Der frühneuzeitliche Lessing
Friedrich Vollhardts Monografie öffnet neue Forschungsperspektiven zum Verständnis des berühmten Aufklärers
Von Bernhard Walcher
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAm 6. Juli 1769 schreibt Gotthold Ephraim Lessing an seinen jüngeren Bruder Karl Gotthelf, der als erster Nachlassverwalter des großen Aufklärers aber auch als nicht besonders erfolgreicher Komödienschreiber in die Literaturgeschichte eingegangen ist, als Entgegnung auf dessen Bitte um Rat für seine Dramenkonzeption folgende Worte: „Ich habe es Dir schon oft mündlich gesagt, woran ich glaube, daß es Dir fehlt. Du hast zu wenig Philosophie und arbeitest zu leichtsinnig“. Die Briefstelle ist paradigmatisch für das Verständnis von Lessings Werk und Persönlichkeit: Sein unerbittlicher, bisweilen schroff und verletzend wirkender, aber immer geistreich-gelehrter und nicht selten unterhaltsamer Wille, dem eigenen Urteil Ausdruck zu verleihen, werden darin ebenso deutlich wie seine hohe Meinung von der Philosophie gerade in ihrer Bedeutung für die Literatur.
Das große Verdienst der vorliegenden, lange erwarteten Werkbiografie des Münchner Germanisten Friedrich Vollhardt ist es, den Philosophen und Gelehrten Lessing neben seiner Bedeutung als (Theater-)Dichter, Kritiker und Essayist gleichberechtigt in den Vordergrund zu stellen. Dabei profitiert die Darstellung von Vollhardts in den letzten Jahren erschienenen Sammelbänden und Aufsätzen zu religionsphilosophischen Fragestellungen sowie zur frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur und Naturrechtslehre, zu bedeutenden Vertretern der deutschen Früh- und Spätaufklärung wie Christian Thomasius und Johann Georg Schlosser und nicht zuletzt von seinen einschlägigen Studien zu Lessing selbst. Deutlich wird, dass es Vollhardt darum geht, Lessing von der Frühen Neuzeit und nicht – wie schon so oft geschehen – von seiner (vermeintlichen) Modernität der Goethe-Zeit her zu lesen und zu deuten. Um es anders zu formulieren: Vollhardt denkt Lessing in erfrischender Weise einmal nicht in die ‚Moderne‘ hinein, sondern von seinen frühneuzeitlichen Wurzeln her und betont gleich zu Beginn, dass „Lessings Wissen um die Begrenztheit des menschlichen Erkenntnisvermögens – unser asylum ignorantiae“ mehr „mit dem Späthumanismus der Leibniz-Ära als mit dem Subjekt- und Freiheitsbegriff der Weimarer Klassik“ teile. Es ist wahrscheinlich nicht zu hoch gegriffen, wenn man Vollhardts Werkbiografie zu Lessing auch als Querschnitt, vielleicht sogar als Summe seiner Aufklärungsstudien versteht.
Der Untertitel Epoche und Werk markiert, dass Vollhardt sich einerseits in die Tradition der von Wilfried Barner, Gunter Grimm, Helmuth Kiesel und Martin Kramer 1975 in der Reihe der blauen Beckschen Arbeitsbücher Literaturgeschichte zuerst publizierten Standardeinführung Lessing. Epoche – Werk – Wirkung stellt, was sich auch in den kurz gefassten, jedem Kapitel angegliederten Literaturhinweisen bemerkbar macht. Andererseits bieten gerade die Kapitel zu (auch unbekannteren) Texten Lessings, die nur vor einem religionsphilosophischen Horizont zu verstehen sind, neue Forschungsperspektiven und Einsichten und gehen damit weit über ein (zusammenfassendes) Einführungswerk hinaus. So profiliert Vollhardt etwa den religionsphilosophischen und theologiegeschichtlichen Rahmen von Lessings unvollendet gebliebenem Text Das Christentum der Vernunft (1751/53), seziert penibel die geistesgeschichtlichen und moraldidaktischen Voraussetzungen von Lessings Rettungen vor allem des als Libertin und Atheisten kritisierten italienischen Humanisten Hieronymus Cardanus (Girolamo Cardano) oder spürt Lessings bibliophilem und literarhistorischem Interesse an einem Gedicht des Jesuiten und Dichters der frühen schlesischen Barockdichtung Andreas Scultetus (Andreas Scholz) nach, was nicht zuletzt dazu anregt, über Lessings Position zur Barockdichtung noch einmal nachzudenken. Die für das Verständnis der Morallehre, Religionsphilosophie und Theologie des 18. Jahrhunderts maßgeblichen Autoren wie Johann Lorenz Mosheim, Johann August Eberhard, Christian Wilhelm Walch und Johann Gottlieb Töllner oder humanistische Theologen wie Adam Neuser, mit denen sich Lessing auseinandersetzte, mögen nicht zur Standard-Lektüre des durchschnittlichen Lessing-Lesers gehören, deren Relevanz für sein Werk stellt Vollhardt aber plausibel heraus. Dennoch zeigt sich gerade in diesen sicherlich interessantesten Kapiteln und Passagen, dass es sich bei Vollhardts Darstellung eben durchaus um eine ihrem Anspruch nach innovative Arbeit handelt, die Forschungsperspektiven schaffen will.
