Eine großartige Schriftstellerin und ein außerordentlicher Mensch hat uns verlassen

Gedanken zu Leben und Werk Mirjam Presslers

Von Karin RichterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karin Richter

Ohne das reiche erzählerische Werk dieser Schriftstellerin wäre die deutsche Kinder- und Jugendliteratur um vieles ärmer. Allein die Kinder- und Jugendromane, die Mirjam Pressler in den letzten 20 Jahren vorgelegt hat, die dem Themenkreis Antisemitismus, Verfolgung Andersgläubiger und -denkender, Intoleranz, Hass und Gewalt verpflichtet sind, gehören zu den eindrucksvollsten Kunstwelten für Kinder und Jugendliche: Malka Mai (2001), Golem stiller Bruder (2007), Nathan und seine Kinder (2009) und Ein Buch für Hanna (2011) verbinden dabei eine spannende Handlung mit einem hohen ästhetischen Anspruch. Die Geschichten haben junge Leser fasziniert, erschüttert, aber auch dazu anregt, über wesentliche Fragen menschlichen Lebens nachzudenken. Mirjam Pressler war es immer sehr wichtig, nicht nur Gewalt und Hass zu zeigen, sondern zugleich auch Zeichen der Hoffnung zu setzen, indem sie von Menschlichkeit, Hilfs- und Opferbereitschaft sowie der Kraft junger Menschen in äußerst schwierigen Situationen erzählte.

Dem genannten Komplex zugehörig ist eine Publikation, die sich nur schwer einem Genre zuordnen lässt und die zugleich eine publizistische Meisterleistung darstellt, die in der literarischen Öffentlichkeit jedoch wenig wahrgenommen wurde: die Veröffentlichung eines gewaltigen Fundus unbekannter Dokumente und vielfältigen Bildmaterials aus dem Besitz von Anne Franks Familie, der im Baseler Haus der Familie Frank entdeckt wurde. Das Buch erschien 2009 unter dem Titel „Grüße und Küsse an alle“. Die Geschichte der Familie von Anne Frank. Mit der Veröffentlichung und erzählerischen Pointierung dieses Korrespondenzschatzes einer großen jüdischen Familie aus Frankfurt hat Mirjam Pressler ihre Beschäftigung mit dem Tagebuch und dem Schicksal von Anne Frank vollendet.

Die Arbeit an diesem Buch, die über mehrere Jahre währte, widerspiegelte wichtige Arbeitsprinzipien dieser Schriftstellerin: Angesichts des gewaltigen Aufwands, der mit der Sichtung dieses großen Dokumentenschatzes verbunden war, und der Erkenntnis der Schwierigkeiten, aus diesen Zeitzeugnissen über mehrere Generationen hinweg ein lesbares Buch zu formen, das Familiengeschichte, Weltgeschichte und literarisch erzähltes Leben vereint, zögerte Mirjam Pressler zunächst. Aber als sie sich entschieden hatte, wandte sie sich mit der ihr eigenen Energie und Akribie dieser Aufgabe zu. Dabei verstand sie es, die Geschichte dieser bekannten Familie immer im Kontext mit historischen Fakten und Entwicklungen zu betrachten und dennoch eine ästhetische Welt zu entfalten. Die Arbeit an dieser Publikation erhellte aber noch eine andere wichtige Prämisse im Erkunden und Entwerfen von Lebensgeschichten mit authentischem Hintergrund: Mirjam Pressler war den Personen, von deren Leben sie erzählte, zumeist sehr nah, ohne die notwendige Distanz zu verlieren, die das Schreiben origineller, ergreifender Lebensgeschichten ermöglicht. Im Falle des Dokumentenschatzes von Basel war es der ständige Kontakt zu Anne Franks Cousin Buddy Elias sowie zu dessen Frau Gerti Elias, die auch an dem Buch mitwirkte.

Dass diese Art des Arbeitens und Schreibens sich nicht nur auf Recherchen zur Familie Frank bezog, sondern gleichsam eine grundlegende Haltung offenbarte, zeigte sich auch im Umfeld mit ihrer ‚Protagonistin‘ Hanna (Ein Buch für Hanna). Mirjam Pressler war ihr in Israel begegnet. Über einen langen Zeitraum gehörte das dortige alljährliche Treffen zum festen Ritus. Wie viele Fragen sie noch an diesen Menschen hatte, wurde ihr erst schmerzhaft bewusst, als Hanna plötzlich starb. Mit dem Roman Ein Buch für Hanna löste sie eine sich selbst auferlegte Verpflichtung ein, ein Buch für Hanna zu schreiben, da sie angesichts zu geringer gesicherter Fakten kein Buch über sie schreiben konnte. Einzelne biografische Daten und Familienereignisse sind belegt, der historische Kontext ist bis ins Detail hinein erforscht, alles andere ist Dichtung im besten Sinne des Wortes.

