Ein Geschenk und seine Folgen

Ein wiedergefundener satirischer Roman von Günter Kunert erinnert an die Zeit, in der mit Ostmark wenig anzufangen war

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Barthold heißt der 51-jährige Mann, der in Günter Kunerts Roman Die zweite Frau an der Aufgabe verzweifelt, ein passendes Geschenk zum 40. Geburtstag der ihm Angetrauten besorgen zu müssen. Kunert hat den kleinen satirischen Roman 1974/75 geschrieben, also gute 5 Jahre bevor er mit seiner Frau die DDR verließ. Dass das Buch, welches mit beißender Kritik an den Zuständen im „real existierenden Sozialismus“ nicht zurückhält, keine Chance haben würde, in einem ostdeutschen Verlag zu erscheinen, war von vornherein klar. Und so landete das Manuskript in Kunerts Archiv, wo ein Zufall mehr als 40 Jahre später für seine Wiederentdeckung sorgte. Nun konnte das Buch in Absprache mit den Verantwortlichen des Göttinger Wallstein Verlags und kurz vor dem 90. Geburtstag des Autors am 6. März 2019 doch noch veröffentlicht werden.

Ein schönes Präsent hat sich Günter Kunert, in dessen außerordentlich umfangreichem Gesamtwerk ansonsten nur noch der Text Im Namen der Hüte (Originalausgabe 1967 im Münchner Carl Hanser Verlag; DDR-Ausgabe 1976 im Eulenspiegel Verlag [Ost-]Berlin) unter der Genrebezeichnung „Roman“ firmiert, da selbst gemacht. Knapp anderthalb Jahrzehnte vor der friedlichen Revolution in der DDR verfasst, spricht Die zweite Frau alles an, was das Leben im östlichen Deutschland für seine Bürger auf die Dauer so unerträglich machte: den allgegenwärtigen Mangel und die Beschneidung existentieller Freiheiten, die Stasi-Bespitzelung und das grassierende Misstrauen, die graue Tristesse im Alltag und den schwer zu ertragenden Widerspruch zwischen dem in Politik und Medien gepflegten hehren Selbstbild eines sich auf dem Weg ins kommunistische Paradies wähnenden Gemeinwesens und dem, was tatsächlich Tag für Tag von den nicht nur die geografischen Grenzen als beengend empfindenden Menschen gelebt werden musste.

Kunerts Held, als Archäologe zu der im „Arbeiter- und Bauernstaat“ immer ein wenig beargwöhnten Klasse der „Intelligenz“ zählend, führt ein Leben zwischen Albträumen, in denen Staatschef Walter Ulbricht ihm den Angstschweiß auf die Stirn treibt, zunehmenden Schwierigkeiten, sein Leben mit Beruf und Familie zu bewältigen, und dem wachsenden Gefühl, in einer alle Daseinsbereiche durchdringenden Warteschleife festzustecken: „Vom simplen Harren in konkreter Einkaufsschlange […] zu den höheren Ebenen der Erwartung verbesserter Arbeitsbedingungen […] bis zu gesteigerten Formen, in denen das Warten zum Hoffen wurde, wodurch die individuellen Ziele zu allgemeinen erweitert wurden: man ein größeres Maß an Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit zu erhalten“ gedachte. Doch Barthold weiß auch ganz genau, dass dieses Warten oder Hoffen zu nichts führt: „Die Hälfte seines Lebens / Wartet der Mensch vergebens!“, sagt er sich frei nach einem alten Sprichwort.

Jedoch als der 40. Geburtstag seiner Frau ins Haus steht, macht er sich trotzdem auf den Weg, um ihr ein Geschenk zu besorgen. Margarete Helene hat sich, nachdem sie ihre Arbeit als Sachbearbeiterin im Bezirksamt Berlin-Mitte aufgrund allzu kritischer Äußerungen über ihren Dienstherrn, den ostdeutschen Staat, verlor, in die Rolle der Haus- und Ehefrau geflüchtet. Allzu glücklich ist sie damit allerdings nicht. Das tagtägliche „Ja, ich setze schon Teewasser auf, ja, ich schneide schon Brot, ja, ich ziehʼ mir schon den Schlüpfer aus“ erinnert sie immer wieder daran, dass von ihr zum einen permanent Dienstleistungen verlangt werden, für die sie nicht entlohnt wird, und sie andererseits mit einem Mann zusammenleben muss, dem sie – und der ihr – im Grunde fremd ist, jedoch ihren letzten und einzigen existentiellen Halt darstellt. Also festhalten an etwas, das sie in ihren Gedanken wenig schmeichelhaft als „Bartholds Körper, Bierdunst und Zwiebelgeruch“ bezeichnet, seine groben Annäherungen geduldig hinnehmen und dafür sorgen, dass sich an der wenig geliebten, aber unvermeidlichen Situation nichts ändert. Dass sie bei der Umgestaltung ihres kleinen Gartens allerdings einen Knochenfund gemacht hat, der ihr die Bilder einer anderen Frau vor Augen führt, von der ihr Barthold bisher nichts erzählt hat und der sich der Gatte vielleicht vor Zeiten brutal zu entledigen wusste, lässt sie schon nachdenklich werden.

