Was mir folgt, das fliehe ich; was mir entflieht, verfolg’ ich selbst

Volker Hage schildert in seinem Roman „Des Lebens fünfter Akt“ das Dasein Arthur Schnitzlers als einen nicht enden wollenden, beeindruckenden Kampf um Liebe, Nähe und Erlösung

Von Anna-Zoe MauelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anna-Zoe Mauel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein seltsames Gefühl ist es, eine Biographie oder Autobiographie über jemanden zu lesen, den man durch die Lektüre seiner literarischen Erzeugnisse immer wieder aufs Neue zu erahnen versucht; ungewohnt, einen Menschen auf diese Weise als Menschen kennenzulernen, und nicht als Autor einiger Bücher, die man gelesen hat. Noch spannender wird es allerdings, wenn auf einmal dieser Mensch, der wirklich gelebt hat und bestimmte Assoziationen weckt, wiederum Akteur in einem Roman wird. Genau dies geschieht im neuesten Buch des Journalisten und Schriftstellers Volker Hage. Auf der Grundlage von Arthur Schnitzlers Tagebüchern und einer Reihe weiterer Zeitzeugnisse rekonstruiert und vervollständigt er in Des Lebens fünfter Akt Schnitzlers letzte Lebensjahre und macht sie zu etwas Rundem – etwas, das ein Tagebuch allein nicht leisten kann, denn das eigene Leben nimmt man nicht als Ganzes wahr. Hage rundet ab, auch wenn Schnitzlers Lebensabend nicht als ein ruhiger bezeichnet werden kann, sondern vielmehr als die Geschichte eines Niedergangs, obzwar mit vielen Lichtblicken.

Schnitzler ist in seinen späten Sechzigern, als der Roman einsetzt. Es geht ums Altwerden; die Schmerzen werden penetranter, der beginnende körperliche Verfall macht sich lautstark bemerkbar – und plötzlich nimmt dieses Leben noch einmal eine unerwartete, schmerzliche und grausame Wendung. Schnitzlers Tochter Lili, frisch verheiratet und gerade 18 Jahre alt,  bringt sich um. So viele Frauen konnte der Arzt und Schriftsteller, der Verführer und vom anderen Geschlecht Begehrte halten, nur die eigene Tochter verlässt ihn, die über alles geliebte, durch einen nicht recht gewollten Selbstmord.

Diese nicht zu schließende Wunde gräbt sich gewaltsam in Schnitzlers restliches Leben, das ihm nun vermehrt durch den Kopf geht. Es ist natürlich vor allem die Liebe, die dort wie im Roman die Hauptrolle spielt; in einem Dasein voll menschlicher Wärme, strotzend vor Liebesgeschichten, Eifersuchtsszenen, Notlügen. Manchmal liest sich das Buch fast wie ein französischer Liebesroman aus dem 18. Jahrhundert, so verzweigt sind die Beziehungen nicht nur Schnitzlers zu den Frauen, sondern auch der Frauen untereinander, die sich meist persönlich kennen und natürlich gegenseitig verdächtigen. Sicherlich, die anstrengende Beziehung Schnitzlers zu seiner Lebensgefährtin Clara ist nach dreihundert Seiten auch für den Leser etwas ermattend. Doch geht es nicht einfach um das sexuelle Leben eines Hedonisten, sondern auch um die wunderbare späte Liebe zu einer 36 Jahre jüngeren Frau, um tiefste menschliche Verbundenheit und Jahrzehnte überstehende Freundschaften. Zwischendurch blitzt dabei die tiefe Verzweiflung auf, die Angst und das Leid, die Schnitzler immer wieder dazu treiben, sich in neue Liebesabenteuer zu stürzen. Der Ton ist sensibel, melancholisch.

Der Roman beschreibt im wahrsten Sinne des Wortes des Lebens fünften Akt; Schnitzlers letzte Jahre sind eine Katastrophe. Der unzumutbare Verlust, die zunehmende Unerträglichkeit einiger seiner Beziehungen, nicht zuletzt die politische Situation um 1930, die ihn durch seinen jüdischen Hintergrund ganz besonders betrifft. Es ist kein Ende, wie man es sich wünscht. „In den fünften Akt gehören solche Dinge nicht“, zitiert Hage Schnitzler. Auch Schnitzlers eigener Tod ist dann kein schöner. Verzweifelt, sich grämend, unentschlossen, was er tun soll, stirbt er. Dennoch verleiht Hage ihm etwas Großartiges; sein Abgang ist katastrophal, aber würdig, denn sein Leben hat er gelebt wie sonst vielleicht wenige. Fast tragisch kommt sein Ende daher, da es letztlich eventuell die Liebe selbst ist, die ihn umbringt, sie, die ihm das Leben auf eigentümlich intensive Weise lebenswert gemacht hat. Ist nicht Schnitzlers Tod (er stirbt bei sich zu Hause an einem Hirnschlag), wie der Tod seiner Tochter, ein halb gewollter Selbstmord – das Leben liebend und doch vieles nicht mehr ertragend? Zumindest weisen seine Albträume in diese Richtung, und auch Hage suggeriert dies. Als sich die Situation zuspitzt, erweist er Schnitzler die Ehre und wechselt von der bisherigen Erzählweise in den inneren Monolog.

Was wirklich berührt, ist der tiefe Eindruck, den der Rückblick auf das eigene Leben bei Schnitzler hinterlässt. Akribisch, ja auf fast krankhafte Weise hat er sein ganzes Leben dokumentiert, in Tagebüchern, auf Listen, in Briefen. Seine früheren Ichs sind ihm teilweise fremd und dennoch findet er sich in ihnen wieder. Wie sehr man sich verändert und doch derselbe Mensch bleibt, das zeigen diese Seiten. Hage gelingt es, die ehrliche und dennoch verzerrte Auseinandersetzung Schnitzlers mit sich selbst zu konzentrieren, zusammenzufassen und zu ordnen, teilweise mithilfe von Fiktionen.

Der Autor bietet seinem Leser über lange Strecken wunderbare Passagen; Zitate aus den Tagebüchern werden fließend eingebaut, die Erzählung stockt durch sie nicht. Trotz all der Schwere erlaubt Hage sich auch den ein oder anderen Scherz: „Vielleicht würde in ferner Zukunft einmal jemand kommen und die Geschichte dieser Ehe erzählen. An Dokumenten fehlte es nicht“. Das Buch ist eine kluge psychologische Studie; oft erinnert es an eine Meditation eines Ichs über sich selbst. Aber Hage findet dabei den nötigen Abstand und erzählt dennoch unglaublich nah.

Des Weiteren ist es kein Wunder, dass der Roman auch stellenweise eine Abhandlung über Literatur ist. Geschickt verflicht Hage Lebensschilderung mit Gedanken über das Schreiben. Es entstehen dabei so wunderbare Formulierungen wie „Er arbeitete besessen, ja geradezu beseligt daran, dem gerade noch Erhaschten Form und Beständigkeit zu verleihen“. Es bleibt lediglich zu fragen, wie viel davon Hage ist und wie viel Schnitzler.

Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass zwischenmenschliche Beziehungen nie ihren Reiz verlieren, auch kurz vor dem Ende nicht. Man liest, Schnitzler habe diese durchleuchtet wie sonst kaum jemand. „Doch was half es ihm? Im richtigen Leben stand er so hilflos und unberaten davor wie jeder andere. Er wusste alles, und er wusste im Grunde nichts.“ Leben, lieben, leiden, festhalten und loslassen, es ist nie vorbei. Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt; glücklich allein ist die Seele, die liebt. Dieser Roman ist eine Variation auf Goethes berühmte Worte und absolut lesenswert, gerade auch für diejenigen, die mit Schnitzlers Tagebüchern nicht vertraut sind.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Volker Hage: Des Lebens fünfter Akt. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2018.
318 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783630875927

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