Die Vermessung des eigenen Standpunktes

Kenah Cusanits Debütroman „Babel“ ist für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert

Von Birthe KolbRSS-Newsfeed neuer Artikel von Birthe Kolb

Robert Koldewey, die Hauptfigur von Kenah Cusanits Debütroman Babel, ist Archäologe und mit keiner geringeren Aufgabe als der Ausgrabung der versunkenen Stadt Babylon betraut. Hier soll er die Wiege der Zivilisation ans Tageslicht befördern, während er sich gleichzeitig mit seinem Assistenten Buddensieg und einer Blinddarmentzündung herumschlägt. Keine leichte Aufgabe also, aber eine, die viel Stoff für Humor bietet.

Für diesen Humor wird Babel, dieser erste Roman einer Autorin, die zuvor eher im Lyrikbereich unterwegs war, vom Feuilleton gefeiert. Sigrid Löffler etwa beschreibt die Geschichte in einem  Artikel für den Deutschlandfunk als „unterhaltsame, mitunter saukomische Babel-Rhapsodie“ und hebt besonders Cusanits „kauzige Charaktere“ hervor. Gleichzeitig erkennt Löffler in der im Jahr 1913 spielenden Handlung eine Aktualität, die möglicherweise auch dafür gesorgt hat, dass Babel nun auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse steht: Koldewey ist nämlich nicht der einzige, der im Auftrag seines Landes versunkene Schätze bergen will. Franzosen, Briten, Osmanen, alle sind sie ihm auf den Fersen und werfen damit eine Diskussion über Kolonialismus, Ausbeutung und den Umgang mit gestohlenen Schätzen auf, die unlängst in der Süddeutschen Zeitung als „größte Identitätsdebatte unserer Zeit“ bezeichnet wurde. Wie geht ein Land wie Deutschland mit dem Wissen um, jahrelang Kolonien im afrikanischen Raum ausgebeutet zu haben? Was soll mit Objekten aus jenem Raum geschehen, wenn heute nicht mehr geklärt werden kann, ob sie unrechtmäßig erworben wurden? Ist es richtig, gestohlene Kunst in Museen auszustellen? Für die Figuren in Babel liegen solche Fragen noch in weiter Ferne, für die Rezensent*innen des Romans nicht.

Kenah Cusanit, geboren im Jahr 1979 in Blankenburg im Harz, reichert ihren Debütroman mit allerlei Detailwissen an. So wird aus der Suche nach Zivilisationsspuren in Babel auch schnell eine Spurensuche im Leben der Autorin: Cusanit hat Altorientalische Philologie, Ethnologie und Afrikanistik studiert und beschäftigte sich in ihrem Studium mit den Sprachen Sumerisch, Akkadisch und Hethitisch. Danach arbeitete sie einige Jahre als Journalistin. Zunächst wandte sie sich der Lyrik zu und war beispielsweise in den Jahren 2009, 2013 und 2015 mit eigenen Texten im Jahrbuch der Lyrik der Deutschen Verlags-Anstalt vertreten. Für ihren Gedichtband aus Papier (2014) erhielt sie den Bayerischen Kunstförderpreis – nur ein Preis in einer langen Reihe von Auszeichnungen, die ihr bereits zuerkannt wurden. Der Berliner Senat verlieh ihr in den Jahren 2017 und 2019 gleich zweimal ein Arbeitsstipendium. Auch beim open mike-Literaturwettbewerb in Berlin war sie schon zu hören – dort jedoch nicht mit Lyrik, sondern mit Prosa: Im Jahr 2013 stellte sie auf der Bühne erstmals ihre Figur Robert Koldewey vor. In ihrem Textauszug kraxelt der Protagonist auf der Suche nach guten Fotos von seiner Ausgrabungsstätte durch den Wüstensand. „Abstände feststellen, messen, und dabei den eigenen Standpunkt ausloten“, fasst der open mike-Blog später das Thema des Textes zusammen. Sechs weitere Jahre und eine Vermittlung durch den Literaturagenten Michael Gaeb später ist der Archäologe nun bereit, unter dem Dach des Carl Hanser Verlages das Licht der Welt zu erblicken. Das Vermessen des eigenen Standpunktes ist eben manchmal ein komplexer Prozess.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen