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Der von Patrizia Carmassi und Gia Toussaint herausgegebene Sammelband „Codex und Material“ eröffnet neue Zugänge zur Handschriftenkultur

Von Alissa TheißRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alissa Theiß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Codex und Material, der Titel bringt auf den Punkt, um was es in dem Sammelband geht: um die Materialität mittelalterlicher Handschriften, und darum, welche Auswirkungen die physische Beschaffenheit auf den Inhalt der Codices haben kann. Nachdem der material turn seit gut 30 Jahren als mal mehr, mal weniger greifbarer Begriff durch die geisteswissenschaftlichen Debatten zieht, liegt eine Stellungnahme zur Verortung des Bandes innerhalb dieser „Wendendiskussion“ auf der Hand. Nach drei Jahrzehnten Definitionsbestrebungen, mag es LeserInnen geben, die mit gedämpftem Enthusiasmus auf die Einleitung blicken und fürchten, dass hier, wie es eben Usus ist, seitenlang über Theorien und Methoden des material turn referiert wird, ohne dass noch etwas Neues zur Diskussion beigetragen werden könnte. Doch es kommt ganz anders: Die Herausgeberinnen Patrizia Carmassi und Gia Toussaint steigen nämlich ohne repetitive Theorierezeption direkt in die Materie ein. Somit wird der material turn auf der Metaebene vollzogen. Die Hinwendung zum Material, ist worum es in diesem Band geht. Hier stehen neue Erkenntnisse im Vordergrund.

Die Publikation geht zurück auf das Arbeitsgespräch Codex und Material – Jenseits von Text und Bild?, das im Oktober 2015 an der Herzog August Bibliothek abgehalten wurde. Insgesamt versammelt der Band zwölf Beiträge, die sich alle unterschiedlichen Aspekten von Materialität mittelalterlicher Codices widmen. Die Aufsätze sind sehr klug arrangiert und nehmen thematisch Bezug aufeinander, so dass sich der Band liest, als würde er aus einer Feder stammen.

Den Auftakt macht Carmassi mit dem Beitrag „Welche Materialität“, in dem sie zunächst antike Autoren zu Wort kommen lässt, und deren Aussagen über die Materialität ihrer Schriftträger vorstellt. Die Autorin untersucht, ob die Buchkonstruktion und –gestaltung den Inhalt des Buchs bestimmt und ob diese auch Einfluss auf die Rezeption haben. Um diese Fragen zu beantworten, prüft sie exemplarisch zeitgenössische Paratexte, in denen Bezug auf die Materialität des Buchs genommen wird und kommt so zu dem Schluss, dass Bücher, beziehungsweise deren Bestandteile, durch eine Einteilung in „Leib“ und „Glieder“ wie ein Körper – nicht unähnlich dem menschlichem – wahrgenommen wurden.

Doch wie sahen Rezeption und Gebrauch von Schriftrollen aus? Dieser Frage geht Andrea Worm im anschließenden Beitrag nach. Anhand des Compendium historiae in genealogiae Christi von Petrus von Poitiers, das sowohl in Buch- als auch in Rollenform überliefert ist, untersucht die Autorin, inwieweit die medialen Eigenschaften von Codex und Rolle Auswirkungen auf die Präsentation des Inhalts haben. Der Einfluss der Materialität ist hier augenfällig: bietet doch die Rolle mehr Platz, lange Stammbäume aufzunehmen als die Buchform. Worm nimmt an, dass das Compendium historiae ursprünglich als Schriftrollentext konzipiert wurde, da nur so die grafisch-lineare Struktur des Werks wirklich als Kontinuum wahrgenommen werden kann. Die Rolle gibt dem Betrachter einen ungebrochenen Überblick über die Heilsgeschichte. Der kontinuierliche Ablauf der Zeit kann so unmittelbar nachvollzogen werden. Die Ordnung der Geschichte wird mikrokosmisch abgebildet. Doch die Rollen haben einen Nachteil: sie sind im Gebrauch umständlich. Im Codex kann immer direkt zur jeder gewünschten Stelle geblättert werden. Interessant ist, dass das Medium Rolle das Compendium historiae als eigenständiges Werk überliefert, während es in Buchform gemeinsam mit anderen Texten oder genealogischen Schaubildern steht. Die Mitüberlieferung wurde also inhaltlich und formal dem Textträger angepasst. Worm kommt zu dem Fazit, dass das Format des Pergaments – die Kuhhaut – die Art der Präsentation des Inhalts sowie die Art ihrer Wahrnehmung bestimmt.

