Der Engel der Vergangenheit blickt auf Konstantinopel

In ihrem Roman „Ein Winter in Istanbul“ parallelisiert Angelika Overath die historische Schichtung der Bosporusmetropole mit den emotionalen Verirrungen eines Gymnasiallehrers aus der Schweiz

Von Swen Schulte EickholtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Swen Schulte Eickholt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Es gibt ein Bild von Paul Klee, das Angelus Novus heißt“ – so eröffnet Walter Benjamin seine berühmte Reflexion über den Engel der Geschichte in seiner verdichteten Abhandlung Über den Begriff der Geschichte, die er unter dem Eindruck des nationalsozialistischen Terrors kurz vor seinem Tod auf der Flucht verfasst hat. Es gibt auch eine Fotografie von Sinan Cansel, die Angelus Novus heißt und einen struppigen Hund auf einer alten Holzbank zeigt, der den Betrachter direkt anblickt – im Hintergrund die im Dunst verschwindenden Kuppeln der Blauen Moschee. Ich selbst habe dieses Bild das erste Mal in Orhan Pamuks Museum der Unschuld gesehen; es ziert den Katalog zur Ausstellung The Four-Legged Municipality über die teils grausame Geschichte der Istanbuler Straßenhunde, der im Museumsshop erhältlich war. Pamuk hat in dem Roman, auf den das Museum sich bezieht, am Scheitern einer Liebesbeziehung jenes Gefühl verdichtet, das er als hüzün bezeichnet und als melancholisches Bewusstsein der Istanbuler versteht, in einer bedrückenden Zeit kulturellen Niedergangs zu leben, in einer Stadt, deren historische Schichten die kulturelle Blüte unterschiedlicher Kulturen spiegeln. Nun dominiert Cansels ausdrucksstarke Fotografie auch das Cover von Angelika Overaths neuem Roman Ein Winter in Istanbul – das Motiv wird in einer metafiktionalen Volte auch in den Roman integriert, da die Hauptfiguren offenbar den Hund vor der Blauen Moschee sehen, der auf dem Cover abgedruckt ist. (Es ist durchaus wahrscheinlich, dass Overath die Ausstellung im Zuge ihrer durch das verdienstvolle Förderprogramm „Grenzgänger“ der Robert Bosch Stiftung geförderten Recherchen vor Ort gesehen hat.) Nun begibt sich Overath, darin Pamuk ganz ähnlich, auf Spurensuche in den historischen Schichten Istanbuls, Konstantinopels, Byzantions.

So prägen die vielfältigen kulturellen und historischen Verweise, die schon in der Auseinandersetzung mit dem Cover deutlich werden, diesen hochreflexiven Roman insgesamt. Ist die Handlungsebene schnell rekonstruiert – ein schweizer Gymnasiallehrer, der kurz vor der Ehe steht, verliebt sich während eines Istanbulaufenthalts in einen jungen Mann und beginnt eine Affäre –, so wird diese Handlung sehr kenntnisreich in den Stadtraum Istanbuls integriert und in dessen historischen Schichtungen gespiegelt. Denn der Lehrer, Cla, hat ein Stipendium – wohlgemerkt von einer Privatbank − erhalten, um sich dem derzeit so gerne betriebenen Dialog zwischen den Religionen zu widmen. Das bedeutet für Cla vor allem, den historischen Spuren des Cusanus nachzugehen, der 1437 eine Gesandtschaft begleitete, die von Byzanz aus Venedig ansteuerte, um eine Wiedervereinigung der christlichen Kirchen zu bewerkstelligen – im Angesicht der Bedrohung durch das osmanische Reich, das unter Mehmed II. 1453 Konstantinopel auch erobern und damit das byzantinische Reich auflösen sollte. (Eine Tat, die Stefan Zweig wegen des militärischen Genies Mehmed II. immerhin zu den Sternstunden der Menschheit rechnet.) Wenn auch chronologisch geordnet, so lässt Overath einen recht neutralen Erzähler eher episodisch von Clas Recherchen in der Bosporusmetropole berichten, die von Anfang an eher einem Herumirren gleichen, kann Cla doch schon zu Beginn nicht einmal vor sich selbst verbergen, dass seine Reise eigentlich eine Flucht ist: „Er war hier, weil er am Ende war.“ Dennoch folgt er einem Programm der Hingabe, das sich auch dem Leser vermittelt, wenn er bereit ist, sich auf die diskontinuierliche Erzählweise einzulassen: „Die alten Steine anfassen. Die Stadt riechen. Hören. Ja, schmecken auch. Nicht alles war lesend zu begreifen. Er wollte noch einmal Augenzeuge werden und in aller Demut die Räume ernst nehmen.“

