Dozierende Performer*innen

She She Pop spüren in „Sich fremd werden“ der eigenen Ersetzbarkeit nach

Von Pamela GeldmacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Pamela Geldmacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ironie hin oder her: She She Pop sind jetzt das, was sie im Namen tragen: Populär. Spätestens mit der Auszeichnung des renommierten Theaterpreises Berlin 2019, den sie im Mai entgegennehmen werden, kommen sie somit dem nahe, was der Duden wie folgt übersetzt: „Beim Volk, bei der großen Masse, bei sehr vielen bekannt und beliebt“ sein. Mehr noch finden She She Pop „bei der Masse Anklang, Beifall und Zustimmung“. Nach 26 Bühnenjahren allerdings davon auszugehen, dass der Zenit überschritten sein könnte und der schleichende Verfall sukzessive einsetzen wird, erscheint verfehlt. Denn populär heißt auch „gemeinverständlich“. Das aber werden She She Pop, so steht optimistisch zu vermuten, nie sein. Zeugnis dafür legt neben dem sich konsequent erweiternden Œuvre des Performance-Kollektivs auch der 152-seitige Band Sich fremd werden. Beiträge zu einer Poetik der Performance ab. Unter der Herausgeberschaft von Johannes Birgfeld vereinen sich unter diesem Titel drei Vorträge, die She She Pop im Frühsommer 2018 im Rahmen der von Birgfeld verantworteten 7. Saarbrücker Poetik-Dozentur für Dramatik gehalten haben. Milo Rau, Kathrin Röggla, Roland Schimmelpfennig oder Rimini Protokoll sind namhafte Vorgänger*innen.

Entgegen ihrer sonstigen Wirkweise haben She She Pop die Vorträge nicht als Kollektiv gehalten. Stattdessen sind es Lisa Lucassen, Ilia Papatheodorou und Sebastian Bark, die in ihren Einzelvorträgen drei zentrale Parameter verhandeln: Partizipation, Kollektiv und Material. Lucassen, Papatheodorou und Bark sprechen in ihrer vortragenden Funktion also explizit nicht als She She Pop, sondern als je individuelle Personen, die in dem Kollektiv She She Pop agieren. Eben darin zeigt sich zu Beginn bereits das Spannungsfeld, in dem die Performer*innen wirken. She She Pop haben die produktive Uneinigkeit innerhalb eines Kollektivs konstruktiv sichtbar und salonfähig gemacht, sie opponieren damit gleichzeitig gegen traditionelle und vielfach patriarchal geprägte Arbeitspraxen und werfen seit einem Vierteljahrhundert Alternativen zu diesen auf.

Für Lisa Lucassen liegt eine dieser Alternativen insbesondere in der Labor-Arbeit, die durch eine „produktive Unruhe“ geprägt ist. Diese Unruhe entstehe zum einen durch fehlende Hierarchien und daraus resultierende „individuelle Stimmen“, die „idealerweise in einem polyphonen Gefüge“ zu hören sind. Zum anderen sei es das Publikum, das jedwede Vorannahmen oder Setzungen ins Wanken bringe. Nun ist das Labor in der Kunst nichts Neues. Gerade die Künstler*innen der Neo-Avantgarde widmeten sich dieser Form der gemeinsamen Arbeit. Laboratorium für außergewöhnliche künstlerische Experimente hieß beispielsweise jener durch Giuseppe Pinot-Gallizio und Asger Jorn 1955 begründete Vorgänger der später folgenden Situationistischen Internationale. Deren Anspruch, Leben und Kunst ineinander übergehen zu lassen, spüren Lucassen und ihre Mitstreiter*innen auf gegenwärtige Weise nach. Lucassen formuliert in ihrem Vortrag: „Bei She She Pop steht weniger die ‚gesellschaftliche Beeinflussung‘ im Vordergrund als das Experiment: Es geht darum, im Schutz des Theaters etwas zu öffnen, was Hans-Thies Lehmann einen Möglichkeitsraum nennt.“ Dieses spielerische Öffnen bildet das utopische Potenzial, bei dem Situationen anders gewendet, umgedeutet und neue Handlungspotenziale oder „Gesellschaftsordnungen“ erprobt werden können. Das bezieht sich nicht nur auf Machtdiskurse, die sich insbesondere an genderspezifischen Fragen entzünden, vielmehr geht es auch um Konfliktfelder, die beispielsweise die Herkunft oder das Alter betreffen – so zu beobachten in den Stücken Schubladen (2012) oder Testament (2010).

Lucassen lässt dahingehend gar nicht erst den Verdacht aufkommen, dass Publikum und Künstler*innen die neuen Möglichkeitsräume auf der gleichen Achse begehen. Nein, die „Verantwortung für den Theaterabend“ werde zwar geteilt, „aber nicht symmetrisch, denn die Beziehung zwischen den Performer*innen und dem Publikum ist nicht gleichberechtigt.“ Es ist wichtig, auf diesen Aspekt hinzuweisen, denn im (wissenschaftlichen) Nachdenken über Performance(s) wird dieser ebenso häufig fehlgedeutet wie jener, dass Performances nur dann ‚richtige‘ Performances seien, wenn sie einmalig und uninszeniert daherkommen. Dabei wohnt jeder einmaligen Performance immerzu ein inszenatorisches Moment inne. Planung und Organisation gehen einer jeder Performance voraus – in welchem Umfang auch immer. Es geht also nicht um den Versuch einer vordergründigen Symmetrie zwischen Performer*innen und Publikum oder dem Beiwohnen einer einmaligen Aus- und Aufführung, sondern es geht vielmehr um Brüche, Reibung, Konfrontation, Irritation. Ergo um ein Spiel, dessen Ende gewiss kommen wird, dessen Qualitäten sich aber immer erst im Verlauf zeigen. In Über die Ästhetische Erziehung des Menschen (1794) hat Friedrich Schiller im Vierzehnten Brief den Spieltrieb auf ästhetische Konfigurationen hin konzentriert und für die ästhetische Erziehung als maßgeblich identifiziert. Der Mensch ist nach Schiller „nur da ganz Mensch wo er spielt.“

Den Erziehungsaspekt wiederum greift Bertolt Brecht in seinen Überlegungen ab den 1930er Jahren zu den Lehrstücken und dem experimentellen Theater auf, in dem er ohne Trennung zum Publikum mit diesem auf ein experimentelles Aushandeln setzt. She She Pop orientieren sich in vielerlei Hinsicht an Brechts Theaterdiktum. Lucassen hebt dabei insbesondere die experimentelle Situation mit dem Publikum hervor, obschon ihr die von Brecht vorgetragene „gesellschaftliche Beeinflussung“ weniger zentral erscheint. Von außen betrachtet klingt diese Aussage zurückhaltend. Denkt man jedoch an die und das Arbeiten von She She Pop muss diese Distanzierung Lucassens durchaus kritisch betrachtet werden. Welche/r Künstler*in kann sich außerhalb einer gesellschaftlichen Rahmung und Einflussnahme auf ebendiese berufen, wenn sie/er ebendort öffentlichen (Bühnen-)Vollzug anmeldet? Wie stark der Einfluss ist, darf tatsächlich hinterfragt werden, dass Einfluss genommen wird, steht spätestens nach Lektüre der Begründung zur Vergabe des Theaterpreises durch die Berliner Stiftung Preußische Seehandlung außer Frage.

Über das Spielerische nachhaltige Wirkkraft zu erzielen scheint viel eher elementare Konsequenz der Arbeiten von She She Pop zu sein. Martina Ruhsams „Spielraum an Differenzen“ kann für diese ästhetische Praxis als adäquates Theorem herangezogen werden, denn ebendieser wird in den Stücken She She Pops offenbar. Teil des Spiel(raum)s zu werden ist ein Aspekt der Anziehungskraft, die She She Pop in das Zentrum der Performanceszene gerückt hat. Die Besucher*innen wissen, dass sie Regeln und Instruktionen für den Verlauf des Abends erhalten werden (in dem vorliegenden Buch werden diese Erklärungen, sogenannte Erklärbären, als Texttrenner zwischen den Vortragsskripten eingefügt und geben dadurch Einblick in eine weitere Eigenheit des She She Pop-Universums, nämlich zu Beginn jeder Performance das Szenario zu erklären). Es gibt somit keine Überraschungen in Bezug auf das Setting. Das Ausagieren innerhalb dieser mitunter objektlosen Szenografie ist allerdings der Inbegriff jener „utopischen Kommunikation“ von der Lucassen spricht. Das Utopische bei She She Pop lässt sich im Sinne von „Micro-Utopien“ (Nicholas Bourriaud) oder „kleinen Utopien“ (Martin Bondeli) verstehen. Es geht also keineswegs um einen systematischen gesellschaftlichen Gegenentwurf, oder darum, wie Ernst Bloch es fasst, „Ideale zu verwirklichen“. Viel eher, nochmal mit Bloch gesprochen, ist es das Bestreben der Utopie, „dieses Wesen, womit die gegenwärtige Gesellschaft schwanger ist, in Freiheit zu setzen.“ Die bedingungslose Infragestellung von Stabilitäten durch She She Pop ermöglicht in den Stücken den Raum für mikroutopische Konstellationen. Indem die Arbeiten in jeder/m Zuschauer*in der Performances weiterwirken, ragen diese zudem in die Gesellschaft hinein.

