Die WG der Romantiker

Peter Neumann schreibt in „Jena 1800“ über „Die Republik der freien Geister“

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die reale, die politische Revolution fand bekanntlich 1789 in Paris statt. Ihr literarisches Pendant aber begann erst ein Jahrzehnt später, und zwar im thüringischen Jena, genauer: in der Leutragasse 5. Denn hier, im Hinterhaus, wurde um 1800 die Romantik erfunden und der deutsche Idealismus noch dazu. Politische Machtlosigkeit in Deutschland hin oder her, hier wurde, unter Berufung auf die Philosophen Kant und Fichte, in kühnen Gedankenexperimenten das Verhältnis von Ich und Welt neu ausgelotet – und einher damit die Fantasie, die „Einbildungskraft“, wie man damals sagte, entfesselt.

Friedrich Schlegels erotischer Skandalroman Lucinde beispielsweise wirkt noch heute erstaunlich modern; kein Wunder, dass die Bewohner der Leutragasse 5 über so etwas Pathetisch-Verzopftes wie Schillers Lied von der Glocke nur lachen konnten. Dagegen wurde der andere Großdichter am benachbarten Weimarer Musenhof von den Romantikern regelrecht umworben. Was Goethe sich übrigens geschmeichelt gefallen ließ, eine Zeit lang zumindest.

Revolutionär waren jedoch nicht nur die Ideen und Werke der Romantiker, sondern auch ihre Lebensumstände und Beziehungsformen. Zumal in den Mauern eines eher beschaulichen thüringischen Universitäts- und Provinzstädtchens wie Jena. Nicht nur, dass die jungen Literaten und Philosophen in Form einer offenen Wohngemeinschaft zusammenlebten oder dass in der Leutragasse 5 die Frauen auf Augenhöhe mit den Männern diskutierten.

Nein, Friedrich Schlegel lebte mit Dorothea Veit auch noch in einer „wilden Ehe“ zusammen. Darüber zerriss man sich in den Gassen des 5.000-Einwohner-Städtchens ebenso das Maul wie über Friedrichs Schwägerin Caroline und ihr bewegtes Vorleben. August Wilhelms damalige Ehefrau folgte ihr Leben lang allein ihrem Herzen, weshalb sie in der Leutragasse auch ganz offen und von ihrem Mann toleriert mit dem zwölf Jahre jüngeren Schelling anbandelte, dem damaligen Shootingstar der Philosophie. Als sich August Wilhelm und Caroline Schlegel dann in aller Freundschaft scheiden ließen, wurden die beiden endgültig zu Pionieren moderner Liebesformen.

Ein packender Stoff also, zumal vor dem Hintergrund der napoleonischen Kriege, die 1806 ausgerechnet in der Schlacht von Jena und Auerstedt gipfelten. Der in Jena lehrende Philosophieprofessor Peter Neumann hat nun ein erzählendes Sachbuch vorgelegt, das mit seinem Titel offenkundig an jüngere Bucherfolge wie Adam Zamoyskis 1812 oder Florian Illiesʼ 1913 anzuknüpfen versucht. Dabei ist der Titel Jena 1800 jedoch ein wenig irreführend. Schließlich sind die vielfach vernetzten Romantiker oft unterwegs und kämpfen sich auf holprigen Landstraßen und in schlecht gepolsterten Kutschen mal nach Weimar, mal nach Dresden oder Bad Bocklet.

Auch springt der Autor in seinem 250-Seiten-Werk nicht nur zwischen seinen Protagonisten, sondern auch in der Zeit munter hin und her. Natürlich, Rückblenden, um Vorgeschichten zu erhellen, müssen sein, aber wenn Novalis in einem Kapitel plötzlich schon tot ist, um erst im folgenden tatsächlich zu sterben, ist das doch etwas unglücklich. Wie gut, dass eine Zeittafel im Anhang für Orientierung sorgt.

Was Neumanns Darstellung allerdings auszeichnet, ist die quasi filmische Nähe zu seinen Protagonisten. Stilistisch fast immer überzeugend, begibt sich der Autor gern mitten hinein ins Geschehen und blickt seinen Akteuren über die Schulter. Zum Problem wird Neumanns lebendige Erzählweise aber insofern, als man sich als Leser des Öfteren fragt: Woher weiß das der Autor eigentlich? Vieles wird in den Anmerkungen zwar aufgeklärt, aber dass zum Beispiel Schelling beim Abendessen immer wieder „in den Topf mit den sauren Gurken“ greift, dürfte pure Erfindung sein. Und warum verwendet der Autor für Friedrich Schlegel die Koseform „Fritz“, nicht aber für die anderen Willi, Doro oder Caro?

Unterm Strich bietet Neumanns Buch eine ebenso erhellende wie vergnügliche Lektüre über diese in der deutschen Geistesgeschichte einmalige Konstellation, bleibt aber oft nur an der Oberfläche. Wer mehr über diese Epoche und ihre Protagonisten erfahren will, greife besser zu Rüdiger Safranskis Romantik. Eine deutsche Affäre.

Titelbild

Peter Neumann: Jena 1800. Die Republik der freien Geister.
Siedler Verlag, München 2018.
256 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783827501059

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