Während sich Margarete Helenes Frauenarzt mit den ihm als Experten in Leibesdingen anvertrauten Knochen zwecks Feststellung von deren genauer Zugehörigkeit abmüht, schlägt sich Barthold in Liebesdingen mit dem allerorten im Lande herrschenden und von ihm selbst so getauften „Mankoismus“ – von „Manko“ oder „Mangel“ sich herleitend – herum. Sprich: Alles, was ihm als Geschenk auch einfällt, ist entweder „ausverkauft oder noch nicht eingetroffen oder schon lange nicht mehr ausgeliefert worden“. So bleibt ihm letzten Endes nichts anderes übrig, als sich mit für viel Ostgeld illegal getauschten einhundert Westmark auf eine jener „Schatzinseln“ zu begeben, die in der DDR „Intershop“ hießen und dazu dienten, den dank Westverwandtschaft mit harten Zahlungsmitteln ausgestatteten Bürgern ihren Reichtum schnell wieder abzuluchsen. Doch während er dort beim unvermeidlichen Schlangestehen mit einem anderen Kunden ins Gespräch kommt und mit ein paar Zitaten aus Michel de Montaignes Essais seine Belesenheit unter Beweis stellt, tappt er, ohne es zu ahnen, bereits in die nächste Falle.

Dass ein sich „Müller“ nennender Stasimann schon bald am Häuschen von Barthold und Margarete Helene anklopft und in Erfahrung zu bringen wünscht, wie es um die Westkontakte des Pärchens bestellt ist, habe Barthold doch beim Intershop-Einkauf eines goldenen Rings mit seiner Bekanntschaft zu einem Franzosen namens „Mohnteine“ geprahlt, der ein offensichtlich negatives Verhältnis zu den Errungenschaften des DDR-Sozialismus habe und deshalb zumindest bei den dafür zuständigen Organen zu melden sei, bringt nicht nur Kunerts Held, sondern auch dessen Frau in Verlegenheit. Denn Ersterem gelingt es nicht, den die Spur eines „Klassenfeindes“ übereifrig verfolgenden Staatsschützer davon zu überzeugen, dass es sich bei Montaigne um einen bereits rund 400 Jahre toten französischen Gelehrten handelt. Und Margarete Helene hat das auf des Gatten Nachttisch deponierte Buch, das als Beweis herhalten könnte, kurz vorher in den Müll geworfen. Als dann auch noch der Nachbar der beiden mit einem Umschlag voller von einem Westbesuch unerlaubt mitgebrachter Pornohefte auftaucht, kulminiert die Situation.

Die zweite Frau einem DDR-Verlag anzubieten, wäre 1975 mit Sicherheit nicht ganz ungefährlich gewesen. Seine Veröffentlichung im Jahre 2019 – 30 Jahre nach dem Untergang der DDR – wird durch seine literarische Qualität, das Geschick, mit dem Günter Kunert die beiden Innenperspektiven seiner Hauptfiguren miteinander verbindet und die vielen weltliterarischen und mythologischen Anspielungen, die er mühelos in den Text einbaut, gerechtfertigt. Das Buch mit einem Nachwort oder ein paar persönlichen Bemerkungen des Autors zu versehen, hat der Verlag leider versäumt. So bleibt zu befürchten, dass sich viele Anspielungen heutigen Lesern nur noch schwer erschließen werden – was schade ist. Denn in einem Europa, in dem nationalistische Ideen wieder salonfähig werden und der innere Zusammenhalt weitaus weniger gefestigt zu sein scheint, als nach außen kommuniziert wird, könnten Kunerts durch ihre Steigerung ins Groteske umso kenntlicher gemachten Erinnerungen an das Leben in einem totalitären Staat durchaus eine heilsame Wirkung entfalten.

Titelbild

Günter Kunert: Die zweite Frau. Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2019.
200 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783835334403

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