Dabei wird der Roman zu einer Meditation über die Zeit. Wie gegenwärtig ist uns Geschichte – oder zerfällt sie uns immer zu Geschichten, in denen wir uns wiederfinden, wie Cla in seinen Forschungen eine homoerotische Liebe des Nicolaus Cusanus konstruiert, die nicht einmal er für historisch wahrscheinlich hält. Cusanus wird für den Roman und Cla gerade deshalb interessant, weil er mit dem Prinzip der „coincidentia oppositorum“ den Zusammenfall der Gegensätze durchdachte: das Gegenwärtige des Nicht-Gegenwärtigen oder – für Cla – die Realisierung des Unrealistischen. Cla folgt im Banne dieser Denkbewegung fast gegen seinen Willen dem türkischen Kellner Baran in die Untiefen Istanbuls. Baran, der entsprechend der Vielschichtigkeit Istanbuls eigentlich griechische Wurzeln hat und damit auch als Person auf das untergegangene Byzanz ebenso wie auf die neuerliche Vertreibung der Griechen aus Istanbul 1923 verweist. Dabei zeichnet Overath ein erfreulich komplexes Bild des gegenwärtigen Istanbuls und vermeidet Ausfälle gegen die Verhältnisse unter Erdoğan vollständig. Vielmehr relativiert sich das derzeitige Geschehen im Blick des Angelus Novus von selbst. Während Benjamins Engel der Geschichte den Weltenlauf nur als Anhäufung von Trümmern erblicken kann (historisch verständlich), so bleibt doch sein anderer Ausspruch realistischer und auch für den Roman wichtiger: „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.“ So wie sich römische Christen, Byzantiner und Muslime wechselseitig als Barbaren wahrnehmen, so erscheint die Eroberung Konstantinopels entweder als Sternstunde der Menschheit oder Untergang des Abendlands. Ob es die Kerkoporta, die kleine vergessene Tür in den Mauern Konstantinopels, die den Osmanen die Eroberung ermöglicht haben soll, nun wirklich gegeben hat oder nicht, die Geschichte, im Großen und im Kleinen, entscheidet sich oft genug durch Zufälle und Nebensächlichkeiten. Und auch wenn Cla durch ein Nahtoderlebnis ein fast epiphanisches Erlebnis hat, so wie Cusanus bei einem Sturm auf hoher See, so ordnen sich die Widersprüche in seinem Inneren kaum – vereinen in einer coincidentia oppositorum lassen sie sich allerdings auch nicht, das scheint Menschenmaß zu übersteigen. So wird Cla von Baran zwar in die Hinterhöfe Istanbuls geführt, in ein verstecktes Hamam, zu einem Derwischkonvent, während er selbst in die historische Tiefe steigt; es scheint aber doch eher Alva zu sein, die betrogene Verlobte des verwirrten Lehrers, die ihn in Istanbul besucht, welche findet, was so viele andere nur suchen: Leichtigkeit in dieser Zeit der Schwere.

Angelika Overath hat einen überzeugenden Istanbul-Roman vorgelegt, der weit jenseits vom Klischee die historische Vielschichtigkeit einer Stadt auslotet und sie in den Verwerfungen des Innenlebens ihres unentschlossenen Protagonisten spiegelt. Dass man sein Glück in Istanbul eher suchen als finden kann, haben uns schon Orhan Pamuks Protagonisten gelehrt.

Titelbild

Angelika Overath: Ein Winter in Istanbul. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2018.
264 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783630875347

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