Fast alles über eine immer schon moderne Dichterin
Handbuch zu Leben und Werk der Annette von Droste-Hülshoff
Von Karin S. Wozonig
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAnnette von Droste-Hülshoff ist heute vielen vor allem als Autorin der Judenbuche bekannt, der grandiosen Novelle über Hochmut und Schuld zu Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche, die schon in ihrem Untertitel (Ein Sittengemälde aus dem gebirgichten Westfalen) Regionalität, Provinzialität und altes Herkommen zu tragen scheint, die das Bild von der größten deutschen Dichterin des 19. Jahrhunderts über lange Zeit prägten. Neben der geisterhaften Ballade Der Knabe im Moor („O schaurig ist’s übers Moor zu gehen…“) wird heute noch das eine oder andere von Droste-Hülshoffs Gedichten gelesen, und bei dem 1844 erschienenen Am Turme der emanzipatorische Impetus hervorgehoben; aber auch LyrikkennerInnen sind üblicherweise nur mit einem kleinen Ausschnitt aus dem Werk der Dichterin vertraut.
Das von Cornelia Blasberg und Jochen Grywatsch herausgegebenen Annette von Droste-Hülshoff Handbuch, das Ergebnis eines vierjährigen Forschungsprojekts, tritt nun zur nachhaltigen Korrektur des Bildes der Dichterin an und positioniert sich dabei eindeutig: State-of-the-art-Kulturwissenschaft soll die Modernität des Werks Droste-Hülshoffs nachweisen, ein ehrgeiziges Unterfangen, an dem rund 40 Beiträgerinnen und Beiträger beteiligt sind. Das Handbuch besteht aus sieben Teilen und einem Anhang mit den üblichen Registern sowie einer Zeittafel. Behandelt werden nicht nur literarische Texte, sondern auch Kompositionen und die Korrespondenz. Teil 1 verortet Droste-Hülshoff in ihrer Zeit, Teil 2 ist dem lyrischen Werk, Teil 3 der Dramatik und Teil 4 der Prosa gewidmet. Daran schließt sich ein Aufsatz zu den Musikalien an, gefolgt von Beiträgen zur Werkästhetik und zu unterschiedlichen Forschungsperspektiven sowie zur Rezeptions-, Wirkungs- und Forschungsgeschichte. Hervorzuheben ist das Bestreben der Herausgeber, alle Texte Droste-Hülshoffs zu berücksichtigen, also einen Blick auf das Gesamtwerk zu bieten.
Im Vorwort erklären die Herausgeber, dass es nicht um die Darstellung von Forschungsergebnissen, sondern um Textanalysen gehe, für die auch wenig bekannte Texte herangezogen werden. Durch die Untersuchung mit Vollständigkeitsanspruch soll die „spezifische Modernität“ des Werks, die sich in der Selbstreflexivität, den „Techniken der poetischen Selbstbeobachtung“ zeige, belegt werden. Damit wird ein implikations- und facettenreiches Konzept zum erkenntnisbringenden Leitbegriff erklärt und gleichzeitig werden die unterschiedlichen Beiträge durch diese Klammer verbunden. Dass diese Suche nach und das Auffinden von Modernität in Droste-Hülshoffs Werk nicht immer gleich überzeugend ist, versteht sich bei der Vielfältigkeit der Texte und dem Umfang des Projekts von selbst. Was mit dem Zentralbegriff „Modernität“ auf jeden Fall erreicht wird, ist die konzentrierte Korrektur eines veralteten Bildes von der Dichterin als katholisch-reaktionärem, heimatduseligem Freifräulein, ein Bild, das in der Droste-Forschung ohnedies längst passé ist. Man könnte es aber auch als Versuch sehen, jene Leserinnen und Leser, die zur Unzeit mit Droste-Hülshoff als Pflichtlektüre konfrontiert waren, noch einmal darauf hinzuweisen, dass dieses Werk viel mehr und vor allem viel mehr Gegenwartsrelevantes enthält, als das „Was-will-uns-die-Dichterin-damit-sagen?“ eines überholten Deutschunterrichts vermuten ließe.
Das Handbuch wird von einer ausführlichen Biografie von Jochen Grywatsch mit Konzentration auf die Schreib- und Publikationsbedingungen eröffnet. Hier wird auch schon vertiefend auf einige der für Droste-Hülshoff wichtigen literarischen Freundschaften eingegangen. Thomas Küster schreibt über den historischen Kontext, in dem das Werk entstanden ist, und stellt auf zehn Seiten kurz und knapp die Geschichte von der Französischen Revolution bis 1848 dar, soweit sie die westfälische Heimat beziehungsweise das Leben Droste-Hülshoffs betraf.
