Einblicke in menschliche Abgründe
Ein Interview mit dem TV-Regisseur Martin Enlen über die Facetten und das Potenzial des deutschen TV-Krimis
Von der Übung Schreib- und Lektoratswerkstatt
Martin Enlen weiß, wovon er spricht: Seit rund 25 Jahren ist er als Regisseur im Filmgeschäft aktiv. Seine Karriere begann mit einem Paukenschlag – nach seinem Studium an der Hochschule für Fernsehen und Film in München wurde sein Abschlussfilm Aus gutem Grund als bester studentischer Film für den Oscar nominiert. Es folgten mehrere Auszeichnungen, unter anderem für Arbeiten im Krimigenre. Nachdem er 1998 in seinem ersten Tatort und kurz darauf bei Bella Block Regie führte, ist er seit 2013 für die überaus erfolgreiche Krimiserie Wilsberg im ZDF verantwortlich. Sein Schaffen beschränkt sich jedoch nicht nur auf das Kriminalgenre. So gewannen zuletzt seine TV-Dramen Über den Tag hinaus und Ich war eine glückliche Frau jeweils den Publikumspreis des Festivals des deutschen Films. Für uns hat sich Martin Enlen einem kurzen Verhör gestellt.
Schreib- und Lektoratswerkstatt: Was fasziniert Sie am meisten am Genre „Krimi“?
Martin Enlen: Das ist tatsächlich nicht leicht zu beantworten, da das Genre ja doch sehr vielschichtig sein kann. Faszinierend für mich war und ist es schon immer gewesen, mit meinen Filmen ein wenig in menschliche Abgründe hineinzuschauen und Menschen in Grenzsituationen zu beobachten. Das geht natürlich im Krimi-Bereich sehr gut. Das interessiert mich persönlich bei einem Fall auch mehr als die Tätersuche und die Auflösung. Die folgen ja meist einem gewissen Schema, was dann auch für Spannung sorgen soll. Interessanter für mich sind allerdings die Menschen und das Milieu, das wir durch den jeweiligen Fall kennenlernen. Zwei kleine Beispiele: Einer meiner letzten Wilsberg-Krimis spielte im Milieu der Müllwagenfahrer, ein anderer in einem Nonnenkloster – man kann sich also vorstellen, wie spannend und interessant es war, hier jeweils eine Kriminalgeschichte anzusiedeln. Das ist es wohl auch, was mich am meisten fasziniert: Die Kombination aus ganz unterschiedlichen Milieus, verbunden mit einer existentiellen Geschichte – es geht ja um Leben und Tod.
SL: Wie und warum sind Sie dazu gekommen, Regisseur für Krimis zu werden?
ME: Als ich angefangen habe, Filme zu machen, war es gar nicht mal der Krimi, der mich in erster Linie interessiert hat. Es war vielmehr das Drama in all seinen Formen, was ich auch bis heute gerne in meinen Filmen erzähle. Fakt ist aber, dass der Krimi das mit Abstand am stärksten vertretene Genre im deutschen TV-Bereich ist. Insofern hatte es also eher ganz pragmatische Gründe. Nachdem man auf mich als Regisseur aufmerksam geworden war, kamen auch sehr schnell Angebote für Krimis: für Serien, den Tatort und Reihen wie Bella Block. Da man gerade als junger Regisseur an allem interessiert ist, auch an bezahlter Arbeit, nimmt man diese Angebote gerne an. Wenn man das dann ein-, zweimal erfolgreich gemacht hat, findet man sich sehr schnell wieder in der Schublade des Krimiregisseurs. In der fühle ich mich auch durchaus wohl – weise nur immer gerne darauf hin, dass der Regisseur Martin Enlen einige Facetten zu bieten hat, etwa Drama oder Komödie, und bin froh und dankbar, wenn man mich neben dem Krimi auch anderes machen lässt.
SL: Welche Figur ist für einen Regisseur interessanter: Täter oder Ermittler?
ME: Eigentlich ist die Antwort auf diese Frage für mich sehr klar – der Täter. So wie jeder Schauspieler lieber den Bösen spielt als den Helden. Meist hat der Täter in den jeweiligen Geschichten mehr Facetten und mehr Tiefe zu bieten. Das hat sich allerdings in den letzten Jahren etwas gewandelt, nachdem man auch den Ermittlern eigene Geschichten und Schicksale gönnt. Ein Paradebeispiel ist hier für mich die skandinavische Serie Die Brücke, in der die Hauptkommissarin Saga Noren am Asperger-Syndrom leidet. Ihre Geschichte und der Umgang mit ihren Mitmenschen sind wirklich die interessantesten Teile dieser Reihe. So eine Figur zu spielen und zu erzählen ist eine einzige Freude, für Schauspieler wie auch für die Regie.
SL: Welches Potenzial haben deutsche Krimiproduktionen? Können sie sich gegen internationale Konkurrenz behaupten?
ME: In Deutschland selber kommt ja nun gar nichts am Krimi vorbei, es ist das mit großem Abstand erfolgreichste Format. Und innerhalb Deutschlands ist der deutsche Krimi auch deutlich erfolgreicher als ausländische Krimiproduktionen. Anders sieht es dann natürlich im Ausland aus, hier verkaufen sich deutsche Krimis nicht sehr stark. Am bekanntesten war dort wohl mal die Krimiserie Derrick, die sich in sehr viele Länder verkauft hat, wohl auch, weil die Hauptfigur als so urdeutsch wahrgenommen wurde und sich dadurch von anderen Kommissaren der jeweiligen Länder unterschied. Aber zum Beispiel das bei uns so irrsinnig erfolgreiche Format Tatort verkauft sich so gut wie gar nicht ins Ausland, Österreich und die Schweiz ausgenommen. Wahrscheinlich sind die Themen einfach zu speziell, als dass sie dort interessieren würden. Wenn man aber auf die rein handwerkliche Machart unserer Krimiproduktionen schaut, brauchen sie wirklich keinen internationalen Vergleich zu scheuen, zumindest keinen europäischen Vergleich. Vergleiche allerdings mit amerikanischen Produktionen etwa von HBO oder Netflix hinken natürlich immer, da hier die Etats ganz anders sind. Und wer weiß, vielleicht verhilft Netflix demnächst auch einer deutschen Krimiproduktion zu Weltruhm…
SL: Weshalb sind TV-Krimis wie beispielsweise „Wilsberg“ so beliebt und erfolgreich?
ME: Der Erfolg von Wilsberg ist es meines Erachtens relativ leicht zu erklären, da die Reihe auch sehr vom Element des Humors lebt, was – wie man auch am Tatort aus Münster sieht – offensichtlich die breiteste Masse an Zuschauern anzieht. Diese Filme sind nicht nur Krimis, sondern auch „familientauglich“. Am liebsten hat es der Zuschauer wohl, wenn man neben dem Kriminalfall auch noch etwas zu schmunzeln hat. Bei Wilsberg kommt sicher noch die Figurenkonstellation hinzu, die schon anders ist als bei den üblichen Krimis. Es gibt zwar auch die Kommissare, aber die Hauptfigur ist eben ein sehr sympathischer Antiquar, der als Privatdetektiv arbeitet, dann sind da noch sein Freund beim Finanzamt und seine Bekannte als Anwältin. Diese Kombination bietet natürlich viel mehr Spielmöglichkeiten, außerdem viel mehr Identifikationsmöglichkeiten und Anknüpfungspunkte für den Zuschauer. Hinzu kommt, dass diese Reihe jetzt schon über so viele Jahre gewachsen ist, das hat für den Zuschauer immer so etwas angenehm Vertrautes.
SL: Der Krimi und vor allem sein Publikum gelten als ästhetisch eher konservativ: Wie innovativ können beziehungsweise dürfen deutsche TV-Krimis sein?
ME: Ehrlich gesagt empfand ich den Krimi nie als ästhetisch konservativ, von Serien wie Derrick oder Der Alte mal abgesehen. Im Gegenteil, es gibt wohl kaum so eine Spielwiese im deutschen Fernsehen wie den Krimi, und hier gerade in den letzten Jahren den Tatort – inhaltlich wie eben auch ästhetisch. Vorreiter sind hier sicher die Tatorte des Hessischen Rundfunks, die immer wieder neues Terrain ausloten, aber auch viele andere Anstalten haben sich dem in den letzten Jahren angeschlossen. Nicht jedes Experiment gelingt, aber es wird gewagt! Wahrscheinlich ist gerade der Tatort hier besonders beliebt bei den Machern, da die Quote sozusagen schon „sicher“ ist. Bei einem Einzelfernsehspiel schalten die Zuschauer bei „innovativen“ Stilmitteln auch mal schnell weg, daher ist dort der Mut zum Risiko deutlich geringer.
Das Interview wurde von Jeannie Lukaszewicz und Manuel Bauer per E-Mail geführt, nach gemeinsamer Vorbereitung in der im Wintersemester 2018/19 am Institut für Neuere deutsche Literatur der Universität Marburg durchgeführten Übung „Schreib-und Lektoratswerkstatt“. In der praxisorientierten Übung, die Bestandteile der Master-Studienganges „Literaturvermittlung in den Medien“ und „Deutsche Literatur“ ist, erhielten die Studierenden Einblicke in die Arbeitsabläufe der Redaktion von literaturkritik.de. Sie haben unterschiedliche kulturjournalistische Texte eingeworben (zum Teil auch selbst geschrieben), in Redaktionssitzungen gemeinsam diskutiert, redigiert und zu diesem Schwerpunkt zusammengestellt.