Das Herz der Avantgarde

Wuppertal erinnerte an Else Lasker-Schüler zu ihrem 150. Geburtstag

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Als die Literarische Gesellschaft Elberfeld im Oktober 1912 zur Dichterlesung mit Else Lasker-Schüler lud, war der Kaisersaal der historischen Stadthalle nur halb gefüllt. Und das Wuppertaler Stadtvolk war auf die grelle Erscheinung der Dichterin und ihren „eigentümlichen“ Vortragsstil überhaupt nicht vorbereitet: „Das Publikum war starr vor Staunen, bis es sich der Wirklichkeit erinnerte und kopfschüttelnd, lachend und schwatzend dasaß oder – verschwand.“ Es drohte der Abbruch des Abends, als Lasker-Schüler sich direkt an die Mitglieder der Literarischen Gesellschaft wandte: „Ich bitte um Ruhe, ich lese hier das Allerfeinste vor. So geht das nicht weiter, ich bin das anders gewöhnt.“

Wie anders reagierte da das heutige Publikum! Derselbe Ort, derselbe Saal (nun nicht mehr nach dem Kaiser, sondern nach Mendelssohn benannt): In voller Besetzung erwartete eine weltoffene, mit dem Werk und der Dichterin vertraute Zuhörerschaft das Programm des Abends. Gefeiert wurde der 150. Geburtstag einer ungewöhnlichen Erscheinung, der nur die Hälfte an Lebensjahren vergönnt gewesen war. Else Lasker-Schüler, 1869 hineingeboren in das gut betuchte, ja vermögende Elberfelder Bürgertum (ihr Vater brachte es zum Privatbankier und besaß im vornehmen Brille-Viertel ein stattliches Haus), starb 1945 halb vergessen in Jerusalem.

Dass sie seit langem zu den bedeutendsten Dichterinnen des 20. Jahrhunderts gezählt werden muss, ist neben der herausragenden Qualität ihres Œuvres vielen Personen und Institutionen zu danken: den einflussreichen Freunden (wie Samuel Josef Agnon und Werner Kraft) und berühmten Wegbegleitern (wie Gottfried Benn), den tüchtigen Verlagen, die ihr Werk schließlich doch noch fand (heute sind anspruchsvolle Editionen von ihr im Jüdischen Verlag, bei Reclam, Wallstein und anderswo greifbar), ihrem umsichtigen Nachlassverwalter Paul Alsberg sowie der Else Lasker-Schüler-Gesellschaft, die 1990 von einem gebürtigen Ost-Berliner und DDR-Flüchtling in Wuppertal gegründet wurde. Der vormalige Bergmann und ehemalige WDR-Redakteur Hajo Jahn wollte der „Verscheuchten“ ihre Heimat zurückgeben; er war es auch, der die 150-Jahr-Feier geplant, vorbereitet und organisiert hat. Seit langem hatte er der Dichterin in ihrer Heimatstadt den Boden bereitet, mit Ausstellungen, Lesungen, einem unregelmäßig erscheinenden Almanach und zahllosen Aktivitäten mehr. Hajo Jahn führte durch den Abend und reklamierte das Werk der Lasker-Schüler für den Toleranzgedanken. Da war es nur folgerichtig, dass zwei Schüler der Else-Lasker-Schüler-Gesamtschule einen Abriss ihres Lebens rappten: Mehmet Kaldik und Eral Topay, beide, wie man heute sagt: „mit Migrationshintergrund“, luden dazu ein, das Leben der Dichterin als Prosagedicht und Passionsgeschichte an sich vorüberziehen zu lassen. Viel Applaus brauste auf, und niemand schlich hinaus, als ihr lakonischer Rap in den letzten Vers mündete: „1945: Else starb“. Nachzulesen ist dieser Parforceritt durch Elses Vita im „Meinwärts“-Magazin der Else Lasker-Schüler-Gesellschaft, das alle Aktivitäten des Jubiläumsjahrs bündelt.

Ähnlich gebannt folgte man der getanzten Uraufführung von Else Lasker-Schülers Hommage auf den Kartoffelpuffer. Crystal Guillebeaud, die einst zum Tanztheater Wuppertal Pina Bausch gehört hatte, bettete ihre Performance in ein historisches Lehrstück ein, indem sie aufzeigte, wie unbekümmert oder wie gezielt ahistorisch Lasker-Schüler mit Daten und Fakten gespielt habe. Lasker-Schülers Hymne auf den Kartoffelpuffer (eine der beiden „Ulkiaden“, 1930 bzw. 1932) ist eigentlich eine Prosa-Eloge, in welche Gedichte oder Verse nach Art von Heines Versepos „Deutschland. Ein Wintermärchen“ inseriert sind:

Kaiser Karl zu Aachen saß,
Am liebsten auf dem Throne,
Wenn er Le Reibekuchen aß
Mit starker Kaffeebohne.

Dem Prosagedicht zufolge stand die Wiege (bzw. „Pfanne“) des Kartoffelpuffers in Elberfeld-Barmen (dem späteren Wuppertal): Hier hat der „Reibepfannekuchen“ das Licht (bzw. „die Butter“) der Welt erblickt, hier allein wird er so zubereitet, wie es sich geziemt. Der Hymnus feiert den Reibekuchen als „Nationalgericht“, das leicht bekömmlich sei und selbst von der Berlin-Brandenburgischen Küche nicht verdorben werden könne: „Daß man den Berlinern nicht abgewöhnen kann, das begehrteste Gericht aller Gerichte in Nierenfett oder gar in Schweineschmalz zu backen.“ Kaiser Karl freilich wusste vom Reibekuchen noch nichts, und wohl auch noch nichts von frisch aufgebrühtem Kaffee.

Als Lasker-Schüler ihr kulinarisches Loblied verfasste (der Erstdruck erfolgte 1932 in ihrem Sammelband „Konzert“), gehörte sie schon lange zur Berliner Bohème. Etliche Male bereits hatte sie ihren Verlag gewechselt, und endlich war ihr der Geduldsfaden mit ihren Verlegern gerissen: „Ich räume auf!“ heißt ihre bittersüße Verlegerschelte, die am Abend von drei Schauspielern (Thomas Braus, Julia Reznik und Lena Vogt) mit verteilten Rollen auszugsweise verlesen wurde. Die Schauspieler rezitierten auch zwei Gedichte, von denen eines („Weltflucht“) das geheime Motto des Abends enthielt, das Kunstwort „Meinwärts“. Ihr Gedicht „Weltflucht“ wurde von der Dichterin in ein „mystisches Asiatisch“ übersetzt, das entfernt an die „Ursonate“ von Kurt Schwitters erinnern mag:

Elbanaff: Min salihihi wali kinahu
Rahi hatiman
fi is bahi lahu fassun –
Min hagas assama anadir,
Wakan liachad abtal,
Latina almu lijádina binassre.
Wa min tab ihi
Anahu jatelahu
Wanu bilahum.
Assama ja saruh
fi es supi bila uni
El fidda alba hire
Wa wisuri – elbanaff!

Auch das andere Gedicht, „Mein blaues Klavier“ – vielleicht ihr berühmtestes –, bezeugt Lasker-Schülers ungewöhnliche Wort- und Reimeskunst.

Wie bei dieser Künstlerin nicht anders möglich, mündete der Abend in ein Multimediastück mit Jazz-Klängen und einem interkonfessionellen Glaubensbekenntnis („Credo“), vorgetragen von der Saarbrücker Künstlertruppe „Die Redner“.

Das Magazin zum Jubiläumsjahr tritt als bunter Strauß von historischen Beiträgen und aktuellen Bezügen auf: Avital Ben-Chorin (die Witwe Schalom Ben-Chorins) erzählt, wie sie der Dichterin einst Buntpapierrollen nachtrug, die Else sich unter den Arm geklemmt hatte: „Da war es kein Wunder, dass ihr immer wieder eine Rolle herunterfiel. Ich ging also als eine Art ‚Nachlese‘ hinter ihr her, hob die jeweils gefallene Rolle auf und reichte sie ihr.“ Klabund bestimmt Lasker-Schülers Verhältnis zum „Blauen Reiter“, und der Wuppertaler Kunsttheoretiker Bazon Brock definiert ELS als mythische Figur „zwischen femme fatale und der heiligen Mutter Teresa“. Schauspiel-Professor Gerold Theobald (Folkwang Universität der Künste, Essen) lobt die „Spiritualität des Augenblicks“ in Elses Stücken. Die Autorin habe, so Heiner Bontrup, nach neuen Ausdrucksformen gesucht, nach „Gegenentwürfen“: Bei dieser Dichterin „ging es nicht um ‚Dichtung und Wahrheit‘, sondern um ‚Dichtung als Wahrheit‘.

Hajo Jahn (Hg.): Meinwärts. Das Herz der Avantgarde.
Else Lasker-Schüler-Gesellschaft, Wuppertal 2019.
68 Seiten, 5 Euro.
ISBN 978-3-9812657-9-8