Debattenkultur im Zeitalter des Web 2.0

In „Das Diktat des Hashtags“ untersucht Andreas Bernard das Prinzip der modernen Debattenbildung in und außerhalb von sozialen Medien

Von Rafael Arto-HaumacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rafael Arto-Haumacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Spätestens seit der ebenso aufrüttelnden wie kontrovers geführten #MeToo-Debatte ist auch Social Media-Muffeln der Gebrauch und die Schlagkraft von Hashtags bekannt. Nachdem die Schauspielerin Alyssa Milano auf Twitter dazu aufgerufen hatte, posteten im Zuge dieser Debatte Frauen weltweit ihre Erlebnisse mit alltäglich erfahrener sexueller Belästigung oder Gewalt unter dem von Milano vorgeschlagenen Hashtag. Die Wucht der Debatte brachte nicht nur ein tabuisiertes und erschreckend weitverbreitetes Phänomen, jenseits von Landesgrenzen und Ethnien, ins kollektive gesellschaftliche Gedächtnis. Sie machte zugleich den Einsatz des Hashtags als Schlagwort, als thematische Klammer und als Verlinkung zu weiteren gleichermaßen markierten Beiträgen in sozialen Netzwerken allgegenwärtig.

Dass der Hashtag jedoch mehr ist als ein bloßes Schlagwort oder thematisches Ordnungsprinzip in einem an Informationen überbordenden Web, macht Andreas Bernard in seinem Essay Das Diktat des Hashtags. Über ein Prinzip der aktuellen Debattenbildung deutlich. Bernard, Professor für Kulturwissenschaften und Autor der Süddeutschen Zeitung und des Zeit Magazins, zeichnet nicht nur „die erstaunliche Karriere des Zeichens # in der Mediengeschichte“ nach, sondern widmet sich ebenso der Geschichte des Schlagworts bis zu seiner webbedingten Transformation zum bekannten Rautezeichen mit Begriffszusatz. Weiterhin beschäftigt er sich „mit den prominentesten Einsatzgebieten des Zeichens im vergangenen Jahrzehnt (dem politischen Aktivismus und dem Marketing) und schließlich mit der Prägung gesellschaftspolitischer Bewegungen durch den Hashtag.“

Die recht kurze Historie des mit einem Schlagwort versehenen Doppelkreuzes beginnt im Jahr 2007, als der kalifornische Netzaktivist Chris Messina in einem Twitter-Post vorschlägt, künftig das Pound-Zeichen zu benutzen, um Themengruppen auf Twitter zu markieren. Zuvor schon waren in Online-Chat-Plattformen Gesprächskanäle mit Doppelkreuz und Schlagwort versehen worden. Die Resonanz auf Messinas Vorschlag bleibt zunächst dürftig, bis im Oktober 2007 verheerende Waldbrände in San Diego ausbrechen. Der Hashtag #sandiegofire verbreitet sich daraufhin rasend schnell auf Twitter. Dieser ersten Hashtag-Welle folgen später, etwa nach dem Tod Michael Jacksons, viele weitere, auch befördert durch die im Oktober 2007 eingeführte technische Funktion, die es nun erstmals ermöglichte, durch Klick auf den jeweiligen Hashtag in Twitter alle zugehörigen Beiträge zu sehen. Die relationale Verbindung von Posts war somit geschaffen, der Verbreitung des Hashtags und seiner Metamorphose vom thematischen Ordnungsprinzip zum Gestaltungsprinzip von Debatten im Umfeld des politischen Aktivismus sowie zur Reichweitenerzielung im Marketing steht nichts mehr im Wege.

Neben diesem kurzen historischen Abriss geht Bernard auch auf die Geschichte des #-Zeichens sowie jener des Schlagworts im analogen Zeitalter ein. Er zeichnet gut nachvollziehbar die Entwicklung des Sonderzeichens in Verbindung mit Gewichtsangaben im 17. Jahrhundert über die Eingliederung des Doppelkreuzes in die Universaltstatur von Schreibmaschinen bis zum Gebrauch auf Telefontastaturen nach. In letzterem Fall hatte das Doppelkreuz die Funktion der späteren Enter-Taste im Computer, wodurch man in der Lage war, über die Telefontastatur Zeicheneingaben zu machen, was grundlegend beispielsweise für die frühe Phase des Online-Bankings war.

Der eigentliche historische Ursprung des Hashtags liegt nach Bernard in der Sachkatalogisierung der Bibliothekswissenschaften sowie in der wissenschaftlichen Disziplin der „Historischen Schlagwortforschung“. Geht es im ersten Fall um die in Bibliotheken lange Zeit durch Bibliothekare praktizierte Verschlagwortung von Büchern und Texten, um sie nach bestimmten Kriterien auffindbar und für Recherchen zugänglich zu machen, so geht es im zweiten um die historische, sozial- und mentalitätsgeschichtliche Aufarbeitung von Epochen anhand jeweils verbreiteter Schlagwörter. Für das Verständnis der Eigenart des späteren Hashtags sind dabei die Befunde aufschlussreich, dass bei der Textverschlagwortung nach Normierung und nach Minimierung der subjektiven Bewertung durch den Bibliothekar gestrebt wurde (während später die Markierung durch den Hashtag ausdrücklich der subjektiven Kategorisierung durch den Anwender entspringt) und Schlagwörter gemäß der Historischen Schlagwortforschung die Charakteristika „Emotionalität“, „Verkürzung“ und „Wiederholung“ beinhalten – und somit auf die Konstruktion des Hashtags vorausdeuten.

Durchgesetzt hat sich der Hashtag zur unmittelbaren und schneeballartigen Organisation von Debatten vor allem im politischen Aktivismus („Hashtag Activism“). Er erscheint hier als „rebellisches Zeichen“, das eine neue Ordnung des Diskurses in den sozialen Medien etabliert und die „Formierung einer politischen Gegenöffentlichkeit“ steuert. Hierbei versteht sich der Hashtag als sichtbares Korrektiv von Netzusern, die der Berichterstattung konventioneller Massenmedien ihren Teil der Wahrheit beisteuern wollen – beredtes Zeichen dafür sind Hashtags wie #BlackLivesMatter oder #OccupyWallStreet.

Der zweite große Bereich, in dem der Gebrauch des Hashtags ausufernd zur Anwendung kommt, ist das Marketing, genauer: das Hashtag-Marketing. Dabei fällt auf, dass das dort verankerte neoliberale Grundprinzip der Gewinnmaximierung diametral der Philosophie des Hashtag Activism mit seiner immanenten Kritik an eben jenem Grundprinzip gegenübersteht. Hashtags sind ein Basiselement des Online-Marketings, da sie für Wahrnehmung und Reichweite sorgen sollen. Zudem machen sie den Konsumenten durch das Teilen von Posts und die Übernahme der jeweiligen Hashtags für eigene Beiträge zum aktiven Teil der Marketingkampagne.

Andreas Bernard ist eine kurzweilig zu lesende und dennoch gehaltvolle Untersuchung der Geschichte und der Wirkmechanismen des Hashtags gelungen. Er zeigt anschaulich, wie Debatten in sozialen Netzen mit Hilfe von Hashtags angestoßen werden und aufgrund der potenziellen Partizipationsmöglichkeit von allen Usern in kurzer Zeit Verbreitung finden. Durch die überzeugende Verschränkung von medien- und kommunikationstheoretischen sowie kulturgeschichtlichen Fragestellungen treten viele aufschlussreiche Einzelaspekte zu Tage. So zeigt Bernard, dass der Hashtag nicht nur die Botschaft vermittelt und rubriziert, sondern dass er ebenso Teil der Botschaft, ja sogar die Botschaft selbst werden kann, er „ist Index und Parole zugleich.“ Zudem mäandert er kraft seines Reichweitenpotenzials paradoxerweise in die analoge Welt und wird dort ebenso aufmerksamkeitsfördernd verwendet, ohne freilich sein Vernetzungspotenzial entfalten zu können.

Es gehört jedoch nach Bernard auch zum Charakteristikum des Hashtags, dass er entgegen seiner ursprünglichen Intention die Beiträge, die sein Gebrauch hervorbringt, semantisch nivelliert, denn ein bestimmter, definierter Hashtag vermag nicht die ganze Bandbreite eines diskutierten Themas differenziert zu erfassen: „Der Hashtag ist […] von einer unauflösbaren Ambivalenz gekennzeichnet. Er bringt die verstreuten Stimmen zum Ertönen und tilgt gleichzeitig das, was an ihnen unverrechenbar ist.“

Instagram, Tumblr, Pinterest und immer wieder Twitter – die wesentlichen Plattformen, die den Gebrauch des Hashtags etabliert haben, bestimmen richtigerweise die kritische Auseinandersetzung Bernards mit der modernen Debattenbildung. Eine Plattform wird jedoch auf den gut 80 Seiten der ansonsten bestechenden Untersuchung nicht erwähnt: Facebook, das immerhin mitgliederstärkste soziale Medium. Das mag daran liegen, dass der Gebrauch des Hashtags auf Facebook zwar extensiv stattfindet, jedoch weniger relevant ist, was wiederum damit zu tun hat, das Beiträge auf Facebook anders strukturiert sind. Schafft der Hashtag auf Twitter, bei dem die Zeichen von Beiträgen auf 280 limitiert sind, eine Erweiterung der Botschaft sowie eine Vernetzung mit komplementären Inhalten und dient er auf Instagram dazu, Bilder und Videos zu verschlagworten, haben User auf Facebook breitere Gestaltungsmöglichkeiten für ihre Beiträge, zumal ihr Suchverhalten nicht primär hashtagorientiert ist. Zudem haben Untersuchungen gezeigt, dass Facebook-Beiträge ohne Hashtags größere Reichweiten erzielen. Ein kurzer Hinweis auf den Hashtag-Gebrauch in der Facebook-Community wäre immerhin wünschenswert gewesen, zumal die völlige Ausblendung von Facebook auffällig ist und Fragen aufwirft.

Trotz dieses kleinen weißen Flecks ist der Essay aufgrund seiner Kompaktheit und seiner überzeugenden Darstellung allen zu empfehlen, die sich für die Debattenkultur im Zeitalter des Web 2.0 interessieren. Also: #einempfehlenwertesbuch.

Titelbild

Andreas Bernard: Das Diktat des Hashtags. Über ein Prinzip der aktuellen Debattenbildung.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2018.
96 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783596703814

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