Cover von Ein Buch für Hanna (2011). Titelbild mit dem ‚Flügel von Giotto‘

Und wie diese Geschichte ihre Fortsetzung fand, konnte ich hautnah und berührend erleben. Mirjam Presslers letzte Reise vor ihrem Tod führte sie nach Leipzig, wo sie das Setzen von Stolpersteinen für Hanna und ihre Familie angeregt hatte und dies nun auch selbst noch miterleben wollte. Beim Verlegen dieser Gedenksteine vor dem Wohnhaus von Mirjam Presslers ‚Protagonistin‘ in Leipzig sind Authentisches und Fiktives wieder zusammengerückt. In einer bewegenden, stillen Atmosphäre in Anwesenheit von Mirjam Pressler und Familienangehörigen von Hanna, die mit Vertretern aus drei Generationen aus England und Israel angereist waren, wurde Geschichte lebendig. Hannas Sohn Amitai Baer sprach in berührenden Worten über die Bedeutung dieses Ereignisses für ihn und seine Familie.

Hannas Familie und Mirjam Pressler (in der Mitte Hannas Sohn Amitai Baer)
© Karin Richter

Das Haus, in dem die Familie Stern wohnte: heute Jahnallee 5 (früher Frankfurter Straße)
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Die Stolpersteine für Hanna und ihre Familie
© Karin Richter

Das Besondere am Werk Mirjam Presslers liegt auch in der Grenzüberschreitung, die sich auf verschiedenen Ebenen vollzog: Sie schrieb für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Sie übersetzte Meisterwerke der internationalen Literatur und öffnete diese für deutsche Leser durch ihre Meisterschaft im Übersetzen, wie beispielsweise Amos Ozʼ Roman Judas – eine Leistung, für die sie mit mehreren Auszeichnungen geehrt wurde. Ein hoher Anspruch verband sich bei Mirjam Pressler auch mit dem Übersetzen von Kinder- und Jugendliteratur. Die Übersetzungen der Jugendromane von Uri Orlev Lauf, Junge, lauf und Der Mann von der anderen Seite sowie der Romane von Lizzi Doron und von Bart Moeyaert legen davon Zeugnis ab.

Mirjam Presslers Schreiben und Übersetzen erfolgte seit Jahren in einem Kampf mit ihrer fortschreitenden schweren Erkrankung. Dabei blieb sie immer dem Leben zugetan, verbreitete Optimismus und Heiterkeit und gewann dergestalt für sich und andere Glück. Der Titel eines ihrer interessantesten Bücher, das unverkennbar autobiografische Bezüge aufweist, stellt gleichsam ihr Lebensmotto dar: Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen.

Ihre Genauigkeit in der Sprache, die sich in einer ästhetischen Schönheit entfaltete, war eine Kunst, in der sich auch die Nähe zu den Figuren widerspiegelte. Die Schriftstellerin blieb nie bei einer äußeren Betrachtung ihrer Protagonisten stehen, sondern beleuchtete sie von innen und entfaltete auf diese Weise die Beweggründe ihres Handelns, Denkens und Empfindens. Das zeigte sich auch in ihren historischen Romanen wie zum Beispiel in Golem, stiller Bruder und in Adaptionen wie Nathan und seine Kinder. Um dem Leser den Blick in das Innere der Figuren zu ermöglichen, wählte Mirjam Pressler sehr unterschiedliche Strukturen, etwa intertextuelle Bezüge zu verschiedenen Märchen von Hans Christian Andersen (Ein Buch für Hanna), vielschichtige innere Monologe, die das Wesen und die Gedankenwelt erhellen (Nathan und seine Kinder) und verschiedene Akzente offenen Erzählens (Golem, stiller Bruder), die dazu beitragen, dass sich die Spannungsmomente im Laufe der Handlung immer stärker entfalten. Es ist das Besondere im Erzählen dieser Autorin, dass gerade mit der Nüchternheit, mit der bedrückende Ereignisse und Erlebnisse in den Blick rücken, jede Art von klischeeartiger Emotionalität vermieden wird und gerade dadurch eine tiefe Betroffenheit beim Leser ausgelöst werden kann. Dass intertextuelle Bezüge bei Mirjam Pressler niemals nur äußerliche Zitate sind, offenbaren gerade die Märchen-Erinnerungen von Hanna: Im Umgang ihrer Protagonisten mit den Märchen von Hans Christian Andersen spiegeln sich ihre Hoffnungen und ihre Hoffnungslosigkeit sowie ihre Trauer angesichts der unermesslichen Verluste, die sie täglich erleben muss, wider.

Dass die sehr unterschiedliche Wahl ästhetischer Mittel keine Suche nach äußeren Formen darstellt, sondern immer der inhaltlichen Ebene verpflichtet ist, offenbart auch Mirjam Presslers historischer Roman Golem stiller Bruder. Die Geschichte führt den Leser nach Prag in die Zeit des Übergangs vom 16. zum 17. Jahrhundert. Einen wesentlichen Hintergrund bildet die weltberühmte Legende, nach der Rabbi Löw einen künstlichen Menschen aus Lehm erschuf, der die Menschen im jüdischen Getto schützen sollte.

Cover von Golem stiller Bruder (2007). Titelbild von Roberto Innocenti

Die Kapitel des Romans werden jeweils abwechselnd als Ich-Erzählung des jungen Jankel und aus auktorialer Perspektive erzählt. Dadurch gewinnt die Geschichte eine besondere Dichte, zumal damit keine platte Wiederholung verbunden ist, sondern eine Darstellung aus verschiedenen Perspektiven, die erst auf diese Weise der Geschichte gerecht werden kann. Äußerst gelungen ist auch die Erzähleröffnung: Nach einer beschwerlichen Reise gelangen Jankel und seine Schwester Rochele nach Prag. Alles ist für die in einer dörflichen Umwelt aufgewachsenen Kinder fremd in dieser Stadt. Auf diese Weise können auch die Leser diese Stadt, ihre besondere Atmosphäre, ihre Gegensätze und Geheimnisse entdecken.

Die sich danach allmählich entfaltende Beziehung zwischen Jankel und seinem Freund Schmulek gehören zu den schönsten und ästhetisch reizvollsten Gestaltungen einer Freundschaft in der gegenwärtigen Kinder- und Jugendliteratur.

Der Roman zeichnet sich durch eine auffällige innere Spannung aus. Stehen zunächst die Überwindung der Strapazen einer langen Reise Jankels und seiner Schwester im Mittelpunkt, so gewinnt zunehmend die Entdeckung der Widersprüche dieser Stadt und die antisemitischen Neigungen der Bewohner an Brisanz, bis die Vernichtung des Golems und die Errettung von Juden eine spannungsvolle Schlusspassage bilden. Für den Weg junger Menschen zu dieser Geschichte ist die phantastische Erscheinung des Golems von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Von ihm geht ein Geheimnis aus, das sich selbst bei einer Einbeziehung verschiedener Versionen der Sage vom Golem nicht einfach lösen lässt.

Eine ganz besondere Form des historischen Romans stellt Mirjam Presslers Erzählwerk Nathan und seine Kinder – eine Adaption von Lessings Drama Nathan der Weise (1779) – dar. Die Autorin nimmt Lessings Werk ernst; sie schafft, wie sie selbst im Nachwort betont, keinen Gegentext, sondern eine Variation, mit der sie dem bedeutenden Aufklärer ihre Referenz erweisen möchte. Ihre Adaption insistiert nicht zuletzt darauf, die Aktualität des Aufklärungsdramas zu zeigen und es für junge Menschen heute so zu erzählen, dass ein interessanter Zugang möglich wird.

Cover von Nathan und seine Kinder (2009) mit der Silhouette von Jerusalem

An­ders als bei Lessing sind die Figuren nicht vornehmlich Sprachrohr von Weltanschauungen, sondern lebendige We­sen mit einer eigenen Geschichte, die Kon­flikte, Emotionen und Gedanken­wel­ten spiegeln. Um die Situation im Jerusalem am Ende des 12. Jahrhunderts lebendig werden zu lassen, fügt Mirjam Pressler neue Figuren ein, die die Atmosphäre in diesem Brennpunkt historischer Ereignisse erzählen und das Aufeinanderprallen dreier Religionen in den Auswirkungen auf das Fühlen und Denken der Figuren erlebbar machen. Die allmähliche Enthüllung des ‚tatsächlichen‘ Geschehens erfolgt in einer Weise, dass sich Baustein auf Baustein fügt; es entsteht nicht sofort ein Gebäude mit klaren Konturen. Es gibt Widersprüche, Verwirrungen, und erst durch einen Leser, der sich in die Geschichte einbringt, fügen sich die Mosaiksteinchen zu einem Ganzen. Der hochaktuelle Roman zielt mit seinem Ende nicht auf Entspannung; die Konflikte verebben nicht in einer harmonischen Szenerie: Während sich Nathan, der Sultan Saladin und der christliche Tempelherr annähern und Freunde werden, bleiben der muslimische Hauptmann und der christliche Patriarch Fanatiker, die im Fremden, im Andersgläubigen den Feind sehen, der vernichtet werden muss. Auf dem Rückweg von einer ‚Feier der Toleranz und Freundschaft‘ im Hause des Sultans wird Nathan ermordet. In Rechas letzter Erzählpassage wird deutlich, wie unwichtig die Frage ist, wer den Mord zu verantworten hat, sondern dass es vielmehr darauf ankommt, danach zu fragen, auf welchem weltanschaulichen und charakterlichen Hintergrund ein solches Verbrechen seine Erklärung findet.

Cover von Dunkles Gold (erscheint voraussichtl. im März 2019)

Obwohl in Mirjam Presslers neuem Jugendroman Dunkles Gold, der im März dieses Jahres erscheinen wird, von einem völlig anderen Geschehen erzählt wird, so ist seine innere Verflechtung mit Golem, stiller Bruder und Nathan und seine Kinder unverkennbar. Der Roman erzählt auf zwei Ebenen über die Geschichte des berühmten Erfurter Schatzes, der im Jahre 1998 gefunden wurde und schlaglichtartig ein dunkles Kapitel in der Erfurter Geschichte enthüllte: die Vernichtung der gesamten jüdischen Bevölkerung Erfurts in einem Pogrom im Jahre 1349. Der Schatz hatte in den Jahren von 1349 bis 1998 unentdeckt in einem Keller der Erfurter Altstadt gelegen. Mit der Geschichte von zwei jungen Mädchen – der fiktiven Tochter des Besitzers jenes Schatzes im Mittelalter und der Tochter einer Kunsthistorikerin der Gegenwart – erhellt Mirjam Pressler in einer bewegenden, spannenden Handlung, wie wichtig Erinnerung ist: „Die Erinnerung ist der Schlüssel zur Vergangenheit, die Vergangenheit ist der Schlüssel zur Gegenwart, und die Gegenwart der Schlüssel zur Zukunft. Zukunft kann gefährlich werden, wenn man die Gefahren nicht rechtzeitig erkennt“ (aus dem Nachwort des Romans).

Mirjam Pressler bei ihren Recherchen zum Erfurter Schatz
© Gila Pressler

Mirjam Pressler erzählt in ihrem letzten Roman nicht nur eine spannende Geschichte, die den Alltag junger Menschen in entfernten Zeiträumen mit seinen unterschiedlichen Facetten und vielschichtigen gesellschaftlichen Hintergründen in den Blick rückt, sondern sie verbindet sie auch mit einem Appell: „Wir dürfen uns an dem Schatz erfreuen, aber wir sollten darüber nicht vergessen, dass ein so wichtiges kulturelles Erbe auch ein Vermächtnis enthält, eine Mahnung für die Zukunft“ (Nachwort des Romans).

Der großartige literarische Schatz, den uns Mirjam Pressler hinterlassen hat, könnte für uns auch ein derartiges Vermächtnis enthalten. In ihrem Sinne zu wirken, heißt auch, ihre reichen Kunstwelten mit Genuss wahrzunehmen – und zugleich danach zu handeln. Mirjam Pressler war eine leidenschaftliche Erfinderin von Kunstwelten, gleichzeitig versuchte sie, mit ihren Lesungen auch Wirkungen zu erzielen, Nachdenken anzuregen, aktives Handeln auszulösen.

In dieser Weise konnte ich Mirjam Pressler auch in Seminaren erleben, die ich mit ihr gemeinsam an der Universität Erfurt gestaltete. Von den 200 interessierten Studenten konnten wir jeweils 50 Teilnehmer aufnehmen, die sich mit dem Thema „Die Darstellung des Holocaust in der deutschen und internationalen Kinder- und Jugendliteratur“ beschäftigten, in dessen Mittelpunkt die von Mirjam Pressler geschriebenen und übersetzten Geschichten standen. Die Begeisterung der Studenten von der Persönlichkeit der Schriftstellerin, von ihrer enormen Sachkenntnis und ihrer emotionalen Ausstrahlung führte zu einem lebendigen Austausch und zu herausragenden Leistungen der Studenten. Selten habe ich in einem Seminar eine derartig hohe Anzahl ausgezeichneter Referate wahrnehmen können. Hier wurde ein Tor für den Zugang zu diesem Thema aufgestoßen.

Wie wichtig derartige Zugänge mit erzählten Geschichten sind, konnte ich auch bei einer Lesung der Autorin aus ihrem Roman Malka Mai vor Gymnasiasten erleben: Die Veranstaltung wurde mit Interviews durch den MDR begleitet, in denen folgende Aussagen der Schüler zum Ausdruck kamen: ‚Eigentlich wisse man wenig Exaktes über den Holocaust, aber das Thema würde so oft in der Öffentlichkeit und in der Schule behandelt, dass es einem zum Hals heraushänge.‘ Nach der Lesung war die Reaktion eine andere: ‚Ja, wenn man der Geschichte auf diese Art begegne, wäre man doch sehr betroffen. Sicher werde man in Zukunft doch in anderer Weise über das Thema nachdenken, auch weil man nun ein richtiges menschliches Schicksal erlebt habe.‘ (Interviews mit Gymnasialschülern durch den MDR, Januar 2010).

Gerade angesichts gegenwärtiger Probleme und Konflikte können uns Gedanken und Geschichten von Mirjam Pressler viele Anregungen geben. In diesem Sinne sollten wir ihr Vermächtnis verwirklichen, wie sie es uns auch in ihrem Vorwort zu einem Band mit dem Titel ‚Holocaust‘ in Bildgeschichten hinterlassen hat:

Es wird heute oft davon gesprochen, dass man Kindern Werte vermitteln müsse. Auch wenn dieses Argument inflationär verwendet wird, ist es nicht falsch. Um Werte zu vermitteln, müssen wir uns erst einmal darüber klar werden, um welche Werte es geht. Schwarz und Weiß, Gut und Böse waren noch nie klar voneinander getrennt und sind es heute, in einer Zeit des suggestiven Infotainments, noch weniger. Eines jedoch ist sicher: Unsere Gesellschaft braucht Menschlichkeit, Toleranz und Empathie, für diese Werte sollen und müssen wir uns einsetzen. Wir müssen Stellung beziehen, wir müssen unseren eigenen Standpunkt definieren und ihn unseren Kindern gegenüber erklären und verteidigen, nur dann haben wir eine Chance, unseren Kindern das Bild der Welt zu vermitteln, das wir für richtig halten. Wollen wir das wirklich der Straße überlassen, den Unterhaltungsmedien, dem Zufall?

Literatur bietet die Möglichkeit, Kindern ein weites Spektrum angelesener Erfahrung zu geben, die ihre eigene erweitert und differenziert. Eine heile Welt, das heißt, eine einfache, leicht zu verstehende, ist eine Fiktion hilfloser Erwachsener. Ein Verschweigen dessen, was früher geschah (und in anderer Form immer noch geschieht), geht nicht, heute weniger denn je, und Halbwahrheiten führen zu diffusen Ängsten und Bauchweh. Ein verantwortungsvoller Umgang mit dem Thema Holocaust ist der beste Schutz dagegen. Es ist besser, eine Kerze anzuzünden, als sich über die Dunkelheit zu beklagen. Kindern zu zeigen, wohin Fremdenhass und Antisemitismus führen können, wohin sie einmal geführt haben, macht sie – hoffentlich – immun gegen Schockerfahrungen und Verführungen, vor denen wir sie nicht schützen können. Ist das nicht ein lohnendes Ziel?

Literatur

Mirjam Pressler: Ein Buch für Hanna. Weinheim und Basel: Beltz & Gelberg, 2011.

Mirjam Pressler und Gertrude Elias: „Grüße und Küsse an alle“. Die Geschichte der Familie von Anne Frank. Frankfurt am Main: Fischer Verlag, 2009.

Mirjam Pressler: Nathan und seine Kinder. Weinheim und Basel: Beltz & Gelberg 2009.

Mirjam Pressler: Golem stiller Bruder. Weinheim und Basel: Beltz & Gelberg, 2007.

Mirjam Pressler: Dunkles Gold. Weinheim und Basel: Beltz & Gelberg 2019.

Plath, Monika / Richter, Karin: ‚Holocaust‘ in Bildgeschichten. Mit einem Vorwort von Mirjam Pressler und dem Oscar-prämierten Kurzfilm „Spielzeugland“. Baltmannsweiler. Schneider Verlag Hohengehren 2009.