Vom Märchen der Familie

Michael Köhlmeiers neuer Familienroman „Bruder und Schwester Lenobel“

Von Lukas PallitschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lukas Pallitsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Zentrum von Michael Köhlmeiers Roman Bruder und Schwester Lenobel steht das titelgebende Geschwisterpaar. Alles beginnt damit, dass vom Psychoanalytiker Dr. Robert Lenobel jede Spur fehlt und seine Frau Hanna dessen in Dublin wohnende Schwester Jetti verzweifelnd herbeiruft. Auch sein Freund, der Schriftsteller Sebastian Lukasser, der bereits aus Köhlmeiers erstem großen Familienroman Abendland bekannt ist, hat keine Ahnung über seinen Aufenthalt.

Mit dieser Exposition wird nicht nur ein Spiel von Rückblenden und entsprechenden Personenkonstellationen in Gang gesetzt, es eröffnet sich zudem ein breiter Kosmos von Intra- und Intertextualität. Bemerkenswert an der Struktur des Romans ist, dass der Leser vor jedem Kapitel erst über eine märchenhafte Schwelle treten muss, weil allen 13 Kapiteln ein Märchen vorangestellt ist.

Zusammengeschweißt sind die beiden Geschwister durch die prekäre familiäre Situation, denn der Vater hatte die Familie bereits früh verlassen und die Mutter versank im tristen Gewässer der Melancholie. Einen dunklen Schatten über das jüdische Geschwisterpaar legt die Zeit der Vorfahren, denn die Großeltern mütterlicherseits wurden vom NS-Regime ermordet, jene väterlicherseits suchten später in Israel den Freitod. Dennoch handelt es sich nicht um einen Roman dieser Zeit, sondern um eine in der Gegenwart verankerte Familiengeschichte. Auf der Suche nach der persönlichen Identität werden Beziehungen brüchig oder verebben in kleineren Tragödien. Beide Geschwister eint das jüdische Schicksal, nirgends wirklich heimisch zu werden. Gehetzt suchen alle Familienmitglieder seit der Urszene der Vertreibung ihre Wege in kleinere oder größere Exillandschaften.

Irgendwann meldet sich der Bruder bei der Schwester: „Ich bin in Israel, dem Land der Väter. Aber an die Väter denke ich nicht.“ Mit dieser Meldung aus dem Exil verbindet sich der Auftrag, Hanna nichts sagen zu dürfen. Spätestens hier ist klar, dass die briefliche Verortung an die Erzählsicht Jettis geknüpft ist, da wir Leser genauso lange in Unklarheit über den Bruder geblieben sind und genauso wenig über Roberts Fluchtmotive wissen wie Jetti. Steht all dies mit Roberts Affäre in Zusammenhang, von deren Aufkeimen und Stagnation in Rückblenden erzählt wurde?

Angesichts der Komplexität des Romans drohen viele Leser in die vielfach gesetzten Leerstellen zu tappen, analeptischen Fährten zu folgen, die zum Teil aufeinander aufbauen, jedoch nicht immer handlungsrelevant sind – oder sie drohen auf der Folie großstädtischer Erfahrungen der Melancholie anheimzufallen. Alles erweckt zudem den Anschein, dass sich die Ehe von Robert und Hanna auf mittlerer Wegstrecke aufgrund der jüngeren Bess, einer gleichfalls verheirateten wohlsituierten Dame, auflöst. Doch Köhlmeiers Romanwelt ist feinsinniger, durchdachter und vor allem abgründiger. Robert Lenobel ist nicht nur jüdischer Psychoanalytiker aus Wien – eine Figuration Freuds? – , sondern auch elaborierter Leser auf seiner Couch, dem die Stoffe und Motive der Weltliteratur und Philosophie vertraut sind.

Um die handlungsleitenden Motive der Protagonisten zu verstehen, wird neben Immanuel Kants kategorischem Imperativ die Philosophie des Als ob des Neukantianers Hans Vaihinger heranzitiert. Etwas schwerfällig für den Lesefluss ist die vermeintliche Beiläufigkeit in der Manier eines Umberto Eco, mit der Köhlmeier wirkmächtige Autoren immer wieder heranzitiert. Allerdings fügt sich das Namedropping nicht immer nahtlos in Handlunsgverlauf. Weitaus gelungener sind demgegenüber die überaus kryptischen Märchenepisoden, die der schillernde Nacherzähler großer Kulturgeschichten jedem Kapitel voranstellt. Diese geben verschiedene Fragen auf: Inwieweit sagen die eher düsteren Märchen etwas über die kryptischen Kapitel aus? Streng genommen handelt es sich dabei um Paratexte, die als Texte über Texten stehen. Dieses über kann lokal auf das Schriftbild bezogen werden, es kann aber auch im übertragenen Sinn verstanden werden – denn diesen vorangestellten Kurzmärchen eignet auch ein inhaltlicher Aussagewert über den Text. Verwoben sind diese Märchen mit der Romanhandlung dadurch, dass Sebastian Lukasser eine Märchensammlung erstellt. Darüber hinaus färben die Märchen das jeweilige Kapitel mit einer bestimmten Farbe ein, sodass sie als Narrative wundersamer Begebenheiten die Realität einer schrecklichen Vergangenheit und problematisch erlebten Gegenwart mit der Möglichkeitsform konfrontieren. Ebenso wirkmächtig wie die Märchen ist die Vergangenheit, die sich der Menschen bemächtigt: „Es war gewesen. Die Vergangenheit existiert nur in der gegenwärtigen Erinnerung, und über diese hat der Mensch Macht, Vergessen ist Macht über die Vergangenheit.“ Die märchenhafte Vergangenheit und die unmittelbare NS-Vergangenheit sind damit die beiden Brennpunkte des Romankreises, die erzählstrategisch die Handlung einfassen.

Michael Köhlmeier beginnt das letzte Kapitel im Duktus vieler prominenter deutsch-jüdischer Schriftsteller. Wurde bereits in den vorhergehenden Kapiteln ein beachtliches Figurenarsenal aufgeboten, so tritt in diesem eine Figur in die Handlung ein, von der zunächst etwas unklar ist, um wen es sich handelt. Erst im Verlauf des Schlusskapitels tritt aus dem pronominalisierten „Er“, diesem „Juden, wie er im Buche steht“, Dr. Robert Lenobel hervor. Die Geschichte, die sich auf viele Schauplätze erstreckt, klingt schließlich in Jerusalem aus. Vielleicht handelt es sich um Köhlmeiers bisher vielschichtigsten Text, der an einem nicht minder vielschichtigen Ort endet – dort, wo zahlreiche Romane deutsch-jüdischer Schriftsteller enden.

Titelbild

Michael Köhlmeier: Bruder und Schwester Lenobel. Roman.
Hanser Berlin, Berlin 2018.
541 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783446259928

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch