Verlogene und verlorene Söhne

Christian Friedrich Daniel Schubarts „Zur Geschichte des menschlichen Herzens“ liegt erstmals in allen fünf Fassungen vor

Von Lukas MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lukas Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Arm war einst die deutsche Literatur, überaus arm. So viel und so bunt im ausgehenden 18. Jahrhundert auch geschrieben wurde, für Christian Friedrich Daniel Schubarts (1739–1791) Geschmack fehlte ihr, anders als den Engländern oder den französischen Nachbarn, nebst gesunden „Originalromanen“ gleichfalls eine repräsentative Sammlung von Anekdoten, die endlich einmal den Beweis erbrächte, dass in unseren Landen doch mehr los war als „essen, trinken, im Lehnstul verdauen, uns zwischen Wachen und Schlaf fortpflanzen, gähnen und schlummern“ – tagtägliches „Dummarbeiten“ nicht zu vergessen. Echte Charakterköpfe und ihre Viten sollten deshalb, dem In- und Ausland zum Exempel, schnellstens zu Papier gebracht werden, und damit die hiesigen Dichter, allen voran der „Goldmann Göthe“, sich auch nach ihnen umzuschauen trauten, hat der Urheber dieser spitzigen Zeitdiagnose sogleich den Anfang gemacht: mit einer kurzen Geschichte, die unter dem Titel Zur Geschichte des menschlichen Herzens bekannt geworden ist.

Die Anekdote über zwei Brüder, deren wahre Wesensart von ihrem Vater lange verkannt wird, ist jetzt zum ersten Mal in fünf, über einem Zeitraum von mehr als 20 Jahren entstandenen Fassungen in der „Edition Wehrhahn“ lieferbar. Vorher musste man sich damit begnügen, sie beim Blättern in den einschlägigen literarhistorischen Darstellungen lediglich einmal namentlich erwähnt zu finden, und zwar im Abschnitt über Friedrich Schillers Drama Die Räuber. Nicht ohne ein Augenzwinkern merkt der Herausgeber Stefan Knödler dazu in seinem Nachwort an, dass jener Hinweis, die dritte Version von 1775 habe Schiller zur Gestaltung der Herren von Moor angeregt, „nie fehlt, wenn davon die Rede ist“. Länger verweilt Knödler zumindest bei dieser intertextuellen Verknüpfung aber gar nicht und führt stattdessen – nach einem mit großer Sorgfalt geführten Sachkommentar – kundig in den biografischen Kontext, die motivgeschichtlichen Vorbilder sowie die sprachlichen und thematischen Besonderheiten der jeweiligen Version ein.

Bevor man beginnt, in die Genese der Textfassungen einzutauchen, mag eine leise Ungereimtheit ins Auge fallen: Eingedenk der patriotisch gestimmten Appelle, wie sie eben aus den Einleitungen der dritten und vierten Fassung zitiert wurden, muten die beiden Kernmotive der Geschichte gar nicht sehr passgenau gewählt an, denn sowohl der verlorene Sohn, hervorgegangen aus dem biblischen Gleichnis Lukas 15,11-32, als auch die ungleichen, oft verfeindeten Brüder – allein der antike Mythos ist jenseits prominenter Paare wie Prometheus und Epimetheus oder Romulus und Remus voll von ihnen –, gehören zu den ältesten und beliebtesten der Weltliteratur. Hinzu tritt, dass in Zur Geschichte des menschlichen Herzens verschiedene Rekurse auf zeitgenössische französische Bearbeitungen nachweisbar sind. Trotz der offenkundigen Übernationalität ihrer Motive schien Schubart indes, um ans vaterländische Selbstbewusstsein zu rühren, der Hinweis genug, dass seine eigene Adaption „sich auf teutschem Grund und Boden“ zugetragen habe.

