Von einem Fan für Fans

Hans Frey würdigt die Science-Fiction-Autorin James Tiptree jr. mit einer Monografie

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hans Frey ist nicht nur ein begeisterter Science-Fiction-Fan, sondern auch ein rühriger Autor, der bereits einige Sachbücher über sein Lieblingsthema veröffentlicht hat. Erschien zuletzt ein Buch über „die ersten 100 Jahre der deutschen Science Fiction“, so hat er nun ein Werk zu einer der berühmtesten und fähigsten US-amerikanischen AutorInnen des Genres vorgelegt. Die Rede ist von der „Ausnahmefrau“ Alice B. Sheldon, die unter mehreren Pseudonymen schrieben, deren bekanntestes James Tiptree jr. ist. Ein anderes lautet Raccoona Sheldon. Warum die Autorin für welche Story welches Pseudonym gewählt hat, ist eine Frage, die sich Frey allerdings nicht stellt. Stattdessen schreibt er unter dem Pseudonym Raccoona Sheldon veröffentlichte Kurzgeschichten wie etwa Beaver Tears, Morality Meat und vor allem die wichtige 1977 mit dem Nebula Award gekrönte Erzählung The Screwfly Solution kurzerhand dem Pseudonym Tiptree zu. So etwas ist einfach schlampig.

Freys mit zahlreichen Abbildungen der Titelbilder von Sheldons Veröffentlichungen versehene Monografie tritt zwar als Sachbuch auf, doch über weite Strecken hinweg handelt es sich um eine Femmeage auf einen, wie Frey das generische Maskulinum verwendend schreibt, „Jahrhundertautor der SF“. Dass Frey dabei auch einige kritische Töne anschlägt, gehört selbstverständlich dazu, soll eine Hagiografie vermieden werden.

Erklärtes Ziel des Autors ist es, „die Gedanken- und Gefühlswelt einer außergewöhnlichen Schriftstellerin den daran Interessierten und nicht zuletzt mir selbst nahezubringen“. Da fragt es sich, ob das nicht ein allzu großer, gar verfehlter, weil unerfüllbarer Anspruch ist. Sollte es nicht genügen zu versuchen, die Biografie nachzuzeichnen und das Werk nahezubringen?

Zwar versteht es Frey durchaus, in einem insgesamt recht gut lesbaren Stil zu schreiben, allerdings kommt er oft allzu hemdsärmelig daher. Beispielsweise bescheinigt er Sheldon einen „recht hohen Männerverbrauch“. Tatsächlich korrespondieren solche Wendungen nicht schlecht mit dem Erzählstil, den Sheldon selbst in etlichen ihrer Geschichten unter dem Pseudonym James Tiptree jr. anschlägt. Aber eine Monografie ist eben keine Kurzgeschichte und auch kein Roman. Gelegentlich verfällt Frey zudem in formelhafte, ja abgedroschene Wendungen. So „jagt“ sich Sheldon „eine tödliche Kugel in den Kopf“. Dass Frey die Schriftstellerin mit Franz Kafka vergleicht, ist ebenfalls wenig originell. Das hat vor ihm bereits der Literaturkritiker Denis Scheck getan.

Auch inhaltlich überzeugen seine Ausführungen zu Sheldons Suizid nicht. Da es der 71-Jährigen nicht gelungen sei, „sich endgültig zu stabilisieren und bis zu einem natürlichen Tod hin innere Ruhe zu finden“, habe sie mit ihrem Freitod „realisiert“, „was sie an Todestrieb und Todessehnsucht Jahrzehnte lang verfolgt hatte“. Wieso aber sollte sich ein Mensch nicht innerlich völlig ruhig selbst töten können? Und warum „birgt“ es „zweifellos ein tragisches Moment in sich“, dass „sie selbst das  Ende bestimmte“? Ist es nicht viel tragischer, nicht selbstbestimmt zu sterben?

Dann und wann verliert sich der Autor in überflüssigen Bemerkungen. So erwähnt er im Zusammenhang mit Sheldons erweitertem Suizid etwa: „Wie mir jemand erzählte, fühlte sich damals die deutsche BILD-Zeitung veranlasst, in gewohnt reißerischer Art vom Freitod des Ehepaars Sheldon zu berichten. Ob das stimmt, kann ich nicht belegen, aber unwahrscheinlich ist es nicht.“ Sollte er wichtig finden, was die BILD-Zeitung damals schrieb, müsste er es recherchieren. Andernfalls sollte er davon schweigen.

