Rätselhaft?

Autobiographische Porno-Beichte oder innovative Popliteratur? Anna Giens und Marlene Starks Debütroman „M.“ wirft viele Fragen auf

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ja, M. ist ein Roman, der viele Fragen aufwirft. Vor allem Fragen hinsichtlich der Funktion von Literatur, Fragen auch nach der Art, wie man ein bestimmtes Werk lesen muss, welche Methodik man anwenden sollte, um es zu verstehen, es richtig einzuordnen, ihm kein Unrecht zu tun. Das klingt nun im ersten Moment so, als wäre M. eines jener großen fordernden Werke der Literaturgeschichte, oder zumindest einer dieser gegenwärtigen kryptischen Romane wie etwa Mark Z. Danielewskis House of Leaves, die den Leser vor ständig neue Fragen und ästhetische Herausforderungen stellen. Dem ist nicht so. Im Grunde ist M. Schundliteratur. Die Frage, die sich stellt, ist allerdings – vor allem wenn man den Diskurs um die neue Popliteratur seit den späten 90er Jahren aufmerksam verfolgt hat – die nach der tieferen Bedeutung dieses „Schunds“ (setzen wir den Begriff zunächst mal lieber in Anführungszeichen).

Tatsächlich verschreibt sich die Popliteratur nach Eckhart Schumacher ja auf jenes vielzitierte „Gerade Eben Jetzt“, das sich von Rolf Dieter Brinkmann über Bret Easton Ellis, Rainald Goetz bis hin zu Benjamin von Stuckrad-Barre als mal mehr, mal weniger gekonnt inszeniertes ästhetisches Prinzip herauskristallisiert hat. Rainald Goetz hat, und hier sind wir bereits fast bei M., dem Party-Leben der 1990er Jahre in Berlin mit dem Zyklus Heute Morgen ein (in diesen schnellen Zeiten fast schon wieder vergessenes) Denkmal gesetzt, das sich gerade aufgrund dieses Spagats zwischen unfassbarer Banalität und gelungener ästhetischer Verdichtung auszeichnete. Nicht nur, weil Goetz die einzelnen Gattungen – einen Roman, einen Bericht, Essays, eine Novelle, Gedichte und nicht zuletzt ein monumentales Internet-Tagebuch – konzeptionell in einen übergeordneten, erschlagenden Zyklus einband, sondern auch, im Pop nicht unerheblich, die Grenze zwischen Chronist und aktivem Teilnehmer (also letztlich auch zwischen Figur und Autor) verschwimmen ließ, war diese Arbeit wegweisend für die Popliteratur. Stuckrad-Barre verschob dann jene Grenze zwischen Figur und Autor im Kontext des rastlosen Aufsaugens von Gegenwart ein weiteres Stück, als er vor drei Jahren Panikherz veröffentlichte; ein Buch, das sich im Nachhinein auch als kluges Product Placement in mehrerlei Hinsicht herausstellte, und gerade deswegen neue Maßstäbe für die Funktionsweise von Popliteratur setzte.

Die Autorinnen Anna Gien und Marlene Stark vermengen nun die vorhandenen Zutaten zu einem unangenehm anmutenden, aber irgendwie doch süchtig machenden Cocktail, ergänzt durch ein gehöriges Maß an Porno-Ästhetik, die zumindest im deutschen Kontext bisher eher abwesend war (in Panikherz etwa bilden zwar Drogen, Alkohol und andere Exzesse das Grundgerüst des Buches, doch Sex kommt gar nicht vor), die aber eine deutliche Reminiszenz an die Oberschicht-Ennui aus jedem beliebigen Bret Easton Ellis-Roman bilden. Denn auch hier werden ständig Dildos in wahllose Sexualpartner eingeführt, Körpersäfte spritzen in einem fort, Sex-Orgien werden mit bewusst unappetitlicher Liebe zum Detail geschildert und der Leser ist fasziniert von soviel ermöglichtem Voyeurismus, so viel dreckigem, unbedeutendem, gerne auch mal gewalttätigem Sex, dass er das Buch gar nicht mehr weglegen möchte, weil man ja doch wissen will, wie die Autorinnen in bester Henry James-Manier die Schraube immer weiter drehen wollen.