Noch nicht mehr als die typenhafte Veranschaulichung eines Erziehungsfehlers sind die Brüder Emil und Adrast in einem Beitrag zur Lindauer Wochenschrift Der neue Rechtschaffene aus dem Jahr 1767. Wären die Eltern Adrast, dem „Wildfang und Idiot“, in seiner Kindheit nicht mit derselben Nachsicht beigekommen, wie sie beim ohnehin streb- und fügsamen Emil erfolgreich war – Schubarts Einschätzung zufolge hätten sie den allzu „feurigen“ Bruder vor seinem ausschweifenden Lebenswandel bewahren können. Bemerkenswert an dieser frühesten Fassung ist zweierlei: Sie dokumentiert, wie engagiert und progressiv ihr Autor am pädagogischen Diskurs seiner Zeit teilnimmt, indem er für eine dem individuellen kindlichen Bedürfnis angepasste Erziehung einsteht. Darüber hinaus spricht aus der Skizze bereits eine ausgemachte Sympathie für den mutmaßlich „verlorenen“ der beiden Brüder: Bei einer wohldosierten Strenge der Eltern würde dieser „seinen Bruder an Verdiensten weit zurück gelassen haben“, heißt es am Ende.

Schubart beherrschte meisterhaft das Extempore, ganz gleich ob literarischer oder musikalischer Natur. Aus seiner Zeit als Schulmeister in Geislingen sind viele solcher Vers- und Prosastücke unter dem Titel Schuldiktate aufgezeichnet worden. Am 10. November 1768 ließ er vor versammelter Klasse den Brief eines gewissen Jakob Federfuchs aufsetzen, der in einfacher und den Schülern naher Sprache die Anekdote vom Brüderpaar erzählt, das jetzt die Namen Wilhelm und Louis trägt. In dieser zweiten Version sind, zum Teil bis in den Wortlaut, die wichtigsten Elemente aller späteren Druckfassungen ausgebildet: Der jüngere Louis frönt dem Laster seit Jugendtagen und wird zur Strafe vom Vater enterbt. Er flieht in den Militärdienst, während der tugendhafte Wilhelm zu Hause bleibt. Kurz darauf kippen diese Attribute und der jeweils wahre Charakter der Brüder kommt ans Licht: Der abwesende Sohn empfindet Reue, dankt ab und lebt fortan als einfacher Landarbeiter; der vormals Unbescholtene aber entpuppt sich als grundverlogen, unterschlägt die bald folgenden Suppliken seines Bruders und trachtet nach dem väterlichen Erbe. Zum rechten Zeitpunkt gelingt es Louis schließlich, den Vater vor vier Auftragsmördern im Dienste Wilhelms zu retten. Wiedererkennung und allseitige Vergebung stellt sich ein, und der fiktive Briefschreiber kann seine jungen Zuhörer mit zwei Strophen moralisierender Verse über die Tücken der Menschenkenntnis bestärken.

Die sieben Jahre danach im Schwäbischen Magazin für gelehrte Sachen erschienene dritte Version ändert an der Handlung nicht wesentlich mehr als den Namen des reumütigen Bruders, ersetzt aber den spontan-mündlichen Duktus des Schuldiktats durch ein höheres Sprachregister und eine konzentriertere Erzählweise. Carl, wie er nun heißt, ist außerdem um einiges komplexer gestaltet und tritt, der Haltung seines Schöpfers vermutlich ebenso wie dem allgemeinen Zeitgeist entsprechend, als ein richtiger Stürmer und Dränger auf („Ein neuer Donner in Carls Herz!“). Abermals beschließt ein Kommentar die Geschichte: Sie beweise doch, „daß es auch teutsche Blefil und teutsche Jones gebe“. Der etwas kühne Vergleich mit den beiden Gegenspielern in Henry Fieldings großem Roman Tom Jones, den man seit 1771 auch in deutscher Übersetzung lesen konnte, mag verzeihlich sein, wenn man Schubart zugesteht, seinen einleitenden literaturpolitischen Forderungen zuletzt noch einmal Nachdruck zu verleihen.

Vielleicht hegte er dabei aber auch schon den Gedanken, die liebgewonnene Anekdote bald selbst ins epische Fach zu überführen. So verschiedene Texte er bisher publiziert hatte – Journalistisches und Belehrendes in seiner Deutschen Chronik, Gedichte, Epigramme, Fabeln, Rezensionen –, an den Roman hatte er sich noch nicht gewagt. Von März bis April 1775 waren im Ulmischen Intelligenzblatt dann tatsächlich sechs „Kapitelchen“ zu lesen, in denen er die Geschichte, die jetzt immer deutlicher zu Carls alleiniger wird, geradezu gewaltsam auf die notwendige Länge der Zielgattung „hinstreckt“. Ungefähr ab der Mitte der Handlung ist Schubart die Fortsetzung schuldig geblieben. Allenfalls die vielen eingestreuten Namen von literarischen und theologischen Autoren und ihren Werken dürften an diesem Fragment relevant sein, gewähren sie doch einen guten Einblick in das intellektuelle Klima und die Kontroversen der Zeit. Die kompositorischen Schwächen können sie indessen kaum eskamotieren.

Neben der bereits genannten „räuberischen“ Inspirationsquelle ist ein weiterer, wohl gar der populärste Schubart-Topos, dass er zehn Jahre seines Lebens (1777–1787) im Gefängnis auf dem Hohenasperg verbüßt hat, ohne recht zu wissen, wessen man ihn anklagte. Während der Haft war er keineswegs müßig, schrieb unter anderem 1780 sein berühmtes Gedicht Die Fürstengruft und diktierte einem Zellengenossen, was später als Autobiografie unter dem Titel Schubart’s Leben und Gesinnungen veröffentlicht wurde. Sein „Lebensthema“, wie Knödler es mittlerweile nennt, hat er dort jedoch ruhen lassen und erst 1790 in Marx, der Strahlbue. Eine Geniegeschichte letztmalig aufgegriffen. Die auffälligste Veränderung, die zugleich mit der persönlichen Wandlung Schubarts nach seiner Freilassung korrespondiert: Eine Umkehr des liederlich umherschweifenden Marx vollzieht sich erst ganz zum Schluss, als er nach dem Tod des Vater mit seinem Bruder Jakob zusammentrifft, alle Verfehlungen bereut und zur Erbauung seiner selbst sowie der (jungen) Leserschaft ein vielstrophiges Lied anstimmt, das ihren kraftgenialischen Tatendrang zu bändigen und stattdessen Gottes Nähe zu suchen verfügt.

So hat Zur Geschichte des menschlichen Herzens – pars pro toto – Schubart in den unterschiedlichsten Lebensphasen und Professionen begleitet und Mal für Mal in die Geschichte seines eigenen Herzens spähen lassen: Er schrieb von den zwei Brüdern als theoretisierender wie als praktizierender Pädagoge, als bekennender Patriot und Literaturvermittler, als Romancier auf Probe und zuletzt als ein Mann, der nach später Absolution für seine jugendlichen Ausschweifungen gesucht hat. Auch wenn gewiss nicht jeder dieser fünf Texte ein Stück Literatur von Rang geworden ist und eine poetische Eigenständigkeit sowie eine überzeugende Form wohl nur die zweite und die dritte, bekannteste Fassung für sich beanspruchen können: Dass sie überhaupt ediert wurden und damit nun seit Längerem wieder einmal etwas vom künstlerischen Multitalent aus Schwaben erhältlich ist – noch dazu in vorbildlicher Ausstattung –, darf gern breit beachtet und gewürdigt werden.

Kein Bild

Christian Friedrich Daniel Schubart: Zur Geschichte des menschlichen Herzens. Alle fünf Fassungen (1767-1790).
Wehrhahn Verlag, Hannover 2018.
94 Seiten, 9,80 EUR.
ISBN-13: 9783865256287

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch