Beziehungen zwischen Männern

Neues von und nach Marcel Proust

Von Olaf KistenmacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Olaf Kistenmacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nachdem Bernd-Jürgen Fischer zwischen 2013 und 2016 eine neue deutsche Fassung von Marcel Prousts À la recherche du temps perdu vorgelegt hat, ist nicht nur der Reclam-Verlag bemüht, mit weiteren Veröffentlichungen im Halbjahrestakt das Interesse für den großen französischen Romancier (wieder) zu erwecken. Doch während Der Briefwechsel mit Reynaldo Hahn vermutlich nur Proust-Fans anspricht, könnte das mit der SWR2-Hörspieladaption Sodom und Gomorrha durchaus gelingen. Wie der Titel ankündigt, handelt es sich um eine Vertonung des gleichnamigen vierten Bands von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (den Soundtrack von Hermann Kretzschmar hat das Ensemble Modern eingespielt). Von den sieben Bänden von À la recherche du temps perdu lediglich einen für eine Verarbeitung auszuwählen, ist nicht ungewöhnlich. Vor 19 Jahren brachte Chantal Akerman mit La captive eine Verfilmung des fünften Bands in die Kinos, in dem sie die für beiden Seiten qualvolle Liebesbeziehung des Ich-Erzählers zu Albertine in den Mittelpunkt stellte.

Der Band Sodom und Gomorrha markiert in Prousts großem Roman ohnehin einen Wendepunkt. Gleich zu Beginn entdeckt der Ich-Erzähler zufällig, dass zwischen einem Baron, Monsieur de Charlus, und einem Schneider eine sexuelle Beziehung besteht – psychologisch ist nicht leicht vorstellbar, dass jemand eine solche Entdeckung im Erwachsenenalter macht, und der Ich-Erzähler steht damit im vollkommenen Gegensatz zu seinem Autor, der bereits als junger Mann um sein schwules Begehren wusste. Die Entdeckung einer geheim gehaltenen homosexuellen Beziehung ist für den Ich-Erzähler so bedeutend, dass Proust ursprünglich plante, alle weiteren Bände im Untertitel ebenfalls Sodom und Gomorrha zu nennen. Mit ihr wird der Erzähler, der bis dahin genauestens die feinen Nuancen der Etikette registriert und notiert, auch noch der versteckten Seiten der menschlichen Gesellschaft gewahr, eines Lebens im Verborgenen, und nicht zuletzt seine spätere obsessive Eifersucht gegenüber Albertine hat hier eine ihrer Quellen – denn er unterstellt seiner Geliebten auch erotische Beziehungen zu ihren Freundinnen.

Das Hörspiel Sodom und Gomorrha beginnt wie der fünfte Band von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Nachdem der Ich-Erzähler, hier klar Marcel benannt (während der Name im Roman eher als eine Möglichkeit aufscheint), de Charlus und Jupien beobachtet und belauscht hat, führt ihn seine Entdeckung zu dem berühmten Vergleich des Schicksals Homosexueller mit dem der Jüdinnen und Juden. Der moderne Antisemitismus ist eines der anderen großen Themen von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, die Dreyfus-Affäre begleitet die Romanerzählung im Hintergrund. Wie es im Roman heißt, meiden sich beide in der Öffentlichkeit, sind „bemüht um jene, die ihnen am gegensätzlichsten sind, die nichts mit ihnen zu tun haben wollen“. Das parallele Schicksal zwischen einem homosexuellen Mann, in diesem Fall einem Adligen, für den der gesellschaftliche Absturz nach einem Outing kaum größer sein könnte, und einem der jüdischen Freunde des Ich-Erzählers prägt auch die Begegnung der beiden Männer am Schluss von Sodom und Gomorrha.

Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit szenisch umzusetzen, ist nicht leicht. Denn was den Roman zu einem Klassiker der literarischen kritischen Moderne gemacht hat, ist gerade, dass er auf den Erinnerungen eines fiktiven Erzählers basiert, der, wie Proust 1913 selbst in einem Brief erläuterte, erkennen muss, dass die anderen Personen später „das genaue Gegenteil dessen tun“, was man nach dem ersten Band von À la recherche du temps perdu „erwartet“. Auf einige seiner Fragen erhält der Erzähler Marcel keine abschließende Antwort, so auf eine der quälendsten, ob Albertine ihn betrogen hat, ob sie ihn trotzdem geliebt hat und ob sie gleichwohl eine glückliche Liebesbeziehung geführt haben. So ist Albertine im Roman einerseits eine reale Person wie alle anderen, andererseits kann vieles von dem, wie sie uns beschrieben wird, vollkommen falsch sein. Beeindruckend ist Lilith Stangenbergs Verkörperung von Albertine, die in der Mischung zwischen Einfalt, Naivität und Oberflächlichkeit zwischen realer Frau und Imagination changiert und die ideale Projektionsfläche für Marcels Obsessionen abgibt. Max von Pufendorf spricht den adligen Freund des Erzählers, Robert de Saint-Loup, hingegen als den sexistischen Macho, als der er sich im Verlauf der Erzählung herausstellt; sein Engagement für Dreyfus, mit dem er sich von seiner antisemitischen Adelsfamilie Guermantes angenehm abhebt, ist dabei nicht mehr erkennbar. Gerd Wameling, der den Baron Charlus darstellt, hat es im Vergleich leichter, denn im Deutschen besteht zwischen den Sprechweisen, die man snobistischen Adligen und die man femininen schwulen Männern zuschreibt, ohnehin eine Nähe.