Ilia Papatheodorou arbeitet in ihrem Vortrag die Selbstinfragestellung auf der Ebene der individuellen Ersetzbarkeit innerhalb des Kollektivs heraus. Angelehnt an Papatheodorous Ausführungen lässt sich die partielle Prominenz, die partielle Wertschätzung, die die Einzelmitglieder von She She Pop erhalten, mit Mannschaftssportarten vergleichen. Jeder bringt sich selbst mit allen Stärken und Schwächen ein, gewonnen und verloren aber wird gemeinsam. Das Vorhaben, wie Papatheodorou es fasst, mit She She Pop „einem politischen und feministischen, […] separatistischen Impuls“ zu folgen, um „patriarchale und hierarchische Produktionsweisen abzuschütteln, eine andere Bühnenrealität zu behaupten und eine andere Produktionsweise zu befördern“, konnte und kann offenbar nur gelingen, indem „alle gleichberechtigt an Entscheidungsprozessen in einem Projekt beteiligt“ sind. Dieses individuelle Aufgehen im Kollektiv bis hin zur Ersetzbarkeit birgt gleichwohl Gefahren. Als „polyphones Gruppenportrait“ ist die Abschaffung des eigenen Selbst für Papatheodorou unhintergehbar und erfordert zugleich ein Maximum an Vertrauen untereinander, damit dieses „gleichmachen“ den je individuellen Movens und die Weiterentwicklung nicht verhindert. Die „kunstvolle Organisation von Gemeinschaften“, die für She She Pop laut Papatheodorou in den letzten Jahren in den Vordergrund gerückt ist, basiert ihres Erachtens auf der Ersetzbarkeit der „Einzel-Künstler*innen, [der] künstlerischen Subjekte“. Aber ist dieser Gedanke auch aus Rezipient*innensicht nachvollziehbar? Es darf zumindest der Zweifel angebracht werden, dass die Zuschauer*innen die (gefühlte) Subjektlosigkeit der Performer*innen während eines Performance-Abends mit She She Pop gleichermaßen teilen.

Auf einen ähnlich spannungsvollen Gedankenzug wie Papatheodorou springt auch Sebastian Bark auf. Sein Vortrag über das Material der Performances von She She Pop ist ein erhellender Entwurf, das Material an die Begriffe des Authentischen, des Autobiografischen und der Selbstinszenierung zu binden und hernach durchzudeklinieren. Auch wenn sich alle drei Termini überschneiden, so bilden sie die Grundlage dafür, zu verdeutlichen, warum es sehr wohl um eine „gesellschaftliche Utopie“ bei She She Pop geht. An dieser Stelle ist Bark versus Lucassen zu lesen, was auf befruchtende Weise die innerhalb des Kollektivs bestehenden Unterschiede erfahrbar machen lässt – mit Papatheodorou gesprochen: „Wir sind uneins und sehen das als Bereicherung.“ Bark forciert das zentrale Moment des gemeinsamen Agierens dann auch indem er verdeutlicht, dass es She She Pop um Fragen geht, „die niemand allein beantworten kann.“ Das „banale Private“ wird zum „Politischen“ und ist damit wiederum maßgeblich für die Popularität des Kollektivs verantwortlich.

Alle drei Druckfassungen der Vorlesungen sind pointiert und im Vergleich zu der oftmals in Worthülsen agierenden Wissenschafts(sprach)welt praxisnah und klar formuliert. Aenne Quiñones, die She She Pop in ihrem additionalen Aufsatz eine Vorreiterrolle innerhalb der Künstlerzunft zuschreibt, rundet gemeinsam mit einem weiteren Beitrag von Johannes Birgfeld die Vortragstexte, die Auszüge aus den Stücken – besagte Erklärbären, die Birgfeld als „poetologische Reflexionen“ bezeichnet – und das Werkverzeichnis ab. Ein kurzes editorisches Vorwort mit einer Verknüpfung dieser vielfältigen Textelemente hätte der 152-seitigen Publikation, die mit 50 Abbildungen angereichert ist, gut getan. Dass Birgfeld diese Verbindungen am Ende herstellt ist gleichwohl dankenswert. Einzig das vom Herausgeber beschriebene „Ideal der im Rahmen einer solchen Dozentur zu haltenden Vorlesungen“ darf trotz des Hinweises des Herausgebers auf dessen Ambivalenz kritisch hinterfragt werden. Dass man von Vorträgen eine „komplexe wie begrifflich klare, differenzierte wie präzise Skizzierung der dem eigenen künstlerischen Werk zugrunde liegenden Ambitionen und Entscheidungen“ (Birgfeld) erwartet, widerspricht der Hoffnung, die vor allem und gerade (externe) Universitätsangehörige an eine solche Poetik-Dozentur knüpfen. Es ist gut, dass She She Pop diese Erwartung konterkarieren, in dem sie die bereits benannten Spielregeln aufwerfen, mit denen eine „utopische Kommunikation unter Anwesenden in einer asymmetrischen Machtkonstellation“ (Birgfeld) erfahrbar wird. Die Partizipation ist für die/den Rezipient*in zwar im Format der Vorlesung und noch weniger in der gedruckten Form ähnlich unmittelbar wie im Verlauf einer Performance. Das Konglomerat aus Text- und Bildteilen bildet jedoch in dem Band Sich fremd werden erstmalig den belebenden Ansatz, mit dem Kollektiv über deren Tun (co-)sinnieren zu können.

Titelbild

She She Pop: Sich fremd werden. Beiträge zu einer Poetik der Performance.
Herausgegeben von Johannes Birgfeld.
Alexander Verlag, Berlin 2018.
152 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783895814266

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch