Keine Scheu vor großen Fragen
Matthias Nawrat ist mit „Der traurige Gast“ für den Preis der Leipziger Buchmesse 2019 nominiert
Von Leon F. Huff
Es sei ihm um eine „Beschreibung der europäischen Geisteslandschaft“ gegangen, sagt Matthias Nawrat im Interview mit Deutschlandfunk Kultur über seinen vierten und neuesten Roman. Er habe die Vergangenheit erkunden und ihre Spuren in der Gegenwart suchen wollen. Dazu beschreibt er die Wege eines melancholischen Flaneurs in Berlin und lässt die Menschen, denen dieser traurige Gast begegnet, ihre Lebensgeschichten erzählen. Er lege dabei, so die Jury des Preises der Leipziger Buchmesse, die „versehrte Mentalität unsere Gegenwart frei“. Nun steht er auf der Shortlist.
Mit dem namenlosen Ich-Erzähler in Der traurige Gast verbinden Matthias Nawrat viele biographische Gemeinsamkeiten: Beide wurden im polnischen Opole geboren, verbrachten dort die ersten zehn Jahre ihres Lebens, siedelten dann nach Deutschland über, studierten in Freiburg Biologie und leben nun, auf die Vierzig zusteuernd, als Schriftsteller in Berlin. Der Roman entstand, so Nawrat, aus Tagebucheinträgen, die er fiktionalisierte und in Romanform brachte.
Allerdings lohnt es sich kaum, diese Gemeinsamkeiten weiter zu fokussieren, denn der Ich-Erzähler steht im Roman überhaupt nicht im Vordergrund. Er bleibt weitgehend konturlos und in allen Gesprächen passiv. Umso tiefer steigt man dafür in die Geschichten der Menschen ein, denen er begegnet. Im ersten Teil des Romans ist das vor allem die polnische Architektin Frau Dorota, die für die Liebe nach Berlin kam, heute aber allein lebt und niemals ihren Stadtteil verlässt. Im dritten und letzten Teil begegnet man Dariusz, einem ehemaligen Chirurgen in den Trümmern seines von Alkoholsucht zerstörten Lebens. Dazwischen finden sich eine Vielzahl weiterer Begegnungen und – alles aus der Bahn werfend – der Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche.
Der Blick von außen, der diesen Roman auszeichnet, ist für Matthias Nawrats Schreiben von großer Bedeutung. Als Nicht-Muttersprachler kann er, wie er selbst es im Interview mit dem BR beschreibt, hinter die Worte der deutschen Sprache schauen und die Möglichkeiten ihrer Verwendung neu erforschen. Sein Stil wurde von Kritiker*innen der ersten drei Romane bereits als poetisch, melancholisch, rhythmisch und surreal verschlungen bezeichnet und ist in hohem Maße wandelbar: Der traurige Gast ist sprachlich zwar auch mitunter verschlungen, bleibt aber stets dem klaren Beobachten verschrieben, fern von jeglicher Schwärmerei. Feridun Zaimoglu, in diesem Jahr einer von Nawrats Konkurrenten um den Preis der Leipziger Buchmesse, fühlte sich auf jeden Fall „eingewickelt, im besten dichterischen Sinn.“
Vor Der traurige Gast hat Matthias Nawrat bereits drei weitere Romane veröffentlicht und dafür eine Reihe von Preisen gewonnen, unter anderem den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis, den Kelag-Preis, den Förderpreis des Bremer Literaturpreises und die Alfred Döblin-Medaille. Sein Debütroman Wir zwei allein (2012) erzählt von einem Außenseiter, in dem eine faszinierende Frau plötzlich große Ambitionen weckt. In Unternehmer (2014) erforscht er am Beispiel einer komplett an unternehmerischen Maßstäben ausgerichteten Familie die Frage nach dem Stellenwert der Arbeit für die Gesellschaft und für den Menschen überhaupt. Hochgelobt, aber auch kontrovers ist Nawrats dritter Roman Die vielen Tode unseres Opas Jurek (2015): Sechzig Jahre polnischer Geschichte verdichtet der Autor im Leben seines Titelhelden und schreckt dabei auch vor der Schilderung von Auschwitz nicht zurück.
Insgesamt ist Matthias Nawrat niemand, der große Themen fürchtet. Im Gegenteil: Die Auseinandersetzung mit abstrakten Fragen ist stets tragend, auch für Der traurige Gast. Auf der Plotebene passiert nämlich wenig; wer einen von Spannung oder Unterhaltung getragenen Roman zum „Weglesen“ sucht, ist hier fehl am Platz. Stattdessen werden Geschichten von Migration und Heimatsuche erzählt, von unvereinbaren Lebensentwürfen und gescheiterten Beziehungen, von Trauer, Sucht und davon, wie dünn die Decke der Zivilisation doch ist. Es geht, man darf es in dieser Allgemeinheit sagen, um den Sinn des Lebens. Die Figuren hadern mit ihrer Vergangenheit, versuchen, ihr einen Sinn zu geben, und fürchten, daran zu scheitern. Über den ehemaligen Arzt Dariusz heißt es:
Er sagte, er habe selbst die Erfahrung gemacht, dass ab einem bestimmten Moment im Leben die Richtung der persönlichen Entwicklung ein für alle Mal festgelegt sei, und auch wenn man nicht genau wisse, was von da an noch geschehen, wohin das Leben einen konkret noch führen werde, bevor dann endgültig das Ende allen Sich-Entwickelns erreicht sei und man endlich die einzige Ruhe finde, auf die ein Mensch wirklich zählen könne – worauf er im Grunde, wie er manchmal deutlich fühle, schon sein ganzes Leben warte –, so wisse man doch, dass es diese Vorwärtsbewegung gebe, egal wie sehr man sich von ihr abzulenken versuche.
Matthias Nawrat sagt, dass hier der eigentliche Grund seines Schreibens liege: in der Eigenschaft des Menschen, sein Leben als Geschichte zu erzählen, die auf etwas zustrebt. Sie erscheine ihm als das eigentlich Menschliche, als etwas, das die Wissenschaft verbannt habe und das nur in der Literatur noch zu finden sei. Ob aus Nawrats neuestem Stück Literatur auch ein preisgekröntes wird, entscheidet sich bei der Vergabe des Preises der Leipziger Buchmesse am 21. März 2019.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen