Beharrlichkeit gegen Willen, Reifung gegen Modellierung
François Julliens „Euro-chinesisches Lexikon des Denkens“ ist mehr als nur gelungen
Von Georg Patzer
Wie denken wir? Und wie können wir das ändern? Ist es möglich, aus unseren festgefahrenen Denk-, Lern- und Erfahrungsmuster auszusteigen? „Von den Chinesen lernen, heißt siegen lernen“, hieß es einmal. So weit will FrançoisJullien, einer der profiliertesten Sinologen Europas, nicht gehen – dennoch: Ihre Begrifflichkeiten sind anders, ihre Ansätze können uns helfen. Unser philosophisches Denken ist ja, trotz Friedrich Nietzsche, immer noch von René Descartes geprägt: „Ich denke, also bin ich.“ Das Individuum ist die unveränderliche Größe. Selbst der Satz „Ich zweifle“ hat im „Ich“ noch einen unerschütterlichen Mittelpunkt, sodass das Zweifeln eben nicht diesem Ich gilt, sondern den anderen Dingen. Und dieses Ich hat in der westlichen Philosophie immer auch einen freien Willen. Was aber, wenn es in einer Sprache das Wort „Willen“ gar nicht so gibt, wie wir verstehen?
In seinem grandiosen Buch Vom Sein zum Leben stellt Jullien lexikonartig 20 Begriffe einander gegenüber, anhand derer er zwei unterschiedliche Denkweisen miteinander konfrontiert, vergleicht und ineinander zu denken versucht: Neigung stellt er gegen Kausalität, Potenzialität der Situation gegen Initiative des Subjekts, Disponibilität gegen Freiheit, Zuverlässigkeit gegen Aufrichtigkeit, Beharrlichkeit gegen Willen, Reifung gegen Modellierung, stille Verwandlung gegen lautstarkes Ereignis. Geschickt verknüpft er die Kapitel miteinander, führt ein Begriffspaar in das nächste über, sodass sich ein großer Denkkreis ergibt, der bei dem Begriffspaar „Ressource“ gegen „Wahrheit“ endet – beziehungsweise nicht endet, da sich alles verändert.
Immer wieder zeigt Jullien auf, wie Strategen wie Sunzi dieses Denken genutzt haben, das aus westlicher Perspektive eine einzige große Theorie über Taijiquan und Qigong ist, zum Beispiel wenn er über „Neigung“ schreibt:
In Termini von Neigung und nicht mehr jenen von Kausalität zu denken, heißt nicht nur, das Regime von Explikation zugunsten eines Regimes der Implikation zu verlassen oder auch von einer externen zu einer internen Begründung überzugehen, die sich als Immanenz versteht, sondern lässt uns, im weitesten Sinn, von der Klarheit durch ein „Abkoppeln“ (der Elemente) und „Entkoppeln“ (der Gegenteile), jener des Seins und seiner Konstruktion, in die Logik des zugleich Stufenlosen und auch Korrelierenden und insofern unendlich im Prozesshaften Verschränkten hineinkippen.
Denn Neigung ist auch, wie man im Taijiquan kämpft: Man muss erkennen, wie sich der Gegner bewegt, verändert, wie er sich „neigt“.
Aber auch darüber hinaus kann dieses Buch für das Denken befreiend wirken, denn es zeigt andere Möglichkeiten auf, wie wir die Welt nicht als „Seiendes“, mithin als Festes wahrnehmen und denken können, sondern als „unendlich im prozesshaften Verschränktes“, etwas Kippendes, in das wir auch hineinkippen und mit dem wir mitkippen können; sofern wir nicht nur entweder das eine oder das andere sehen, sondern erkennen, „wie die Entwicklung also nicht nur in der Konfiguration enthalten ist, sondern eins mit ihr ist und in ihr aufgeht“. Der chinesische Begriff „shi“, der oft mit „Willen“ übersetzt wird, heißt auch „Situation“, „Evolution“, „Bedingung“ und „Verlauf“.
Es ließe sich seitenweise aus diesem Buch zitieren, fast jeder Satz ist erhellend und erleuchtend, trifft den Kern des Taijiquan – dabei hat Jullien keine Ahnung von Taiji oder Qigong, er erwähnt es nicht einmal. Umso passender:
Die Neigung dagegen deutet auf eine Entfaltung hin, die durch keinen Verlust ausgelöst wird, aber auch von keiner Berufung gekennzeichnet ist, die von vorne herbeigeführt wird, aber nicht zu etwas hin (dieses „zu“ der Verwirklichung und des Ziels). Vielmehr wirkt sie einzig durch die Weise, wie eine Situation dazu tendiert, „sich zu neigen“, indem sie ihre Richtung einschlägt, ihre Verlängerung induziert und ihre Erneuerung produziert.
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