Eine leichte Irritation des Sehens

„Am Kap des guten Abends“ versammelt acht Bildgeschichten von Lutz Seiler

Von Swen Schulte EickholtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Swen Schulte Eickholt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Warum, so mag man sich beim Betrachten von Pieter Coddes Gemälde Bildnis eines Mannes mit Uhr fragen, präsentiert dieser arrogante Herr mit spanischem Kragen seine Uhr dem Betrachter so geziert auf den Fingerspitzen der rechten Hand – freilich nicht ohne den goldgefassten Rubinring der linken ungesehen zu lassen. Die Antwort kennt wohl auch Lutz Seiler nicht, aber der provozierende Blick, so scheint es, provoziert ihn zu einer Geschichte. Ja, warum eigentlich? Dass Pieter Codde den wenigsten bekannt sein dürfte, entspricht dabei geradezu dem Programm der Bildgeschichten, denn Karl Phillip Schwab oder Rik Wouters dürften auch nur Experten ein Begriff sein, um nur die ersten drei Künstler zu nennen, deren Bildern Seiler einen Text widmet. Die Resonanz im Betrachter ist wichtiger als Bild, Künstler oder Kunstgeschichte. Dabei spricht von der Anlage des Bandes immer zuerst das Bild den Leser an; wenn er sich ihm aussetzt, entstehen Fragen wie die eingangs gestellte. Erst dann spricht der Autor und liefert seine Antwort auf einige Fragen, die das Bild stellt, folgt Bildern und Geschichten, die es evoziert, oder taucht ein in die eigene Erinnerung, die von den Bildern angeregt wird. Immer geht es ihm dabei um die Tiefenschichten unseres Alltags, der auch immer nur oberflächlich betrachtet so leicht zu verstehen ist wie ein Bild, das sich scheinbar so ganz der Herrschaft des Blickes unterwirft.

Warum also hält der Herr im spanischen Kragen die Uhr so geziert? Weil, und das konnte man nun wirklich nicht ahnen, sich im Herzen der Uhr der Schweineborstenregulator befindet, der die Genauigkeit des mechanischen Wunderwerks garantiert; und der Herr hatte das Schwein, das für die Erstellung der Uhr sein Leben lassen musste, selbst ausgewählt. Hatte sich erst widerwillig in den Schweinekoben begeben und war dann ganz betäubt vom warmen Leben, das ihn umgab, – und schließlich vom Widerstand des Schweins: „Er sah das Tier, er sah die Kraft der Todesangst – und ihre Vergeblichkeit.“ Wie ein magisches Artefakt trägt er fortan die neue Uhr mit sich herum, und ungeachtet ihrer prachtvollen Ausführung – ein Wunderwerk im 17. Jahrhundert – interessiert ihn nur die Borste seines Schweins, die sicher in der Uhr geborgen liegt, deren Herzschlag bestimmt und ihn darüber hinwegzutrösten scheint, dass jedes Leben dem Tode geweiht ist. Und nun? Erscheint der Mann wirklich noch arrogant? Ist sein scheinbar überheblicher Blick nicht doch von innerer Melancholie geprägt und seine Einsamkeit – wer lässt sich schon alleine mit einer Uhr porträtieren? – nicht auch Mitleid erregend? So irritiert Seiler die Wahrnehmung, drängt zur zweiten Betrachtung und lädt dazu ein, den eigenen Bildwelten zu folgen.