Frey nennt seine Protagonistin bei verschiedenen Namen, von ihrem Nickname über den Vornamen Alice bis hin zu der längst obsolet gewordenen Bezeichnungsformel „die Sheldon“. ‚Der Frey‘ nutzt somit die ganze Bandbreite von der sich vertraulich gebenden Benennung bis hin zu einem sexistischen Stilmittel eines längst aus der Zeit gefallenem Männerdeutsch, das ebenso auf den Müllhaufen der Sprachgeschichte gehört, wie die Anrede „Fräulein“, die der Autor immerhin vermeidet. Den bestimmten Artikel vor einen Namen zu setzen ist darum sexistisch, weil es nur bei denjenigen von Frauen gemacht und somit die (unbewusste) Vorstellung suggeriert wird, dass Frauen die Abweichung vom männlichen Normalmenschen sind.

Zwar würdigt der Autor wiederholt Sheldons „Einfluss auf die Entwicklung einer emanzipatorischen, feministisch ausgerichteten SF“, doch erklärt er ebenso oft, dass die Schriftstellerin „weit mehr als Feminismus“ im Gewande der SF bot und „ihre Größe inhaltlich und literarisch weit darüber hinaus“ geht. Zu Recht weist Frey darauf hin, dass es in den zahlreichen Kurzgeschichten wie auch in Sheldons beiden Romanen „um die Geheimnisse des Eros, um die komplexen Wechselwirkungen zwischen und innerhalb der Geschlechter, um das verstörende Spiel von Nähe, Fremdheit und Tod im endlosen Kosmos der abgründigsten Möglichkeiten“ geht. Ihre „eigentliche Bedeutung“ für die SF liege daher nicht im mal ex-, mal impliziten feministischen Gehalt der Storys, sondern „in der Auslotung dieser Tiefen und Untiefen“.  Dabei ist anzumerken, dass zumindest Fragen des Eros und der Beziehung zwischen den Geschlechtern durchaus genuin feministische Themen sind.

Als „Zentrum“ von Sheldons SF macht Frey „den Wandel als Suche nach dem Wesen des Neuen und Fremden“ aus, wobei ihr „Grundinteresse“ dem „Prozess an sich“ gelte. So wolle sie „Fremdes und Entfremdung nicht nur begreifbar, sondern auch überwindbar“ machen. „Wenn es eine philosophische Botschaft der Sheldon gibt“, besagt sie dem Autor zufolge, dass „nur ein zu sich selbst gekommenes, denkendes und fühlendes Wesen auch das ihm Fremde meistern [kann] – das Fremde im Außen und das Fremde in sich selbst“.

Das Inhaltsverzeichnis gliedert Freys Monografie in elf Kapitel plus Einleitung. Doch im Grunde genommen besteht es aus zwei Hauptteilen. Einem biografischen und einem zum Werk. In letzterem stellt Frey, so weit zu sehen, jeden einzelnen SF-Text der Autorin vor, bietet einen Abriss des jeweiligen Inhaltes und stellt einige Überlegungen zu den Storys an. Was Frey zu ihnen einfällt ist zwar oft interessant, manchmal überzeugend, aber nur selten von analytischer Qualität. Doch diesen Anspruch erhebt Frey auch gar nicht erst. Seine Interpretationen sollen vielmehr „kreative Spekulationen“ sein, „die allerdings in einer nachvollziehbaren Beziehung zu Form und Inhalt des Erzählens stehen müssen.“ Und das tun sie zumeist auch. Gelegentlich wird eine Geschichte allerdings nicht interpretiert, sondern bloß biografisch erklärt, und zwar ziemlich lahm, wie etwa im Falle von And I Awoke and Found Me Here on the Cold Hill’s Side.

Der biografische Teil umfasst etwa ein Viertel des Bandes und fußt im Wesentlichen auf der bahnbrechenden Biografie von Julie Phillips. Daneben zieht Frey den von dieser gemeinsam mit Jeffrey D. Smith herausgegebenen Sammelband mit nichtfiktionalen Texten Sheldons heran. Weitere eigene Recherchen hat Frey kaum zu bieten. Dafür unternimmt er gerne einmal Ausflüge in die „Tiefenpsychologie“ und diagnostiziert eine „egomanische Grunddisposition“, „die Alice beherrschte, aber nie verarbeiten konnte“. Er geht sogar so weit, die Frage in den Raum zu stellen, ob die Schriftstellerin „nicht nur manisch-depressiv, sondern auch schizophren gewesen“ sein könnte, und befindet, eine „Persönlichkeitsstörung“ sei „mit Sicherheit nicht im Spiel“. Hat dies denn schon einmal jemand mit ernstzunehmenden Argumenten in Erwägung gezogen? Die Autorin per postumer Ferndiagnose auf die Couch zu legen, hätte sich der Laienanalytiker jedenfalls sparen können.

Sheldons Affinität zur SF erklärt Frey mit ihrem „Weltbürgertum“, ihrer „Xenophile“, ihrem „kosmischen Bewusstsein“ sowie ihrer „frühen Zuwendung zu einer wissenschaftlichen und technischen Welt“. So habe die SF für sie eine „lebensrelevante“ Bedeutung erlangt.

Der dem Werk gewidmete Teil des Buches setzt mit einigen Überlegungen zur „Themenwahl“ Sheldons ein und merkt an, dass sich die Autorin „praktisch nie mit der mechanisch-elektronischen Welt der SF beschäftigt“ hat. Vielmehr schreibe sie „‚biologische‘ SF“, „in der die natürliche Evolution und das Leben an sich dominieren“. Ist der erste Teil des Befundes zutreffend, so der zweite allenfalls bedingt. Zwar mag es hingehen, dass Sheldon oft ‚biologische SF‘ schrieb, wenn es um Sexualität und Fortpflanzung ging. Zumeist ist der kritische Blick auf das gesellschaftlich-kulturelle Moment aber auch hier unverkennbar, so beispielsweise in der bereits erwähnten Kurzgeschichte The Screwfly Solution. Das kann auch schwerlich anders sein. Denn beim Homo Sociologicus ist Sexualität nie nur biologisch. In etlichen anderen Storys mit außerirdischen ProtagonistInnen phantasiert Sheldon wiederum verschiedene Möglichkeiten sexueller Vereinigungs- und Fortpflanzungsarten aus und stellt so die Norm der monogamen heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit infrage. Ihr literarischer Blick auf das Geschlechterverhältnis im Allgemeinen kann noch viel weniger als biologisch eingestuft werden. Allerdings liest Frey die „rabenschwarze feministische SF-Story“ The Screwfly Solution tatsächlich rein biologisch als „ein Frontalangriff gegen das männliche Geschlecht“ und als „Hammerschlag gegen den Mann ‚an sich‘“. Trotz dieser Interpretation mag er die Story nicht verwerfen, sondern erklärt, dass sie „in ihrer ultimativen Zuspitzung zwar übertrieben ist (und sein muss), in ihrer Botschaft aber viel Wahres enthält“. Unerwähnt lässt er im Übrigen, dass sie verfilmt wurde.

Sheldons „Innovationen“ in der SF macht Frey in „drei Bereichen“ aus: Zum ersten konstatiert er, dass ihre Storys inhaltlich „Fragen über die Stellung und den Wert der Frau […] auf[…]greifen und sie emanzipatorisch in Richtung Freiheit, Gleichheit und Solidarität“ diskutieren. Zum Zweiten habe sie stilistisch die Entwicklung der SF „vom konventionellen zum experimentellen Schreiben“ vorangetrieben. Und zum Dritten habe sie mit dem „Geniestreich“ The Girl Who Was Plugged In einen „Vorgriff“ auf die Subgenres Cyberpunk und Posthumanismus geschaffen. Kurz, ihr aus „literarischem Gold“ bestehendes Werk habe die Science-Fiction zu einem „über die Literatur hinausgreifendes, eine allgemeine Bedeutung erlangendes Phänomen“ transzendiert, und zwar inhaltlich wie auch stilistisch.

Immer wieder überschlägt sich Frey geradezu vor Bewunderung der literarischen Fertigkeiten Sheldons. Sie könne „schriftstellerisch so gut wie alles“ und beherrsche nicht nur „den plausiblen Wechsel der Erzählperspektiven, der grammatischen Zeiten und des Erzähltempos“, auch ihre Metaphern seien „wortgewaltig, originell und stimmig“. Zudem baue die „flüssige Syntax“ die „Spannungsbogen der Plots“ auf, „die zum richtigen Zeitpunkt aufgelöst werden“. „Themen und Motive“ seien „von einer atemberaubenden Vielfalt“. Auch mache es „immer wieder sprachlos“, wie die Autorin „die Melancholie des Untergangs ohne jede Larmoyanz abgeklärt, ja fast schon mit lockerer Heiterkeit in eine spannende, vorzüglich geschriebene SF-Geschichte verpackt, die zudem noch eine klare Botschaft enthält“. Und natürlich würdigt er auch ihren facettenreichen Humor. All dies mag vielleicht allzu überschwänglich klingen, ist aber keineswegs verkehrt.

Auch nimmt Frey ihr Spätwerk, namentlich den „unbedingt lesenswerten“ Roman Brightness Falls from the Air, sehr zu Recht gegen die verschiedentlich laut gewordene Kritik in Schutz, die Autorin habe nach der Enttarnung ihres Pseudonyms James Tiptree jr. den früheren „rasanten Schwung“ verloren. Tatsächlich, wendet Frey ein, sei es zwar „philosophischer, getragener und abgeklärter“, dabei aber „genauso tempo- und facettenreich“ wie die früheren Storys. Im Gegenteil, meint Frey, „in Teilen“ seien „die Werke ihrer letzten Jahre sogar noch gelungener als das, was sie vorher geschrieben hat“. Eine Lektüre von Sheldons beiden Romanen Brightness Falls from the Air und Up the Walls of the World kann diesen Befund nur unterstreichen.

