Zwischen Existenzangst, Exzentrik und literarischer Eloquenz

Zwei Neuerscheinungen verdeutlichen wesentliche Aspekte des Schweizer Exils von Else Lasker-Schüler

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Exil: Für viele Kulturschaffende verbirgt sich in den 1930er Jahren hinter diesem Begriff eine Zeit radikalen Lebenswandels und harter Entbehrungen in der Fremde. Nur wenigen gelingt es, sich in einem meist ungewohnten soziokulturellen Umfeld eine neue Lebensexistenz aufzubauen. Oftmals ermöglichen erst einheimische Mäzene bzw. Mentoren die Eingewöhnung in der Fremde bzw. die Fortsetzung der künstlerischen Tätigkeit.

Über die politischen Aspekte des Schweizer Exils, über Formen behördlicher Schikanen, wirtschaftliche Schwierigkeiten der Exilanten oder nicht zuletzt bürokratische Engstirnigkeit und Akribie eidgenössischer Behörden ist in der einschlägigen Forschung schon ausführlich berichtet worden. Mit Blick auf Else Lasker-Schüler liegen nun zwei Neuerscheinungen vor, die das bekannte Bild um zahlreiche Details bereichern.

Im Auftrag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ist vor wenigen Monaten eine zweibändige Faksimile-Edition erschienen, die von Andreas Kilcher und Karl Jürgen Skrodzki herausgegeben wurde. Im ersten Band enthält die ansehnliche Edition als Faksimile das Gedichtbuch von Else Lasker-Schüler für den Zürcher Kaufmann Hugo May aus den Jahren 1935 bzw. 1936. Der zweite Band des Editionsprojektes bietet neben einem kompakten Kommentar, den Transkriptionen und Varianten zu den handschriftlich vorliegenden Gedichten des ersten Bandes auch zahlreiche bislang unedierte Korrespondenzen Lasker-Schülers mit Hugo May und Kurt Ittmann. Beide waren in den dreißiger Jahren Direktoren des Zürcher Warenhauses Brann und zählten zu den ideellen wie finanziellen Mentoren Lasker-Schülers.

Die hochwertig präsentierte Edition präzisiert und konkretisiert den historisch-biographischen Kontext und die konkreten Umstände des Schweizer Exils von 1933 bis 1939 um drei Aspekte. Erstens wird nochmals deutlich, warum sich Lasker-Schüler trotz gravierender Schwierigkeiten mit der sogenannten Fremdenpolizei und deren Formalia bis 1939 in der Schweiz (mit kleineren Unterbrechungen wegen Reisen nach Palästina bzw. Italien) aufhalten konnte: Dies war „nur möglich durch Unterstützung engagierter Privatpersonen, die teilweise zugleich auch namhafte Vertreter kultureller, religiöser und staatlicher Einrichtungen waren.“ Dazu gehören Silvain Guggenheim, Emil Raas und NZZ-Feuilletonchef Eduard Korrodi, deren Rolle als Helfer dank umfangreicher Briefanalysen „gut bekannt ist“.

Zweitens wurde bislang jedoch nur en passant die Bedeutung von Hugo May (1887-1958) gewürdigt. Der „größte u. liebste Gentleman in Zürich“ – so eine Briefstelle Else Lasker-Schülers – wurde von ihr sehr geschätzt, was ein umfangreiches Konvolut an Briefen und Postkarten sowie Gedichthandschriften dokumentiert. Es wurde erst 2013 einer größeren Öffentlichkeit bekannt und führt nun zu einer partiellen Neubewertung der Bedeutung Mays für die Jahre des Schweizer Exils: „Von besonderer Bedeutung ist das Hugo May zugeeignete handschriftliche ‚Gedichtbuch‘: Mit 36 Gedichten […] handelt es sich um die mit Abstand umfangreichste Sammelhandschrift Lasker-Schülers überhaupt.“ Gleichfalls bedeutsam sind die neu gefundenen 66 Briefe und Postkarten, die zeigen, welche Formen und Wege der Unterstützung bzw. Hilfe für die Exilantin gewählt wurden: Bürgschaften vor Behörden, Kontaktvermittlung zu Kulturinstitutionen und Verlagen, Fürsprache bei Amtsträgern, aber auch die Option, alltäglichen Unbill frei zu thematisieren. Denn Hugo May und sein Geschäftspartner Kurt Ittmann waren für die Schriftstellerin „liebreiche hochverehrteste Indianerfreunde“; sie wusste um deren Bedeutung, wie sie 1935 brieflich festhielt: „Vergesse nie nie nienie nie nie nie was Sie Herr Dir. Hugo May und Sie Herr Dr. Kurt Itmann für mich, Ekel taten. Nie!“ Dass solche Freundschaftsgesten nicht von Dauer waren, zeigt der Briefwechsel durch die Dokumentation von Streitigkeiten gleichfalls.

Drittens ermöglicht das Gedichtbuch für Hugo May in der Faksimile-Edition einen authentischen Einblick in die visuelle Dimension von Lyrik: Sowohl Lasker-Schülers Handschrift als auch die Auswahl und Anordnung der Gedichte imponieren; sie zeigen „einen Querschnitt durch ihr gesamtes lyrisches Werk“ für drei Schaffensperioden (frühe Gedichte, Gedichte aus den 1920er und frühen 1930er Jahren sowie Exilgedichte wie Die Verscheuchte).

Über die verschiedenen Aufenthalte Lasker-Schülers in der Schweiz mit dem speziellen Fokus auf die Stadt Zürich berichtet die populärwissenschaftlich angelegte Studie Ute Krögers, die gleichfalls den Aspekt auf die Betrachtung von Mentoren und Mäzenaten legt. Bereits der Buchtitel verweist auf die Darstellungsperspektive: Viele sind sehr gut zu mir. Einleitend erläutert Kröger, wie der „Literaturstar“ Lasker-Schüler bereits in den zwanziger Jahren ein Kontaktnetzwerk in der Zürcher Kulturszene angebahnt hat, das zwischen 1933 und 1939 ihre Existenz gesichert, durch den Behördendschungel geleitet und ihre „unberechenbare Persönlichkeit und Sprunghaftigkeit“ mit Gleichmut toleriert habe. Insofern setzt Ute Kröger materialreich und akribisch-stupend einen neuen Akzent in der Erforschung von Lasker-Schülers Exil: „Ich wollte den Blick für einmal auf die private und institutionelle, politisch motivierte Flüchtlingshilfe richten, die es quer zur in der Tat unmenschlichen offiziellen Flüchtlingspolitik gab. Dafür ist Else Lasker-Schüler nicht nur ein Beispiel, sondern geradezu ‚Symbolfigur der Hilfsbereitschaft‘.“

In drei Kapiteln unterschiedlicher Länge, aber gleicher chronologisch angeordneter Dichte rekonstruiert Ute Kröger Else Lasker-Schülers Zürcher Zeiten systematisch: Das erste Kapitel betrachtet das Bestreben, für den Sohn Paul im Jahre 1917 den Einsatz im Ersten Weltkrieg durch ärztliche Atteste zu vermeiden, was gelingt. Das zweite Kapitel beleuchtet die Umstände von Pauls Erkrankung und des frühen Todes 1927, die gleichfalls längere Aufenthalte Lasker-Schülers in Zürich bedingten. Ferner wird ausführlich und materialgesättigt die Zeit zwischen April 1933 – der Ankunft in Zürich – und 1939, dem Jahr der unfreiwilligen Emigration nach Palästina, geschildert.

Grundlage der Darstellung ist neben der Auswertung der Sekundärliteratur die Recherche in Nachlassbeständen und im umfangreichen, weit verstreuten Briefwechsel: Denn Else Lasker-Schüler scheint nach der Darstellung Krögers geradezu von einer Korrespondenzwut besessen gewesen zu sein, die von jungen Künstlerfreunden bis zu einem Bundesrat reichte. Dabei nahm es die Lyrikerin mit den Regeln von Grammatik und Orthographie in ihren Briefen nicht genau. Als Lyrikerin reflektierend und um die Semantik jedes einzelnen Wortes ringend, nimmt sie sich in der privaten Korrespondenz zahlreiche Freiheiten, was sicherlich auch mit den Themen der Briefe zu tun hat: Neben der Mitteilung von Geldsorgen und Existenzängsten, von mentalen Dispositionen und literarischen Ambitionen, der offenen Aussprache von Zuneigung und Freundschaft einerseits und von Abneigung oder gar Feindschaft anderseits verdeutlichen die von Kröger zitierten Briefe zugleich die oftmals sprunghafte Gedankenführung Else Lasker-Schülers.

Manche Anekdote, die von Lasker-Schüler über ihre Ankunft in Zürich zum Besten gegeben wurde – etwa, dass sie 1933 mehrere Tage unter offenem Himmel verbracht habe –, wird von Kröger kritisch untersucht und als Fiktion entlarvt. Auch der recht eigensinnige Umgang Lasker-Schülers mit den Formalia der städtischen Fremdenpolizei wird ausführlich beleuchtet: So machte die Exilantin mehrfach in offiziellen Anmeldeformularen falsche Angaben zu ihrem Geburtsjahr. Einen breiten Raum der Darstellung nimmt die desolaten finanziellen Lage im Exil ein, vor allem zurückzuführen auf das Erwerbsverbot der sogenannten Fremdenpolizei. Zeichnungen und ausgesuchte Gedichte (bis hin zum Gedichtbuch für Hugo May) waren ideelle künstlerische Geschenke für dringend benötigte materielle Unterstützung in Form von Geldgaben sowie für publizistische Unterstützung.

Man ist nach Lektüre der rund 250 Darstellungsseiten von der chronologischen Rekonstruktion und dem Reichtum an Namen und Orten (bis hin zu der Angabe von einzelnen Übernachtungsstätten) sicherlich ebenso beeindruckt wie erschlagen. Denn die Details in den Ausführungen zu dem, was die die Dichterin in der Schweiz hinterlassen hat, sind sehr vielfältig. Die intensiven Schilderungen auch randständiger Bereiche hinterlassen einen ambivalenten Eindruck: Als Leser ist man fasziniert von den mosaiksteinartig erstellten Itinerar-Elementen, und zugleich kann man ein umfassendes Bild der durchaus schwierigen, da komplexen Persönlichkeit Else Lasker-Schülers gewinnen. Anderseits fragt man sich bisweilen nach dem Erkenntnisgewinn von verdichteten Passagen, die en miniature nachweisen, wie komplex beispielsweise 1938 die Gestaltung einer Lesung in Zürich war: „Die Freundin Anna Indermaur, Inhaberin des Cinema Nord-Süd, sorgt dafür, dass ihr nicht alles misslingt. Für eine Lesung der Dichterin stellt sie ihr Kino zur Verfügung, die aber verschoben werden muss, weil die Dichterin vergessen hat, bei der Fremdenpolizei eine Bewilligung einzuholen. Darum kümmert sich in letzter Minute die Kinobesitzerin selber. Ihr Gesuch geht verspätet bei der Fremdenpolizei ein, die zwar die Bewilligung erteilt, aber sich einer spitzen Bemerkung im Amtsdeutsch nicht enthalten kann: ‚Eine Gewöhnung der Eingabestellerin an Ordnungsvorschriften wird aus Ihnen wohl auch bekannten Gründen nicht möglich sein.‘ Die Matinee findet am 20. März 1938 statt. […] Der Termin ist unglücklich, denn an diesem Sonntagvormittag wird der Zürcher Gemeinderat gewählt.“ Solche Passagen verweisen auf die Darstellungsabsicht Krögers, die sich – auch durch andere Publikationen ausgewiesen – der verdienstvollen, lokalhistorisch fundierten Rekonstruktion der Zürcher Kulturgeschichte widmet.

Beide Bücher, so lässt sich resümieren, ermöglichen einen neuen, quellen- wie materialgestützten Einblick in die ersten Jahre des Exils der deutsch-jüdischen Schriftstellerin Else Lasker-Schüler. Für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Lasker-Schüler wird sicherlich das Gedichtbuch für Hugo May in den nächsten Jahren Anlass zu weiteren Studien bieten, die auf diese sorgfältig edierte Sammelhandschrift zurückgreifen können. Und für Kulturreisende nach Zürich bietet Krögers mit zahlreichen zeitgenössischen Fotos und Bildern illustriertes Buch eine wichtige Leitschnur, um sich auf Spurensuche vor Ort zu begeben.

Titelbild

Else Lasker-Schüler: Gedichtbuch für Hugo May. Faksimile-Edition.
Herausgegeben von Andreas Kilcher und Karl Jürgen Skodzki.
Wallstein Verlag, Göttingen 2019.
Zwei Bände, zusammen 392 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783835334472

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Titelbild

Ute Kröger: „Viele sind sehr sehr gut zu mir“. Else Lasker-Schüler in Zürich 1917–1939.
Limmat Verlag, Zürich 2018.
267 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-13: 9783857918636

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