Der Wert der Kunst

Bernhard Jaumann beschäftigt sich in seinem Roman „Der Turm der blauen Pferde“ mit einem der mysteriösesten Fälle der modernen Kunstgeschichte

Von Christina DittmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Dittmer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um das Gemälde Der Turm der blauen Pferde von Franz Marc ranken sich Legenden – und das zu Recht. Der Expressionist malte es 1913 in seiner Heimat, im bayrischen Sindelsdorf. Sein Freund Wassily Kandinsky sah es noch frisch auf der Staffelei trocknen, nachdem Marc einen ersten Entwurf auf einer Postkarte zuvor seiner guten Freundin, der Dichterin Else Lasker-Schüler, geschickt hatte. Nach Marcs Tod als Soldat im Ersten Weltkrieg wurde das Werk 1919 von seiner Witwe Maria an die Nationalgalerie Berlin verkauft.

1937 wurde das 200 mal 130 cm große Werk beschlagnahmt und Teil der Ausstellung Entartete Kunst in München, in der unter anderem zahlreiche expressionistische Kunstwerke von den Nationalsozialisten diffamiert wurden. Nach Protesten des Deutschen Offiziersbundes, der sich darüber empörte, dass dort Bilder eines Gefallenen aus dem Ersten Weltkrieg gezeigt wurden, wurde es wieder aus der Ausstellung entfernt; schließlich erwarb es Herrmann Göring für seine Sammlung. Nach Kriegsende wurde es angeblich von zwei Zeugen in Berlin gesehen, spätestens 1948/49 verliert sich jede Spur.

Diese beiden Zeugen hatten jedoch gelogen, um den Verbleib des Bildes zu verschleiern. So ist es zumindest in Bernhard Jaumanns Roman Der Turm der blauen Pferde zu lesen. Die Idee, dem Verschwinden des Gemäldes fiktional auf den Grund zu gehen, ist keineswegs neu. So widmeten sich vor zwei Jahren 20 bildende Künstler in der Ausstellung VERMISST. Der Turm der blauen Pferde von Franz Marc. Zeitgenössische Künstler auf der Suche nach einem verschollenen Meisterwerk mit eigens dafür erschaffenen Werken dem Verbleib des Kunstwerkes.

Im Roman wird das Gemäl dein den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs im Berchtesgadener Land vom Hitlerjungen Ludwig Raithmaier in einem Viehwagen voller Kunstschätze entdeckt, der in einem Tunnel stehen geblieben ist. Das Bild berührt ihn bis ins Innerste, obwohl er es auf Anhieb nicht so recht versteht. Das Bild zu verstecken und zu beschützen, wird zu Ludwigs Lebensaufgabe. Dabei schreckt er auch vor roher Gewalt nicht zurück.

72 Jahre später wird die Kunstdetektei von Schleewitz mit einem seltsamen Fall beauftragt. Der Multimillionär Egon Schwarzer erwirbt das angebliche Original Der Turm der blauen Pferde von einem windigen Unbekannten für schlappe drei Millionen Euro auf einem Parkplatz vor einer bayrischen Gaststätte, obwohl der von ihm herangezogene Experte von einem Kauf abrät, da dieser die Echtheit des Gemäldes ohne eine Untersuchung im Labor nämlich nicht feststellen könne. Schwarzer jedoch ist felsenfest davon überzeugt, dass das Bild echt ist. Ihm fehlt nur noch die, in der Kunstwelt so wichtige, Provenienzgeschichte.

Während der Plot mit vielen Wendungen gekonnt Spannung erzeugt, ist es kaum möglich, eine Sympathie zu den Mitarbeitern der Detektei aufzubauen. Der arrogante Chef Rupert von Schleewitz biedert sich widerholt bei seiner Mitarbeiterin Klara Ivanovic an, indem er sie bittet, ihn nach einem langen Arbeitstag mit zu sich nach Hause zu nehmen. Diese stetige Belästigung wird von ihr lächelnd abgetan, die Chance einer Auseinandersetzung mit dem Thema lässt der Autor ungenutzt verstreichen.

Klara selbst versucht mit männlichen Bekanntschaften ihr Ego aufzupolieren. Es sind Männer, die sie allerdings für intellektuell unterlegen hält und die sie entsprechend herablassend behandelt. Ein weitaus interessanterer Charakter als sie ist ihr Vater, der skurrile und unter Parkinson leidende Konzeptkünstler Vladimir Ivanovic, den sie gelegentlich besucht. Gekonnt persifliert Jaumann mit ihm das Bild eines einsamen, mit der Zeit wahnsinnig gewordenen Genies.

Der dritte Mitarbeiter der Detektei, der Familienvater Max, spricht trotz deutlichen Desinteresses seiner Kollegen permanent über seine Kinder und bricht eine Recherchereise für eine Ballettaufführung seiner unter Depressionen leidenden Teenagertochter Monique ab. Das Thema Depression wird dabei so oberflächlich und ohne die Handlung voranzubringen angeschnitten, dass es auch ohne Weiteres aus dem Roman gestrichen werden könnte.

Vielschichtiger dargestellt als die Detektive ist der Protagonist der ersten Zeitebene. Wunderbar wird Ludwig Raithmaiers schrullige Vernarrtheit in seinen Turm der blauen Pferde beschrieben und seine Enttäuschung darüber, dass sein Sohn dem Bild so gar nichts abgewinnen kann. Ludwigs Zugang zum Gemälde ist rein intuitiv und wird nicht von einer künstlerischen Aus- oder Vorbildung beeinflusst:

Er blickte auf das körnige Blau über den Nüstern des vordersten Pferdes und fühlte sich, als sei er gerade neu geboren worden. […] Die blauen Pferde sagten ihm, dass alles ganz anders war, als er gedacht hatte. Es gab einen Sinn, es gab eine Wahrheit. Sie versteckte sich tief unter der sichtbaren Oberfläche der Welt und hatte eine Farbe, die man nicht vorherahnen konnte.

Die zwei Zeitebenen laufen nebeneinanderher, ohne dem Plot die Spannung zu nehmen. Zwar ist von Anfang an bekannt, dass Ludwig Raithmaier das Bild an sich genommen hat, was jedoch nach dessen Tod passiert, wieso das Bild auf einem Parkplatz verkauft wird und von wem, oder ob es überhaupt das Echte ist, das bleibt lange unklar. Mehrere unerwartete Wendungen und Verwechslungen sorgen im Laufe der Handlung dafür, dass man den Roman nicht gerne aus der Hand legt. Am Ende steht die Frage nach dem eigentlichen Wert der Kunst.

Nicht nur für Kunstliebhaber ist Jaumanns Der Turm der blauen Pferde durchaus lesenswert und der spannende Plot macht die Schwächen in der Figurengestaltung der Protagonisten durchaus wett. Man darf gespannt sein, ob Jaumann einen zweiten Teil zu einem weiteren verschollenen Kunstwerk folgen lässt, schließlich wird auf dem Cover lediglich der „erste Fall“ der Kunstdetektei von Schleewitz angekündigt.

Titelbild

Bernhard Jaumann: Der Turm der blauen Pferde. Ein Fall der Kunstdetektei Schleewitz.
Galiani Verlag, Berlin 2019.
329 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783869711416

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