Der besondere Reiz in diesem vom „Reality Hunger“, wie David Shields dieses Phänomen in seinem Essay benannte, geprägten Kulturkonsum ist natürlich die Frage, die wohl jeden umtreibt, der sich auch mal die Instagram-Accounts der beiden Autorinnen angeschaut hat: Wieviel davon ist wahr? Hat man in der Berliner Künstlerszene wirklich so viel Sex, dass man sich nicht mal mehr um die Kunst geschweige denn ums eigene Wohlergehen kümmern kann? Hier gelangt man wieder zu der in der Popliteratur besonders brennenden Frage um die Identität von Autor und Erzähler/Protagonist, mit der ja Stuckrad-Barre in Panikherz recht subversiv umging. Dass er dabei einfach nur die Easton Ellis-Schule befolgte, zeigte er selbstironisch in der Begegnung mit dem amerikanischen Autor, die er in Panikherz recht unvorteilhaft nacherzählt. Im Zeitalter von Instagram ist das alles noch etwas komplexer, verweisen vor allem Starks Posts doch recht stark auf ihre Protagonistin, und vielleicht ist es auch gar nicht so wichtig, ob wir diesen Roman nun unter dem Eindruck unseres Hungers nach Echtheit konsumieren oder nicht.

Nehmen wir ihn allerdings als Literatur war, als Fiktion, die auf irgendeine Weise ausgearbeitet ist, die Fallstricke beinhaltet oder Brüche, die auf eine zweite Ebene verweisen, welche das selbstgerechte, enervierende Monologisieren der Erzählerin relativieren würden, so sind die Kriterien strenger und lassen das Buch nicht allzu gut aussehen, obwohl es durchaus seine prägenden Momente hat.

Da ist zum Beispiel ein seltener Moment der Reflexion, als M. zu Weihnachten ihre Eltern besucht: „Wenn man keine Tupperdose hat, keine Foliensträhnchen, keinen Aktenkoffer, kein Großraumbüro, keine Zweizimmerwohnung im Prenzlauer Berg, kein Neubauhaus in Dillingen, keine Wachsjacke, kein Stipendium und keine Galerie, welche Erzählung bleibt dann noch?“ Wenn man mit über 30 noch keine Erzählung hat, wird man auf sich selbst zurückgeworfen und lässt sich unaufhaltsam in die Katastrophe treiben. Doch als diese dann kurz danach eintritt, bleibt die Protagonistin stoisch.

Denn die brutale Vergewaltigungsszene, die so ziemlich genau in der Mitte des Romans steht und sich dem Leser nur retrospektiv als solche offenbart, wirkt nicht als der Wendepunkt, als der er von den Autorinnen zunächst inszeniert wird. Es ist ein erschütternder Moment, den man so schnell nicht vergisst, der allerdings recht inkonsequent weitergedacht wird. Nicht nur, weil die Erzählerin sich scheut, die Vergewaltigung als solche zu benennen, sondern auch, weil die weibliche Selbstermächtigung, die der Verlag auf dem Cover preist, zumindest nicht unmittelbar zu erkennen ist. Ob M. plötzlich anhand ihres eigenen Einsetzens von Sexualität als Waffe die Rollen vertauscht (und sich am Ende tatsächlich möglicherweise verliebt) wird nur in einzelnen Sequenzen angedeutet, ausgeführt wird diese Entwicklung nicht. Der symbolische Wert davon, einen berühmten Galeristen mit einem Strap-On zu begatten, mag zunächst offensichtlich sein, doch M.s dadurch ergatterte Ausstellung in seinen heiligen Hallen versaut er ihr durch seine eigenmächtige Umcodierung der Kunstinstallation später trotzdem.

Doch gerade in diesem Kontext ist es natürlich interessant, dass es die Frauen sind, die nur mit ihren Initialien benannt werden, während die Männer alle einen vollen Namen tragen; nur am Ende, als Liebe ins Spiel kommt, heißt der Mann nur „Z.“, was man natürlich auch als harmonisches Ende deuten kann. Ob dies auf den Objektcharakter der Frau inmitten dieser doch recht misogynen Kunstszene hinweisen soll, oder ein ironisches Spiel mit Charakterzeichnung darstellt – die Männer werden ausschließlich aufgrund ihrer sexuellen Leistungen charakterisiert, während die Frauen innerhalb der Handlung agieren können – wird leider nicht deutlich, einer der vielen Schwächen des Romans, der immer entweder sehr viel mehr sein will, als er wirklich ist, oder aber am Ende vielleicht gar nichts sein will außer einer mehr oder weniger autobiographischen Collage, die gleichzeitig als Satire auf die wahren Schrecken der Berliner Bohème dienen soll.

Egal, wie man es dreht, irgendwo hakt es immer: Die Erzählerin zu selbstverliebt, die Satire zu plump, die Konstruktion (vor allem gegen Ende mit den kurzen, traumgleichen Kapiteln) zu gewollt, die Sexszenen zu pornographisch. Irgendwie geht der Roman nicht auf, und gerade deswegen, wegen seiner wiederholten Brüche, der Schwierigkeit, das Ganze irgendwie zu einem kongruenten Ganzen zu denken, ist er in seiner gespenstischen Gegenwärtigkeit alles andere als Schund. Er ist sogar ziemlich meisterhaft.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Anna Gien / Marlene Stark: M.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2019.
248 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783957576941

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