Der Mensch ist des Menschen Feind

Ingo Reuter analysiert die Endzeitserie „The Walking Dead“ und führt uns zugleich die Brüchigkeit der Gegenwart vor Augen

Von Halina HackertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Halina Hackert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ursprünglich aus dem haitianischen Voodoo-Kult stammend und eng mit der Kolonialgeschichte des Landes verknüpft, hat sich der Zombie, das untote Wesen, das sich vom Fleisch noch lebender Menschen ernährt, rasch seinen populärkulturellen Weg durch die Welt der Bücher, Comics, Filme und Serien gebahnt. Vor allem der Regisseur George A. Romero setzte mit seinem ersten Zombie-Film Night of the Living Dead (1968) neue Maßstäbe, indem er das Genre des Zombiefilms von der puren Horrorfiktion in ernstzunehmende Gesellschaftskritik überführte. Zombies dienen als Narrativ der Krise und sind in Zeiten wirtschaftlicher und sozialer Unsicherheit längst zu einer Metapher für die Erosion gesellschaftlicher Ordnung geworden. Der anhaltende apocalyptic turn sowohl in der Literatur als auch im Film hat den Zombie als Krisenparameter wieder stark ins Bewusstsein gerückt, was sich nicht zuletzt auch an der überaus erfolgreichen, seit 2010 laufenden und im deutschen Fernsehen mittlerweile auf acht Staffeln angewachsenen Serie The Walking Dead zeigt.

In seinem Buch The Walking Dead. Über(-)leben in der schlechtesten aller möglichen Welten analysiert der Religionspädagoge Ingo Reuter dieses Endzeitszenario als einen dystopischen Weltentwurf, der radikal pessimistisch über Mensch und Gesellschaft urteile und keinerlei Raum mehr für Hoffnung und Erlösung lasse. Hoffnung, so Reuter, werde zwar thematisiert, aber nur, um regelmäßig zerstört zu werden.

In Atlanta, Georgia erwacht der Polizist Rick Grimes, die zentrale Figur der Serie, aus dem Koma. Er findet eine aus den Fugen geratene Welt vor, die von Horden wandelnder Untoter bevölkert wird. Die Infrastruktur liegt brach, die Versorgung ist zusammengebrochen, die Häuser stehen leer und Rick muss sich mit anderen Überlebenden gegen die Invasion von Zombies, die hier Beißer oder Streuner genannt werden, verteidigen und um das eigene Überleben kämpfen. Auf der Suche nach einem geeigneten Überlebensort ringt Ricks „moralische Horde“ zu Beginn noch um gewohnte demokratische Strukturen und solidarische Werte. Sie diskutiert, wägt ab und begreift sich als „Familie“, die um knappe Ressourcen kämpfend dennoch ihre moralische Integrität bewahren will.

Bald muss sie jedoch erkennen, dass in einem rechtsfreien Raum längst nicht mehr die Zombies die eigentliche Gefahr darstellen, sondern andere überlebende und völlig unberechenbare Gruppen, die nicht nur ähnliche tribalistische Strukturen, sondern auch eigene Herrschafts- und Gewaltformen ausgebildet haben. Wir oder die Anderen wird nun zu einem blutigen Leitmotiv der Serie, in der schließlich auch „die empathische Perspektive auf das, was Menschsein heißt“ endet.

Der Andere als permanente Bedrohung zwingt der Gruppe zunehmend Entscheidungen auf, die auf  der Basis von Nutzenabwägungen, also utilitaristisch, zu treffen sind. Die Frage, ob ein potenziell gefährlicher Gefangener präventiv getötet werden soll oder nicht, bildet nur den Auftakt in einer Reihe weiterer Konflikte, die im Daseinskampf immer wieder neu verhandelt werden müssen. Misstrauen und Paranoia führen unweigerlich dazu, dass verbliebene quasi semi-demokratische Strukturen der Gruppe aufgeweicht werden. Ricks Ausspruch am Ende der 2. Staffel „Ab jetzt ist das hier keine Demokratie mehr“ markiert den Wendepunkt vom blutrünstigen Zombiefilm zu einem „postapokalyptischen Epos“, in dem nun grundsätzliche ethische, philosophische und religiöse Fragen im Vordergrund stehen.

Die Menschheit, so Reuter, ist in eine Art Naturzustand zurückgefallen, in der „die Überlebenden aus Angst um ihr eigenes Leben in einen Kampf aller gegen alle eintreten“. Damit knüpft Reuter, wie bereits auch in anderen Studien zu The Walking Dead, unmittelbar an die  Philosophie Thomas Hobbes’ an, der in seiner Abhandlung Leviathan davon ausging, dass in einer Gesellschaft, in der jegliche Gesetze und Regeln aufgehoben sind, das Handeln nur noch vom jeweiligen Eigeninteresse, vom Selbsterhaltungstrieb bestimmt sei. Im Unterschied zu Hobbes, so Reuter, sei in The Walking Dead jedoch eine „erheblich stärkere Kritik an ungerechten Herrschaftsformen“ auszumachen, da hier Gesellschaftsmodelle vorgeführt und problematisiert werden, die unterschiedlichste totalitäre und diktatorische Systeme spiegeln. Es gibt Gemeinschaften, die sich im Sinne der gated communties abschotten, jedoch relativ gewaltfrei leben, doch die meisten Gruppen agieren überlebenstechnisch im Sinne der Hobbesschen Maxime Homo homini lupus.