Im mit rund 180 Seiten umfangreichsten Teil des Buches stellt der Autor Sheldons Werk „im Detail“ vor. Das heißt, er bietet einen Abriss über die Handlungen aller Kurzgeschichten, Erzählungen und Romane und interpretiert sie anschließend. Seine Lesarten muss man zwar nicht immer teilen, doch sind sie zumeist plausibel und nie völlig an den Haaren herbeigezogen.

Dabei stellt er die Storys in aller Regel chronologisch nach dem Datum der Erstveröffentlichung vor. Ausnahmen bilden nur die drei „zusammenhängenden SF-Erzählungen“ Invasion (der Titel stammt nicht von Sheldon, sondern von Frey), Quintana Roo und The Starry Rift. Das ist sinnvoll, denn sie spielen jeweils in einem gemeinsamen Erzähluniversum. Im Falle des letzteren spricht er sogar völlig zu Recht von einem Episodenroman.

Es versteht sich, dass im Rahmen einer Rezension nur kurz auf einige Beispiele der weit mehr als fünf Dutzend Interpretationen Freys eingegangen werden kann. Die Kurzgeschichte The Girl Who Was Plugged In lobt er als einen der „ganz großen Würfe“ der Autorin und Love is the Plan the Plan is Death als „filigranes Meisterwerk“ und „spektakulär geglücktes Stück Prosa voller Empathie und Sensibilität“. The Women Man Don’t See erkennt er als„feministische SF-Story par excellence“. Doch scheint die Kurzgeschichte zu den wenigen Werken zu gehören, die Frey nicht so sehr schätzt, meint er doch, Sheldon habe in anderen Storys „differenziertere Positionen“ bezogen. In Houston, Houston, Do You Read? wiederum macht er eine „durchdachte Schilderung der Frauengesellschaft“ aus, „die in dieser Form – soweit mir bekannt – bis dahin einmalig in der SF war“. Tatsächlich bietet Charlotte Perkins Gilmans bereits 1915 erschienener Roman Herland ein solche Schilderung, die zudem einige Parallelen mit Sheldons Story aufweist, sind es doch jeweils drei bestimmte männliche Haltungen repräsentierende Besucher, die es in die Frauengesellschaft verschlägt. Möglicherweise aber rechnet Frey Perkins Gilmans Utopie nicht der SF zu. Die in Houston, Houston, Do You Read? behandelte „Klonproblematik“ hebt sich Frey zufolge „wohltuend von der in diesem Bereich üblichen Empörungsrhetorik“ ab. Das ist nicht unzutreffend, allerdings übersieht er, dass Sheldons Literarisierung des Klonens mit einigen in der Neuen Frauenbewegung der 1970er Jahre virulenten Hoffnungen korrespondiert, Frauen durch (bio-)technischen Fortschritt von der Last der Schwangerschaft und des Gebärens befreien zu können. Zu denken ist etwa an Shulamith Firestones bereits vor Sheldons Story erschienene Schriften oder an Marge Piercys SF-Roman Woman At the Edge of Time, der ein Jahr nach Houston, Houston, Do You Read? publiziert wurde.

Mit seiner Monografie über Alice B. Sheldon hat Frey ein Buch vorgelegt, das den Lesenden die Freude vermittelt, die der Autor bei seiner Abfassung – und mehr noch bei der Lektüre der Werke Sheldons – empfunden haben dürfte. So könnte es Lust darauf machen, zu den Werken der SF-Autorin selbst zu greifen. Vielleicht ist dies sogar eine der Absichten Freys. Doch SF-Fans, die mit Sheldons Werk nicht oder nur wenig vertraut sind und sich die Spannung oder den Sense of Wonder erhalten wollen, lässt sich die Lektüre des Buches oder zumindest die der Interpretationen der einzelnen Kurzgeschichten und Romane nicht unbedingt empfehlen. Denn Frey verrät deren Plots bis zu ihrem jeweiligen Ende. Ansonsten aber bietet der Band eine durchaus interessante Lektüre. Zudem ist es zu begrüßen, dass Sheldon nun auch hierzulande die Würdigung einer ihr gewidmeten Monografie erfahren hat. Insofern ist dem Buch eine möglichst große Verbreitung zu wünschen.

Titelbild

Hans Frey: James Tiptree Jr. Zwischen Entfremdung, Liebe und Tod.
SF-Personality 27.
Golkonda, Berlin 2018.
332 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783946503699

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