Doris Oltrogge und Robert Fuchs legen den Fokus auf die Verwendung von Gold in Handschriften. Fuchs stellt in seinem Aufsatz zudem die gängigsten Analysemethoden vor. Einen genauen Blick auf die Miniaturen nimmt auch Kathryn Rudy vor. Anhand von Beschädigungen und anderen Gebrauchsspuren rekonstruiert sie minutiös die Verwendung eines Passionals der Äbtissin Kunigunde durch verschiedene Epochen.

Die Verbindung von Text und Textil nehmen zwei Beiträge in den Blick. Welche Aura die unterschiedlichen Materialien evozieren, wird hier besonders augenscheinlich: Während Anna Bücheler sich mit textilen Elementen auf Textzierseiten im Evangeliar Heinrichs des Löwen beschäftigt, verfolgt Henrike Lähnemann Pergamentstreifen, die als Saum- und Besatzverstärkung für Skulpturen-Ornate im Kloster Wienhausen dienen, bis in ihre Buchform zurück. Sie macht deutlich, dass auch Fragmente in Zweitverwendung wertvolle Archive darstellen, denn sie zeugen davon, dass Handschriften und ihre Texte dem ständigen Wechsel und der Anpassung an neue Gebräuche und Vorlieben unterworfen sind.

Bücheler zieht für ihre Untersuchung der Funktion von Textilseiten verschiedene Beispiele heran, die sie mit den textilen Ornamenten des Evangeliars vergleicht. So kann sie nachweisen, dass die Schmuckseiten zwischen den einzelnen Abschnitten nicht etwa trennende, sondern verbindende und umhüllende Funktionen hatten. Gleichzeitig erinnere das Umblättern der Textilseiten an das Öffnen eines Vorhangs, womit allegorisch auch der Schriftsinn enthüllt wird: die Textilseiten stellen sich „dem Betrachter als Materialmetapher in Form eines Schleiers der mystischen Erkenntnis“ entgegen, „den es vom Buchstabensinn zu heben gilt“.

Gia Toussaint geht in ihrem Beitrag der Entstehung von trompe-l’œil-Effekten in flandrischen Stundenbüchern des 15. Jahrhunderts nach und legt dar, wie Gebetbücher als Aufbewahrungsort persönlicher Dinge dienten und damit zu Erinnerungsspeichern wurden, während gemalte Dinge geistige Räume öffnen können und so Transzendenz erfahrbar werden lassen. Mit der Darstellung von Materialität beschäftigt sich auch Federica Toniolo, die anhand von norditalienischen Handschriften aus der gleichen Zeit zeigt, wie gemalte Architekturelemente den Blick in einen dreidimensionalen Raum öffnen und so für den Betrachter wie ein Fenster funktionieren.

David Ganz und Jörg Richter erweitern den Blick auf die Bucheinbände. Während sich Richter mit der Einbandhaptik von Büchern beschäftigt, die zum persönlichen Gebrauch genutzt wurden, zeigt Ganz, wie Prachteinbände Bücher zu Schatzobjekten werden lassen, die Heiligkeit evozieren und so einen festen Platz in der liturgischen Performanz einnehmen. Die edle Buchhülle wird gleichsam zum sakramentalen Körper Christi.

Der Frage, mit welcher Intention die visuellen Ausstattungen von Handschriften verändert wurden, geht Kristin Böse nach und untersucht dazu exemplarisch drei Handschriften aus dem Norden der Iberischen Halbinsel. Dabei kommt sie zu überraschenden Erkenntnissen, die das Potenzial haben, unser Verständnis von mittelalterlicher Manuskriptherstellung zu verändern. In den untersuchten Beispielen bilden neben Besitzerwechsel besonders liturgische Reformen die Ursache für Veränderungen in den Text- und Bildarrangements. Böse plädiert dafür, Handschriften als offene Codices zu begreifen. Es gehe nicht um Vollendung, sondern um den sich ständig erneuernden Prozess der Entstehung. Ein Codex ist ein vermeintlich abgeschlossenes und zugleich stetig erweitertes Werk.

Man könnte mittelalterliche Handschriften also fast als lebendig begreifen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Patrizia Carmassi / Gia Toussaint (Hg.): Codex und Material.
Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 34.
Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2018.
336 Seiten, 88,00 EUR.
ISBN-13: 9783447109376

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