Besonders gelungen ist auch die zweite Geschichte, die von Karl Philipp Schwabs Gruppenbild eines Vaters mit zwei Söhnen ausgeht. Adrett gekleidet, artig mit Schreibwerkzeug und Globus ausgestattet, blicken auch die Söhne leicht verkniffen den Betrachter an. Vor ihnen ein Tisch mit Unterrichtsutensilien und hinter ihnen, merkwürdig klein, der Vater, der ähnlich gehemmt dreinschaut und seine Arme etwas unsicher um seine Söhne gelegt hat. Seiler beginnt mit der gutbürgerlichen Unterrichtsstunde, die das Bild andeutet. Der Vater, voll pädagogischem Eifer, möchte die Söhne von Grund auf schulen und beginnt daher bei der einfachsten Frage mit dem Urschleim. Nur leider zeigt sich wie so oft die fehlende Einsicht der Eleven und rasch kippt der Eifer in pädagogische Wut. Seinerzeit wurde der Vater für Faulheit noch ausgepeitscht. Die Söhne weinen und schweigen, während sich die väterliche Wut in Schimpftiraden und Schlägen auf den Tisch entlädt. Jedoch bleibt Seilers Vater keineswegs der selbstherrliche Tyrann, der stolz verkündet, dass die Väter immer Recht haben; vielmehr hat er „Die Erkenntnis des Schmerzes“ in den Augen der Kinder gesehen: „Dass die Welt eine Enttäuschung ist.“ Alle atmen auf, man kann zum angenehmen Teil kommen, dem Traumtagebuch, in dem der Vater geduldig und wie ein fleißiger Oberschüler selbst die hanebüchensten Träume festhält, welche die Söhne memorieren oder erfinden; wie nebenbei erfährt man hier, warum – für die Zeit merkwürdig – die Mutter auf dem Gemälde fehlt: sie ist früh verstorben. Die zwei Halbwaisen leiden offenbar nicht unter ihrem herrischen Vater, sondern bilden mit ihm eine verschworene Gemeinschaft. Denn kaum ist die Tür zur Phantasie aufgestoßen, wird der Vater zu Kutsche, Kutscher und Pferd und galoppiert mit den Söhnen auf den Knien über die Grenzen des Landes hinweg – wohl in ein Reich, das nicht so enttäuschend ist, wie die triste Gegenwart mit ihrer mathematischen Ordnung, die sich den Söhnen nicht erschließen will.

Immer wieder schafft Seiler es, mit ausgefeilten Sätzen auch über die einzelnen Geschichten hinaus Räume des Denkens zu eröffnen. „Niemand versteht geliebt“ ist so ein Satz, der in seiner Schlichtheit überzeugt. Im Kontext führt er vor, wie Seiler es gekonnt vermag, die Perspektive zu ändern. Hier ist es ein Hund, der nicht versteht, warum er geliebt wird. Allerdings ein Hund – ein kleiner zersessener Hund – aus Seilers frühem Gedicht Good Evening Kap über dessen Entstehung die letzte Geschichte berichtet. Es basiert – in dem Gedichtband berührt/geführt unsichtbar – auf dem Bild Cape Cod Evening von Edward Hopper. Aber eigentlich initiierte ein falscher Blick das Gedicht, denn Seiler las nach eigenen Angaben Cape Good Evening. „Das aufmerksam zerstreute Hinschauen“, aus dem Gedichte entstehen – und Bildgeschichte –, erläutert Seiler hier am Ende des schmalen Bandes. Es ändert nur nichts an der Tatsache: Niemand versteht geliebt.

Eine andere Passage erinnert in ihrer formalen Verdichtung an eine Stelle aus Gustave Flauberts L’Éducation sentimentale, die Kafka sehr beeindruckte. Bei Seiler klingt das so: „Er verabschiedete sich mit einer kurzen Umarmung, überschritt eine Grenze und verschwand.“ Ein solcher Satz ähnelt selbst einem Bild und lädt zu tausend Geschichten ein, von denen die von Seiler realisierte nur eine ist.

Dabei widmet sich Seiler keineswegs nur Gemälden; es findet sich neben dem Foto eines streunenden Hundes von Susanne Schleyer beispielsweise auch eine Geschichte, die durch eine Bildmontage von Naomi Schenck angeregt wurde. Der Band versammelt Arbeiten aus den letzten zwölf Jahren, die sich in Tonfall und Stil teils deutlich unterscheiden, je nachdem, welcher Zugang zu welchem Bild gewählt wird – vom autobiografischen Text bis zum freien Spiel der Fiktion. Die Texte lesen sich bisweilen so meditativ, dass man sich nur gewünscht hätte, Seiler hätte noch den einen oder anderen Originalbeitrag für den auch verlegerisch anspruchsvoll gestalteten Band verfasst. Für den Preis wäre das auch durchaus zu erwarten gewesen. Es liegt eine Sammlung vor, die gerade durch die Heterogenität der Zugänge, das hohe Stilbewusstsein und die assoziative Dichte überzeugt, die auch für den Leser jedes Mal eine andere Tür öffnet, um den inneren Bildern zu folgen – danach blickt man irritiert auf das Bild zurück, von dem die Textbewegung ihren Ausgang nahm. War es nicht vorher noch ein anderes?

Titelbild

Lutz Seiler: Am Kap des guten Abends. Acht Bildgeschichten.
Insel Verlag, Berlin 2018.
76 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783458194552

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch