“…and we built the wall to keep us free”

In seinem dystopischen Roman „Die Mauer“ schottet der britische Autor John Lanchester sein Land von den Bedrohungen der Außenwelt ab

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Vorstellung, eine Mauer zu bauen, um das eigene Territorium vor unerwünschten Besuchern zu schützen, hat in diesen Tagen ja bekanntermaßen Hochkonjunktur. Der Unterschied zu früheren Zeiten ist jedoch, dass Mauern nicht mehr nur primär als Metapher dienen, sondern konkrete Bauwerke aus grauem Beton entstehen sollen, welche die angeblich drohende Massenzuwanderung von vorgeblich kriminellen Menschen zu stoppen. Wie lange glaubte man eigentlich nach dem 9. November 2016 noch, „The Wall“ sei ebenso eine Metapher für ein höheres Maß an Grenzsicherheit im Süden der USA? Doch es ist gerade die Fixierung auf einfache, auch dem Dümmsten leicht vermittelbare Inhalte, welche das vergessen geglaubte Konstrukt der Betonmauer wieder auferstehen ließen. Da kann man im amerikanischen Kongress noch so sehr über eine „Smart Wall“ – also eine Grenze, die mit Hilfe neuester digitaler Möglichkeiten überwacht wird – diskutieren, die sicherlich ein guter Kompromiss für die rivalisierenden Parteien wäre; die Komplexität einer solchen „Smart Wall“ ist nun mal nicht über Twitter vermittelbar, und so bleibt ein imaginierter Koloss, der dann doch wieder, würde er denn tatsächlich gebaut werden, zur Metapher wird. So eine Mauer beherbergt also durchaus ein komplexes Spiel mit Zeichen, und vielleicht letztlich aber doch die Sehnsucht nach auf den ersten Blick einfachen Lösungen.

Diese Idee hat der britische Schriftsteller John Lanchester, der vor einigen Jahren mit seinem Wirtschaftskrisen-Ensemble-Roman Das Kapital auf sich aufmerksam gemacht hatte, aufgegriffen, und lässt in seinem neuesten Roman eine echte Mauer um Großbritannien bauen, die nun Tag und Nacht bewacht werden muss. Es hat nämlich ein nicht näher spezifizierter ‚Wandel‘ in der Welt stattgefunden, wohl eine Art gigantische Klimakatastrophe, die wiederum zu einer Wirtschaftskatastrophe führte, von der die britische Insel – seltsamerweise sollte man in diesen Tagen denken – noch am wenigsten betroffen ist und sich daher vor dem Einfall der so genannten ‚Anderen‘ schützen muss. Da offenbar auch der Wasserspiegel stetig steigt, scheint eine rund sieben Meter hohe Mauer als vernünftige Lösung.

Dies alles erfährt man nur in Bruchstücken, weil der Roman aus der Ich-Perspektive eines jungen Mannes namens Joseph Kavanagh geschrieben ist und mit dessen Einberufung zum Mauerdienst beginnt. Diesen muss jeder junge Mensch in Großbritannien zwei Jahre lang absolvieren, außer, man erklärt sich bereit, zum ‚Fortpflanzer‘ zu werden, denn Kinder werden in eine solche Welt nur ungern hineingeboren. Da Kavanagh jedoch erstens recht indoktriniert erscheint, zweitens kein großes Interesse an Geschichte hat und drittens auch nicht sonderlich intelligent ist, erfährt der Leser fast nichts über die wahren Hintergründe. Wie jeder junge Mensch möchte er nur seine Zeit runterreißen – und das bedeutet für ihn jeden Tag oder Nacht (je nach Schicht) 12 Stunden auf der Mauer zu stehen. Das geht dann zwei Wochen so, dann hat man eine Woche frei und eine Woche Training und wieder geht es auf die Mauer. Die Ausbreitung dieses zermürbenden Rhythmus macht im Grunde den ganzen ersten Teil des Romans aus, der somit eine gelungene Mischung aus Orwell, Huxley und Ballard ist, nur viel eintöniger erzählt, was jedoch intendiert ist und das Grauen von Lanchesters Dystopie erst greifbar macht.

Nur passiert so gut wie nie etwas auf dieser Mauer, denn das System ist derart perfektioniert, dass es Anderen kaum möglich ist, diese zu überwinden, und wenn doch, werden sie aufgrund des fehlenden implantierten Chips, der sie von den Einheimischen unterscheidet, binnen Minuten identifiziert und aufgegriffen. Danach haben sie die Wahl zwischen drei Möglichkeiten: Sie werden wieder aufs Meer geschickt, sie lassen sich einschläfern oder sie werden „Dienstlinge“, ergo Sklaven von reichen Briten. Noch schlimmer erwischt es diejenigen „Verteidiger“ – so die offizielle Bezeichung –, die einen ‚Anderen‘ haben eindringen lassen, denn für jeden Eindringling wird ein Verteidiger auf dem Meer ausgesetzt. Diese stete Angst vor dem sicheren Tod hält die Aufmerksamkeit aufrecht und das System, so wird der Leser bald erfahren, ist gnadenlos.

Dass es nämlich nicht bei der Beschreibung langweiliger Wachdienste (und einer etwas redundant wirkenden Liebesgeschichte) bleibt, kann man bereits erahnen, wenn man die Überschriften der anderen zwei Teile liest: „Die Anderen“ und „Das Meer“. Der zweite Teil beschriebt zunächst einen simulierten, dann einen realen Angriff jener ‚Anderen‘, dient aber letztlich nur als Übergang zum moralisierenden dritten Teil, in dem der Protagonist sich zunächst einem unerbittlichen Überlebenskampf auf dem Meer stellen muss und schließlich auf eine archaische Daseinsform zurückgeworfen wird, die ihm, dem naiven und unbedarften Soldaten, endlich zeigt, was das Menschsein ausmacht. Würde es im dritten Teil bei dieser moralisierenden Botschaft bleiben, müsste man diesen dystopischen Roman als gescheitert betrachten. Doch Lanchester gelingt es tatsächlich, auf den letzten ca. 50 Seiten ein furioses, spannendes Finale zu inszenieren, bei dem der Leser bis kurz vor Schluss nicht weiß, wie es enden soll.

Die Mauer, und dies ist bei näherer Analyse des Romans augenfällig, unterläuft tatsächlich eine Transformation von der konkreten Konstruktion hin zur fernen Metapher, doch durch ihre Abwesenheit verliert sie einerseits für die Protagonisten an Bedeutung, andererseits ist sie gerade in ihrer Absenz ein allgegenwärtiges Phantasma, das eine Grenze zur sogenannten Zivilisation markiert, die nicht mehr überschritten werden kann. Es ist dieses Element, jener Übergang von unreflektierter Anwesenheit zu reflektierter Abwesenheit der Mauer, was diesen manchmal etwas zu klischeehaften Roman dann doch zu etwas Besonderem macht.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

John Lanchester: Die Mauer.
Aus dem Englischen übersetzt von Dorothee Merkel.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2019.
348 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783608963915

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch