West-östliche Ausgrabungsgeschichten

Kenah Cusanits Debütroman „Babel“ fragt nach dem Sinn von Vergangenheit

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Beginn des Nachdenkens über Kenah Cusanits Debütroman Babel steht die Frage, ob man die Romanbiografie von Robert Koldewey gelesen hat oder einen historischen Roman über Ausgrabungen und Archäologie am Beginn des 20. Jahrhunderts. Beides trifft wohl zu. Aber noch viel mehr. Der Name Robert Koldewey ist mit dem historischen Babylon, das sich knapp 100 Kilometer südlich vom heutigen Bagdad entfernt befindet und dessen Geschichte bis ins dritte vorchristliche Jahrtausend reicht, ebenso eng verbunden, wie sich von biblischer Seite her mit dem Hauptstadtnamen des babylonischen Reiches am Unterlauf von Euphrat und Tigris göttliche Sprachverwirrung und menschliche Hybris verbinden. Vieles von dem, was wir heute über Babylon wissen, verdanken wir den Ausgrabungen, die der Architekt Robert Koldewey in einer groß angelegten Kampagne seit 1899 bis in den Ersten Weltkrieg hinein im Auftrag der Deutschen Orientgesellschaft geleitet hat.

Vieles von dem, was materiell in Form von Kunstwerken wie dem berühmten Ischtar-Tor bis in unsere Gegenwart gekommen ist, findet sich im Pergamonmuseum in Berlin. Über den Ablauf und Fortschritte der Ausgrabungen hat Koldewey seine vergangenheitsdurstigen Zeitgenossen in Sendschreiben und Publikationen selbst informiert. Sein 1913 erschienener Zwischenbericht Das wieder erstehende Babylon ist heute immer noch und ebenso lesenswert wie die von seinem damaligen Assistenten Walter Andrae erst nach dem Zweiten Weltkrieg 1961 publizierten Lebenserinnerungen eines Ausgräbers. Auch über die Erfolge anderer Größen der vorderasiatischen und griechischen Archäologie und Bauforschung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wie Wilhelm Dörpfeld oder Theodor Wiegand mit ihren Grabungen auf der Akropolis, in Milet, Olympia und Troja ist die Nachwelt gut informiert.  Was sich als Gesamtbild für diese Projekte um die Jahrhundertwende ergibt ist – bei allem Enthusiasmus für die Freilegung der Vergangenheit und die Bewahrung von Artefakten – ein Kulturimperialismus, der natürlich nicht nur von deutscher Seite betrieben wurde. So, wie sich die Kolonialmächte Afrika oder andere Kontinente aufteilten, so achteten die alten europäischen Kulturnationen Frankreich, England und Deutschland, Italien, Spanien und Portugal tunlichst darauf, dass auch möglichst jeder einen kleinen Teil der Vergangenheit erobern durfte. Koldewey durfte im Auftrag der deutschen Orientgesellschaft die einst größte Stadt der Welt im Zweistromland ausgraben, die Engländer beschäftigten sich mit der nicht weit entfernt gelegenen historischen Hauptstadt der Assyrer, Ninive, und die Franzosen arbeiteten an der Freilegung der persischen Stadt Susa.

Da der Leser mehr oder weniger explizit diese Gesamtsituation der europäischen und deutschen Kulturpolitik am Ende des 19. Jahrhunderts erfährt, könnte Kenah Cusanits Debütroman über Koldewey und seine Ausgrabungen in Babylon im Ergebnis leicht zur Bildungshuberei und bloßen Faktendarbietung verkommen. Das ist aber nicht der Fall. Denn Cusanit unterrichtet, ohne zu belehren, sie historisiert, ohne zu langweilen und sie experimentiert erzählerisch, ohne ins postmodernistische Irrlichtern zu verfallen. Warum das gelingt, liegt an dem erzählerischen Konzept des Romans: Über weite Strecken wird aus der Sicht Koldeweys erzählt, der als Figur in seiner historischen Kulisse buchstäblich statisch bleibt, weil ihn Cusanit über lange Passagen als Zuschauer und Beobachter seiner eigenen Ausgrabungen wie eine sitzende Figur inszeniert, die mit all dem gar nicht so viel zu schaffen hat und überdies auch noch etwas hypochondrisch seine körperlichen Gebrechen mit Hilfe des permanent konsultierten Medizin-Handbuchs von Carl von Liebermeister argwöhnisch seziert.

Cusanits Debüt fügt sich nicht zuletzt auch marktgerecht – was nicht als Kritik zu verstehen ist – in das schon seit einigen Jahren (neu) erwachte Interesse am Wilhelminismus. Die zurückliegenden Gedenkjahre rund um den Ersten Weltkrieg wurden literarisch begleitet von Texten, in denen die deutsche Südsee-Sehnsucht eines Sonderlings in Deutsch-Neuguinea (Christian Kracht: Imperium, 2012), die Vermessung des ‚deutschen‘ Süditaliens (Christoph Poschenrieder: Das Sandkorn, 2014) oder die von dem Orientalisten, Archäologen und Diplomaten Max von Oppenheim durchgeführte Persien- und Afghanistan-Expedition noch vor dem Ersten Weltkrieg thematisiert wurde (Steffen Kopetzky: Risiko, 2015). Wie diesen Romanen, die neben den historischen Fakten auch fiktive Personen und Handlungsstränge erzählen, geht es auch Cusanit nicht in erster Linie um die korrekte historische Erfassung einer bedeutenden Persönlichkeit der deutschen vorderasiatischen Archäologie um 1900, sondern um die Instrumentalisierung dieses Robert Koldewey als Reflexionsfigur. Und reflektiert wird eine ganze Menge in dem Roman. Dabei scheint der Anlass dafür, die Ausgrabungen in Babylon, nur vordergründig die Denkrichtung vorzugeben. Jenseits der konkreten historischen Zusammenhänge weist Koldeweys Nachdenken über Begehren und Besitzen, Erobern und Konservieren, Entdecken und Vereinnahmen weit über die Archäologie hinaus und berührt wenn nicht grundsätzliche anthropologische, so doch zumindest generelle kulturgeschichtliche Fragen, was noch einmal verdeutlicht, dass es Cusanit gelungen ist, einerseits einen historischen Roman über den Ausgräber von Babylon, aber auch einen klugen Text über die Bedeutung von Vergangenheit für die Gegenwart zu schreiben.

Natürlich steckt in jedem historischen Roman auch ein Stück Gegenwartsdeutung. Am historischen Beispiel gerade der deutschen Archäologie am Übergang vom 19. zum 20.  Jahrhundert lassen sich unaufdringlich die Triebkräfte der eigenen Zeit konturieren, wobei es dem Leser überlassen bleibt, wie stark er Parallelen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart gewichten will. Koldeweys Gegenwart ist jedenfalls eine Zeit, in der Nationen noch einmal über den Umweg einer (fremden) Vergangenheit nach Möglichkeiten der Identitätsstiftung oder auch nur imperialistischen Machtdemonstration suchten. Dem kulturellen Wettrüsten im ‚Kulturkrieg‘ folgte der Abfall in die Barbarei des Ersten Weltkriegs. Grundsätzlich enthält die historische Folie aber die ganz allgemeine Frage danach, worauf Kulturen und Gesellschaften ihre Identität(en) gründen, welches Geschichtsbild und welchen Geschichtsverlauf sie sich zurechtlegen. Denn Geschichte ist auch immer gedeutete Vergangenheit und verrät bisweilen mehr über den, der sie konstruiert, als darüber, was ‚wirklich‘ geschehen ist.

Der Oxforder Historiker und Byzantinist Peter Frankopan hat unlängst ein Buch mit dem Titel Licht aus dem Osten. Eine neue Geschichte der Welt (2015/16) vorgelegt, in dem er etablierte Geschichtsmodelle mit ihrer (Deutungs-)Struktur von griechisch-römischer Antike, Reformation und Renaissance, Aufklärung und Moderne nicht gänzlich revidieren, wohl aber unser westeuropäisches Geschichtsdenken relativieren und um eine Perspektive erweitern wollte. Einen ähnlichen Gedanken lässt Cusanit auch Koldewey durchspielen, dem beim Betrachten seiner eigenen Arbeit Zweifel kommen, wie objektiv seine Wissenschaft eigentlich ist und welcher Motivation die Beschäftigung mit untergegangenen Reichen in Wirklichkeit folgt:

Hatte nur Koldewey den Eindruck, dass sich hier etwas scheinbar wiederholte? Die Babylonier hatten sich auf die Sumerer gestützt. Die Assyrer und Griechen auf die Babylonier. Die abendländische Gelehrtentradition hatte sich auf die babylonische bezogen, aber sie hatte in bester Absicht vergessen, dass sie dies heimlich getan hatte, so wie Hume später großzügig ausgeblendet hatte, dass seine gesamte Argumentation auf einer Voraussetzung basierte, dem einzigen Argument, das er nicht überprüft hatte. Vielleicht schien deswegen ihr Jahrhundert, das nichts mehr ausgeblendet lassen wollte, so besessen zu sein von der Erforschung der Wurzeln, die aber gewöhnlich nicht ohne Sinn nur im Verborgenen den oberirdischen Teil ihres Gewächses mit Nährstoffen versorgten.

Titelbild

Kenah Cusanit: Babel. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2019.
269 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783446261655

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