Insbesondere die Gruppe der Saviors nimmt einen übergeordneten Platz ein, in der deren absoluter Herrscher Negan nicht nur ein System aus Schutzgelderpressungen, sondern auch ein im Foucaultschen Sinne perfides Machtsystem aus Überwachung und Bestrafung etabliert hat. Der Kampf zwischen Ricks und Negans Gruppe, der sich über mehrere Staffeln erstreckt, mündet in einen erbitterten Kampf, in dem schließlich auch Rick zu einem rücksichtslosen Mörder mutiert.

Everybody turns – jeder verwandelt sich – das ist die grundpessimistische Aussage der Serie, die Reuter anhand unterschiedlicher Charaktere herausarbeitet. Dabei geht es längst nicht mehr um die Angst vor dem drohenden Biss des Zombies und der daraus resultierenden Verwandlung in einen Untoten ­­– die immer auch als eine Art Urangst des Menschen vor Tod, Verwesung oder Verlust der Identität gegenwärtig ist –, sondern vor allem um die moralische Wandlung des Menschen im permanenten Ausnahmezustand.

Letztlich – so macht es der ursprünglich pazifistische, Aikido praktizierende und sich zu einer Tötungsmaschine entwickelnde Morgan deutlich – ist auch jeder Lebende, der ohne moralische Reflexionen „rücksichtslos nur noch seinem eigenen Überlebenswillen folgt“, ein Zombie.

Während die Moral verfällt und die Kämpfe immer heftiger werden, rücken auch die zu Beginn noch erörterten religiösen Sinnfragen zunehmend in den Hintergrund. Obwohl Reuter zahlreiche biblische und religiöse Anspielungen herausarbeitet wie beispielsweise das Motiv der Opferung Isaaks – für die Protagonisten ist die Religion „gänzlich nichtssagend“ geworden. Die verheerende Botschaft der Serie, so sieht es Reuter, sei die des Untergangs. Sie schreit den Zuschauenden entgegen, dass das Dasein sinnlos und von keinem Gott Rettung zu erwarten sei.

Reuters gut lesbare Studie erinnert zuweilen an Joachims Körbers 2014 erschienene Analyse Die Philosophie bei Walking Dead, in der dieser jedoch noch eine eher optimistische Sichtweise favorisierte, indem er davon ausging, dass Menschlichkeit in einer Welt des Schreckens möglich sei. Doch mit dem Fortgang der Serie und der nun durchaus berechtigten pessimistischen Interpretation führt Reuter weitaus drastischer vor, wie fragil der zivilisatorische Zusammenhalt ist, wenn jegliche Wertesysteme zusammenbrechen und der Mensch nur noch instinktiv vom reinen Überlebenswillen gesteuert ist. Dass dystopische Fiktionen wie The Walking Dead dabei nicht allein die nervenkitzelnde Angstlust des Zuschauers bedienen, sondern viel über unsere präapokalyptische Welt, über die unmittelbare Gegenwart erzählen, untermauert Reuter immer wieder anhand aktueller Beispiele. Der Zusammenbruch staatlicher Ordnungen – Krieg, Terror, Hunger – ist nicht nur in Ländern wie Afghanistan oder der Demokratischen Republik Kongo – einem Land mit einem der blutigsten Konflikte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs – brutale Wirklichkeit. Neben (wenigen) demokratischen Systemen mit weitgehend funktionierenden politischen Strukturen, also zumindest ansatzweise offenen Gesellschaften, so Reuter, stünden Parteidiktaturen wie in China, Oligarchien wie in Russland beziehungsweise ein weltweit erstarkender Nationalismus, soziale Zerrüttung und die Spaltung der Gesellschaft.

In diesem Sinne will Reuter die Serie auch als filmische Mahnung verstanden wissen und plädiert entschieden dafür, die „Zivilisation mit ihren Institutionen zu bewahren“ und Rechtssicherheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Frieden aufrechtzuerhalten.

Schließlich muss die Studie mit einem Cliffhanger enden: denn noch ist die Serie nicht abgeschlossen und niemand weiß, ob die Walking-Dead-Welt dem Untergang geweiht ist oder die Hoffnung der Zuschauer auf eine Neukonstituierung sozialer und politischer Ordnung erfüllt wird. Man darf gespannt sein, wie sich die Filmemacher entscheiden.

Titelbild

Ingo Reuter: „The Walking Dead“. Über(-)Leben in der schlechtesten aller möglichen Welten. Interpretation einer Fernsehserie.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2018.
147 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-13: 9783826065958

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