Wie jede Inszenierung setzt auch ein Hörspiel eigene Akzente. So lässt die Information des Erzählers – Michael Rotschopf wechselt wie schon bei der Hörspielfassung von Kafkas Schloss routiniert zwischen Erzähler und Figur –, er habe sich „wegen der Dreyfus-Affäre mehrfach furchtlos duelliert“, aufhorchen. Im Roman geht diese Information im Erzählfluss unter, die Duelle werden nirgends ausführlich geschildert und passen nicht wirklich zu dem eher beobachtenden Charakter des Erzählers.

In welchem Verhältnis standen Marcel Proust und Reynaldo Hahn zueinander? Als junge Männer führten sie, so der Biograf Edmund White, ein „(für damalige Zeiten) erstaunlich offenes Liebesverhältnis“. Die Briefe, die in Der Briefwechsel mit Reynaldo Hahn versammelt sind, zeigen eine Beziehung voller Leidenschaft und Zuneigung. Im Juli 1896 schreibt Proust an Hahn, dieser sei „neben Maman diejenige Person, die ich am meisten liebe auf der Welt“. Kurz vor Prousts Tod schreibt ihm Hahn, enttäuscht, seinem todkranken Freund nicht helfen zu können, das Gleiche. Man muss dabei jedoch immer berücksichtigen, dass diese Briefe nie zur Veröffentlichung bestimmt waren. Ein Jahr vor seinem Tod, im Januar 1921, hatte Proust verfügt, dass „von mir keine Korrespondenz aufbewahrt, mithin auch nicht veröffentlicht wird“. Wer auf Fernreisen im Zug Telefonate von Liebenden mitangehört hat, kennt das Wechselbad, in das man auch bei der Lektüre der Briefe gerät: berührt von den tiefen Gefühlen, die die beiden füreinander hegten, fasziniert von intimen Details, dann wieder gelangweilt von Unverständlichem oder peinlich berührt, weil die ausgetauschten Worte eben nicht für fremde Augen oder Ohren bestimmt waren.

Wer Auf der Suche nach der verlorenen Zeit gelesen hat, mag nach Spuren des literarischen Werks suchen und sich gleich im zweiten Brief, vom Spätsommer 1894, wähnen, fündig geworden zu sein. In ihm kündigt Proust an, einen literarischen Text der Art fertigzustellen, die „in den Läden unter der Bezeichnung ‚Erinnerungen‘ gehandelt“ werden. Zehn Jahre später schickt Proust seinem Freund vier Pastiches mit der Frage, ob „es wünschenswert wäre, wenn der Saal den Saal von damals wiederaufleben ließe“. Noch ein weiteres Jahr später stellt er fest, wie sehr „alle Leute, die ich kannte, gealtert sind“. Beide Motive kennt man aus dem letzten Band von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Bewusste Vorarbeiten können das kaum sein. Aber man kann sich vorstellen, wie bestimmte Themen in Proust gären. 1912 schickt er Hahn einen literarischen Entwurf und eine Liste möglicher Titel, wie Die Spiegelungen der Vergangenheit oder Vor einigen Stalaktiten des verronnenen Tages. Im November schreibt er schon von seinem „Buch Die Verlorene Zeit“. Ein Jahr später, im November 1913, erscheint Du côté de chez Swann.

Nachdem der Erste Weltkrieg begonnen hat, wird sein langjähriger Freund als Soldat eingezogen und an die Front geschickt. Proust hofft auf ein glückliches Wiedersehen, „wenn wir nicht zu viele Freunde zu beweinen haben. Übrigens weine ich auch über die Unbekannten. Ich lebe nicht mehr.“ Proust lebte zu dieser Zeit eigentlich nur noch, um zu schreiben, gewissermaßen mit den Toten der Vergangenheit und der Zukunft. Über seine Liebe zu seinem Chauffeur Alfred, der bei einem Flugzeugabsturz starb, gesteht Proust in einem Brief, wie sehr er ihn noch liebe, den er „aber nur durch die Erzählungen“ anderer kennt. „Das ist eine Zuneigung aus zweiter Hand.“ Diese Schilderung, bittet Proust Hahn, möge dieser für sich behalten. Er werde vielleicht darüber schreiben, aber dann „unter dem Pseudonym Swann“.

Titelbild

Marcel Proust: Der Briefwechsel mit Reynaldo Hahn.
Herausgegeben und übersetzt von Bernd-Jürgen Fischer.
Reclam Verlag, Stuttgart 2018.
574 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783150111703

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Marcel Proust: Sodom und Gomorrha. Mit Michael Rotschopf, Lilith Stangenberg, Stefan Konarske, Gerd Wameling u.v.a. Musik: Ensemble Modern.
Der Hörverlag, München 2018.
5 CDs + 1 Booklet (21 Seiten), 29,99 EUR.
ISBN-13: 9783844522020

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