Täter, Opfer, Strafen – Facetten des Kriminalgenres

Vorbemerkungen zum Schwerpunkt

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer und der Übung Schreib- und LektoratswerkstattRSS-Newsfeed neuer Artikel von  der Übung Schreib- und Lektoratswerkstatt

„Man kann sich nicht mit Verbrechen befassen, ohne sich auch gleichzeitig mit Psychologie zu beschäftigen. Nicht um die eigentliche Mordtat, sondern um das, was hinter ihr liegt, geht es dem Sachverständigen“ – diese Maxime äußert kein Geringerer als der weltbekannte französische, Pardon!, belgische Meisterdetektiv Hercule Poirot in Agatha Christies Roman Lord Edgware Dies (Dreizehn bei Tisch) von 1933. Wo aber, so möchte man den distinguierten Herrn mit dem gezwirbelten Oberlippenbärtchen fragen, findet sich die vermeintlich unvermeidliche Psychologie in den Erzählungen seiner vielen Fälle denn wieder? Geht es nicht vielmehr im Wesentlichen um die Bemühungen des Detektivs, den Hergang jener „eigentlichen Mordtat“ rest- und lückenlos zu rekonstruieren? Was hinter dem Verbrechen liegt, reicht der Rätsellöser in seinem abschließenden Überführungsspektakel allenfalls beiläufig nach. Und nur selten haben sich die Klassiker des Detektivromans dabei über stereotype Erklärungsmuster wie Eifersucht, Neid oder Gier hinausgewagt. Ein tiefergreifendes Interesse an der Psyche von Tätern (und ihren Opfern) oder an den darin begründeten Ursachen sowie den Folgen von Verbrechen sucht man in dieser Spielart des Kriminalgenres meist vergebens.

Im Kosmos des traditionellen Rätselkrimis ist Poirots Aussage daher durchaus überraschend – und eher ein Akt der Camouflage einer eskapistischen Tendenz (der wir als Leser gleichwohl oft und gerne folgen) als ein aufrichtiges Bekenntnis. Etwa 150 Jahre früher allerdings, im ausgehenden 18. Jahrhundert, machten zahlreiche Autoren von der Möglichkeit Gebrauch, in Kriminalfallgeschichten die Ursprünge, die Auswirkungen und den Sinn einer Gesetzesübertretung zu verhandeln. Sie stellten einen Zusammenhang mit der besonderen seelischen Disposition eines Verbrechers heraus – auch mit Blick auf ein moralisch, nicht allein juristisch vertretbares Strafmaß. Autoren wie August Gottlieb Meißner, der immer wieder als Begründer der deutschsprachigen Kriminalliteratur genannt wird, aber auch dem späteren Olympier Friedrich Schiller geht es um die Seele des Delinquenten, die in all ihren Abgründen betrachtet werden soll, um die Taten angemessen beurteilen zu können. Auch wenn das Verbrechen schon seit jeher von großem literarischem Interesse ist, revolutioniert dieser Ansatz das Erzählen über Kriminalität. Dass auch ein Täter ein Mensch mit Emotionen und einer Vergangenheit ist, dass jede Geschichte (mindestens) zwei Seiten hat, dass selbst die Wahrheit nicht immer eindeutig, vielleicht gar nicht zu finden ist – das wirft viele neue Fragen auf nach Milde und Bestrafung, nach Gut und Böse, das eröffnet neue Perspektiven und damit neue Möglichkeiten der literarischen Thematisierung von Verbrechen.

Schon diese knappe historische Gegenüberstellung belegt den Facettenreichtum des Kriminalgenres. Wie Jochen Vogt bereits im Schwerpunkt unserer August-Ausgabe 2016 festgestellt hatte: „Der Krimi kann (fast) alles“. Er kann weit mehr als allein vom Prozess der Detektion zu erzählen, obschon die Beliebtheit des Genres sicherlich insbesondere auf Techniken der Spannungserzeugung und dem Spaß am Rätseln nach dem Motiv und dem Mörder beruht. Doch der Täter kann auch mehr sein als eine bloße Unbekannte in der aufzulösenden Gleichung. Seine Beweggründe und die Entwicklung eines Menschen hin zum Verbrecher können ebenso im Zentrum von Kriminalerzählungen stehen wie das Schicksal von Opfern oder Fragen der Strafe, wobei die Begriffe Täter, Opfer und Strafe zwar von enormer sozialer Relevanz sind, in Texten des Kriminalgenres aber meist nur indirekt verhandelt werden.

Dieser Schwerpunkt vereint unterschiedliche Facetten eines vielfältigen und sich stets verändernden Feldes. In Essays wird das Erfolgsphänomen des skandinavischen Kriminalromans auf dem deutschen Markt beleuchtet, die Möglichkeit des Genres zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit aufgezeigt und über den systematischen Ort der Strafe in der Kriminalliteratur nachgedacht. Da Fernseh-Krimis eine bevorzugte Rolle im Medienkonsum der Deutschen einnehmen, wird auch dieses Format berücksichtigt. Der Wilsberg-Regisseur Martin Enlen sowie die Tatort-Schauspieler Werner Daehn und Wolfram Koch geben in Kurzinterviews Einblicke in ihre Arbeit, darüber hinaus beantwortet der (nicht nur) aus dem Fernsehen bekannte Literaturkritiker Denis Scheck Fragen nach seinem Verhältnis zur Kriminalliteratur. Zudem stellen zahlreiche Rezensionen unterschiedliche Ausprägungen des Genres vor. Wiederentdeckte ältere Texte stehen neben neuen, Klassiker neben Büchern, denen mutmaßlich kein großer Nachruhm vergönnt sein wird. Hinzu kommen Besprechungen wissenschaftlicher Titel – unter anderem zur Theorie der Strafe und zur für die Entwicklung der Kriminalliteratur zentralen Textsorte der Fallgeschichte. Besondere Erwähnung verdient das Handbuch Kriminalliteratur, dessen Erscheinen manifestiert, dass das populäre, umstrittene und oft pauschal als trivial stigmatisierte Genre mittlerweile auch in der Literaturwissenschaft ernstgenommen wird.

Dennoch muss sich der Gegenstand dieses Schwerpunkts noch immer und immer wieder gegen Kritik behaupten. Wieso seine wertvolle Zeit damit verbringen, über noch mehr Böses zu lesen, gar Abgründigeres zu zelebrieren, als es ohnehin schon jede Tageszeitung hergibt? Wahrscheinlicher ist, dass wir anderen Motiven folgen. Eskapismus, ja, womöglich – aber nicht in eine Welt des Schreckens und der Unordnung. Denn wenn im realen Leben Chaos vorherrscht, wenn die Bösen immer zu gewinnen scheinen, dann wirkt eine fiktive Verhaftung, ein aufgeklärtes Verbrechen nach 300 Seiten Spannung, als würde ein lange schief hängendes Bild gerade gerückt. Zugleich aber kann Kriminalliteratur und mit ihr das Nachdenken über Täter, Opfer und Strafen auch die Aufmerksamkeit für allerlei Schieflagen sensibilisieren und Anlass sein, Vertrautes neu in den Blick zu nehmen und scheinbare Gewissheiten über Recht und Unrecht, Schuld und Sühne, Gut und Böse fortwährend zu hinterfragen.

Hinweis: Der Schwerpunkt „Täter, Opfer, Strafen – Facetten des Kriminalgenres“ wurde von den Studierenden der Übung „Schreib- und Lektoratswerkstatt“ im Wintersemester 2018/19 unter der Leitung von PD Dr. Manuel Bauer an der Philipps-Universität Marburg initiiert und erarbeitet. In der praxisorientierten Übung, die Bestandteil der Master-Studiengänge „Literaturvermittlung in den Medien“ und „Deutsche Literatur“ ist, erhielten die Studierenden Einblicke in den Literaturbetrieb, speziell in die Arbeitsabläufe der Redaktion von literaturkritik.de. Sie haben unterschiedliche kulturjournalistische Texte eingeworben (zum Teil auch selbst geschrieben), in Redaktionssitzungen gemeinsam diskutiert, redigiert und zu diesem Schwerpunkt zusammengestellt.