Cornelia Blasberg liefert die literarhistorische Kontextualisierung aus der Perspektive der kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft. Sie stellt fest: „Tatsächlich macht es Droste den Literarhistorikern nicht leicht: Weder verfasste sie programmatische Schriften zugunsten der einen oder anderen literarischen Partei noch Beitrittserklärungen zu literarisch tonangebenden Gruppen, weder erregte sie Skandale noch zog sie Zensurverbote auf sich.“ Umso wichtiger sei es, die auf die Familie, den Stand, die regionale Herkunft zurückgeführte und lange übliche Zuschreibung „Biedermeierautorin“ zu hinterfragen und am Werk zu testen. Über die üblichen Epochengrenzen hinweg eine Modernität anzunehmen, schärfe den Blick für das Zusammenspiel von Innovationsstreben und Fortschrittsskepsis, das auch in Droste-Hülshoffs Werk zu finden sei. Drostes Hintergrund ist die europäische Romantik, die die geschlossene Form verabschiedet, zeitdiagnostisch und zeitkritisch ist und die auf einer poetischen Autonomie beharrt, an der sich die Vormärzautoren abarbeiten. Blasberg weist darauf hin, dass die Kontinuität der Formen, Denkmuster und Narrative von der Romantik bis zum Realismus von literaturgeschichtlichen Epocheneinteilungen nicht angemessen erfasst wird. In den „eminent selbstreflexiven, selbstkritischen und oft auch dadurch fragmentarischen Texten“ Droste-Hülshoffs zeige sich ihre Modernität ebenso wie in der „Durchdringung der Literatur mit Wissen“, die seit der Französischen Revolution zur Herausbildung der modernen Wissensgesellschaft gehört und die in Bezug auf Droste-Hülshoffs Werk bislang zu wenig Beachtung gefunden habe. Von dem in ihre Texte eingegangenen historischen Wissen, über den Stand und die Rezeption der Naturwissenschaft ihrer Zeit bis hin zur Adelsgelehrsamkeit spannt sich der Bogen der Wissensthematik, die zu relevanten Fragen an das Werk Droste-Hülshoffs führt. In der Anlage des Handbuchs hätten diese Ausführungen zum seit einigen Jahren etablierten Thema „Literatur und Wissen“ gut auch in den Abschnitt gepasst, in dem auf Drostes Werk aus verschiedenen Forschungsperspektiven geblickt wird. Außerdem sind die Ausführungen zur Bedeutung der Korrespondenz beziehungsweise zum Einfluss der Korrespondenzpartner auf das Werk in diesem einleitenden Kapitel zu finden.
Teil II des Buchs, ca. 360 Seiten, ist den Interpretationen der Gedichte gewidmet, beginnend mit den nicht zur Publikation vorgesehenen bis 1838 und gruppiert nach den Sammlungen von 1838 und 1844 beziehungsweise „Geistliches Jahr“, „Klänge aus dem Orient“ und den Gedichten von 1844 bis zum Tod der Dichterin 1848. Den einzelnen Abschnitten sind Einleitungen vorangestellt, die auf den Entstehungskontext und auf formale Besonderheiten eingehen, die aber auch auf vorgängige Forschung Bezug nehmen und sie vor der Folie der Modernität des Werks und unter Berücksichtigung der von der Forschung weniger beachteten Gedichte zu differenzieren versuchen. Die Einzelinterpretationen sind durchwegs mit Gewinn zu lesen, die Positionierung innerhalb einer Forschungstradition und das beinahe alle Beiträge gleichermaßen leitende Erkenntnisinteresse führen dazu, dass dieser zweite Teil des Handbuchs das lyrische Werk Droste-Hülshoffs insgesamt sehr gut aufschließt. Über die einzelnen Gedichtsammlungen hinweg werden poetologische Verbindungen hergestellt; wer mit dem Werkregister arbeitet, findet teilweise sehr vielfältige Bezüge über die Chronologie hinaus, die durchaus dazu geeignet sind, die von den Herausgebern des Handbuchs programmatisch festgestellte Modernität des Werks zu untermauern.
Aber – und das ist beruhigend – so manches Gedicht sperrt sich gegen die literaturwissenschaftliche Analyse und bleibt dunkel, denn das Verständnis wird, wie es eine frühe Droste-Kennerin und -Verehrerin, die österreichische Lyrikerin und Kritikerin Betty Paoli (1814–1894), ausdrückt, „durch einen schroff abspringenden Gedankengang und eine unklare Ausdrucksweise“ erschwert. Und deshalb gilt auch für dieses Handbuch, was Paoli im Jahr 1862 vermerkt: „Wenn das Dunkel solche Schätze beherbergt, wie hier, ist es ein Verdienst, die Leuchte des erklärenden Wortes hinzutragen.“
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