zeitgeist.

Titelbild

Max Wolf: Glücksreaktor. Roman.
Tempo Verlag, Hamburg 2018.
256 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783455004397

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