Damit ist ein Problem berührt, das alle wissenschaftlichen Gesamtdarstellungen zu einem Autor betrifft und angesprochen werden muss. Im Falle von Lessing ist diese Frage umso drängender, als mit dem großartigen, von Monika Fick 2016 bereits in vierter Auflage herausgebrachten Lessing-Handbuch und der 2008 erschienenen, über tausend Seiten starken Biographie zu Lessing des englischen Germanisten Hugh Barr Nisbet sowohl für den interessierten Leser und Forscher als auch den ohne Vorkenntnisse mit Lessing konfrontierten Studenten und Experten Zugänge zu Leben und Werk des Aufklärers vorliegen. Die Frage ist also, wie voraussetzungslos oder – umgekehrt – voraussetzungsreich darf und soll man über Lessing schreiben. Vollhardts Darstellung findet dabei genau das richtige Maß an innovativer Neu-Perspektivierung und solider, kenntnisreicher Zusammenfassung. Er hat keine reine Biografie, kein Arbeits- oder Handbuch, sondern eine wissenschaftlich fundierte, auf dem neuesten Stand der Forschung aufbauende, kontextorientierte Werkbiografie vorgelegt, die sich zum Ziel setzt, „das Exemplarische an der individuellen Entwicklung des Schriftstellers zu erfassen und damit zugleich ein Bild der Epoche zu entwerfen, die die veränderten Anforderungen an die Literaturgeschichte berücksichtigen und für die Klassiker-Lektüre fruchtbar machen sollte“.
Den chronologischen Aufbau und die Orientierung an den wichtigsten Lebensstationen und „profilbildenden Werken“ begründet Vollhardt mit dem überzeugenden Anspruch seiner Darstellung, dadurch „Handlungsräume, Wahlmöglichkeiten und Kommunikationspartner“ in den Blick nehmen zu können, wodurch „Konstellationen von Problemlagen im literarischen Leben des 18. Jahrhunderts“ sichtbar gemacht werden können. Die Bedeutung von Lessings Meißener und Leipziger Zeit, in der er mit naturwissenschaftlichen Theorien und philosophischen Überlegungen etwa von Johann Heyn oder dem Newton-Nachfolger in Cambridge William Whiston in Kontakt kam, kann dabei gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Für Vollhardt ist Lessings Biografie auch ein Schmelztiegel gerade jener „Problemlagen der Leipziger Aufklärung um 1750 in ihrer Stellung zwischen Apologetik und Freigeisterei, Newton-Rezeption und wolffianischer Schulphilosophie, Journalismus und Lehrdichtung“.
Mit erklärten Gegnern wie dem lutherischen Theologen Johann Melchior Goeze im sogenannten Fragmentenstreit oder dem Philologen und preußischen Geheimrat Christian Adolph Klotz im Zusammenhang mit der Laokoon-Schrift ging Lessing mit spitzer Feder ebenso scharf ins Gericht wie mit Freunden (Friedrich Nicolai) oder dem eigenen Bruder. Dass sich hinter diesen Auseinandersetzungen auch taktische, literartursoziologisch erklärbare Motive verbergen und ritualisierte Formen der gelehrten Auseinandersetzung zur Geltung kommen, macht Vollhardt nicht nur an den genannten berühmten Beispielen deutlich, sondern arbeitet konsequent an einer Kontur der Gelehrtenkultur des 18. Jahrhunderts, in deren Kontext er Lessing immer wieder verortet. Die zwar nicht erfundenen, meist aber doch überbewerteten Kolportagen von Lessings Spielsucht, Übermütigkeit und Aufsässigkeit gegenüber verdienten Personen der Gelehrtenwelt des 18. Jahrhunderts sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass Lessing vor allem ein disziplinierter, unermüdlicher und penibler Gelehrter gewesen ist, der sehr genau vergangene und zeitgenössische Diskussionen und Diskurse in Philosophie und Theologie, Literatur und Theater verfolgte.
Friedrich Vollhardts Werkbiografie lässt Lessing nicht in einem völlig neuen Licht erscheinen und präsentiert den nachdenklichen Philosophen neben dem aufrührerischen Provokateur, den Verfasser der Miss Sara Samspon neben dem Liebhaber schlesischer Barockdichtung. Die Darstellung setzt aber durchaus neue Akzente, indem sie einen emphatisch-positiven Aufklärungsbegriff vermeidet und vielmehr den Wurzeln jener Bewegung im 17. Jahrhundert nachspürt. Damit kommt Vollhardt wohl Lessings eigenem, ambivalenten Verständnis der eigenen Epoche und seiner Überzeugung, dass es letzte Wahrheiten nicht gibt, sehr nahe. Denn die ‚Grenzen der Aufklärung‘, das vielleicht nicht und nie zu erfüllende Streben nach Glückseligkeit und das Misstrauen in die „beste aller Welten“, hat Lessing am eigenen Leib erfahren. Nachdem im Dezember 1777 sein Sohn kurz nach der Geburt gestorben war – dessen Mutter, Lessings Frau, sollte dem Kleinen am 10. Januar 1778 nachfolgen –, schreibt Lessing am Silvestertag des Jahres 1777 an seinen Braunschweiger Freund Johann Joachim Eschenburg jene Worte, die das ganze Dilemma der auf die Vervollkommnung von Welt und Gesellschaft sowie auf die Glückseligkeit des Menschen ausgerichteten Aufklärungsbewegung in der Bestandsaufnahme einer Alltagssituation erfassen: „Ich wollte es auch einmal so gut haben, wie andere Menschen. Aber es ist mir schlecht bekommen.“
|
||