Das Leben ist kein Solo

In seiner Novellensammlung „Löwenchor“ verknüpft György Dragomán die Musik mit menschlichen Schicksalen

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Chor ist eine Gemeinschaft von Stimmen. Jede von ihnen singt ihren Part, aber nur im Verbund erschaffen sie das Werk. Nicht jeder Stimme fällt eine gleich bedeutende Rolle zu. Während die einen durch ihre Klangfarbe, durch Volumen und Kraft begeistern, verbleiben andere eher im Hintergrund. Es bietet sich deshalb fast zwangsläufig an, György Dragománs neues Buch Löwenchor auf diese Weise zu rezipieren: Die insgesamt 29 Novellen können zwar auch einzeln für sich genossen werden, sie treten aber zugleich in einen Dialog miteinander, der sich nach und nach schließlich zu dem Buch formt, das vor uns liegt.

Die Literatur hat sich im Lauf ihrer Geschichte oft mit der Musik verbündet. Wenn György Dragomán in seinen Novellen immer wieder von der Macht der Musik erzählt, geht er insofern noch keine neuen Wege. Musik tritt bei Dragomán als Leidenschaft in Erscheinung, die gleichermaßen Freud wie Leid, das Gute wie auch das Schlechte bringen kann. Der einen beschert sie das Leben eines Stars, den anderen jedoch führt sie geradewegs ins Verderben. Zuweilen wird sie zum einzigen nennenswerten Bezugspunkt einer Biografie, dann wiederum fungiert sie lediglich als ein Nebenschauplatz. So finden wir unter den Protagonisten des Bandes eine professionelle Jazzsängerin, deren Karriere in fünf entscheidenden Momenten wie durch einen Bühnenscheinwerfer beleuchtet wird (in der Novelle Cry me a river). Ganz anders hingegen die Geschichte jenes eingefleischten Heavy Metal-Fans, der unbedingt zu einem Judas-Priest-Konzert gelangen will. Dafür muss er einiges in Bewegung setzen, und doch landet er zunächst bei einer ganz anderen Veranstaltung (Heavy Metal). Da ist aber auch die rührende Erzählung über den früheren Trinker, der zu Neujahr mit seiner neuen Freundin auf dem Balkon anstoßen möchte und dabei verzweifelt versucht, dem Champagner zu entgehen: Hier ist die Musik lediglich die Begleiterin im Hintergrund, die von den Straßen heraufschallt (Extra brut). Der rettende Ausweg zeigt sich dem Mann ganz unvermutet – und auch er hat irgendwie mit Musik zu tun!

In einigen der Texte ist die Musik nur sehr indirekt oder überhaupt nicht Thema. Das mag auf den ersten Blick überraschen. Man könnte dem Autor vorwerfen, das einmal gewählte Konzept nicht konsequent durchzuhalten. Die betreffenden Novellen laden aber gerade deshalb dazu ein, Dragománs Löwenchor auf seinen zyklischen Charakter hin zu befragen. So ist in der besonders ergreifenden letzten Novelle des Bandes, Die Zaubertafel, von der Musik nie die Rede. Man kann aber argumentieren, dass sie hier gewissermaßen durch eine andere Kunstform ersetzt worden ist – und zwar die Malerei: Der Icherzähler besucht nach dem Tod seines Bruders, eines begabten Malers, die psychiatrische Klinik, wo dieser seine letzten Lebensjahre verbracht hat. Hier trifft er unverhofft auf die künstlerische Hinterlassenschaft des Bruders – die allerdings testamentarisch zum endgültigen Verschwinden bestimmt ist. Letztlich bleibt vom Maler nur ein einziges Werk erhalten: Ein Stück Wand, das sich in einem Museum in New York befindet, darauf drei mit Kohle geschriebene Wörter: „Nichts ist gültig“. Das kann man auch als einen sanften ironischen Kommentar zu György Dragománs eigenem Werk lesen.

Es gibt in Löwenchor jedoch noch einen anderen, zunächst eher verborgenen roten Faden, der die verschiedenen Novellen miteinander verbindet. Und hier liegt vielleicht das eigentlich Innovative bei der Verwandlung des musikalischen Stoffs durch den Autor in Literatur. Die Geschichten zeigen nämlich eines immer wieder auf: Ein Leben im Solo ist kein wirkliches Leben. Musik ohne Zuhörer ist stumm. Ein Leben, das nicht wahrgenommen wird, verbleibt im Unsichtbaren. Wie die Stimme erst im Chor zur vollen Geltung gelangt, so erhält das Leben des Menschen nur im Zusammenspiel mit anderen einen Sinn. So sind die Figuren in Dragománs Novellen stets in soziale Zusammenhänge eingebettet. Es fällt auf, wie oft das die Familie ist: Großeltern, Eltern, Geschwister und Verwandte. Dabei wird im Übrigen nicht nur einmal aus der Perspektive eines Kindes erzählt. Kinder müssen sich ihre Welt überhaupt erst schaffen, und das geschieht gerade auch in den Reibungen mit ihrer Umgebung. Andere Texte drehen sich um die Beziehung von Paaren (Ehepaaren, Liebespaaren). Selbst die Zufallsbegegnungen, von denen wir bei Dragomán einige finden, sind von Bedeutung, denn sie werfen jeweils ein grelles Licht auf ein Leben oder lenken letzteres in eine neue Richtung.

Vergleicht man Löwenchor mit György Dragománs Romanen Der weiße König (deutsch 2008) und Der Scheiterhaufen (2015), so entdeckt man zwar manche Gemeinsamkeiten wie beispielsweise die vielen Kinder als Protagonisten, aber auch einen gewissen Hang zu mystischen Elementen, die freilich gegenüber den genannten Büchern spürbar zurückgenommen wurden und bei Weitem nicht in allen Texten auftauchen. Zu nennen wären in diesem Zusammenhang aber auch verschiedene wiederkehrende Motive: Dazu gehören etwa der Tod oder das Feuer (Brennen, Verbrennen usw.), das bei Dragomán ebenso für Leidenschaft wie auch für Katharsis oder Wiedergeburt stehen kann.

Gleichzeitig hat sich Dragománs literarisches Schaffen indes aber auch gewandelt. Das ist an und für sich weder positiv noch negativ. Es zeigt aber immerhin, dass dieser Autor noch über Entwicklungspotenzial verfügt und durchaus für weitere Überraschungen gut sein dürfte. War das Geschehen in den beiden erwähnten Romanen noch ganz im rumänischen Siebenbürgen verhaftet und eng mit der totalitären Vergangenheit des Landes im 20. Jahrhundert verbunden, so hat sich der Autor jetzt gegenüber der Welt geöffnet: Der Schauplatz liegt nur hie und da noch in Rumänien, öfter aber in Ungarn oder anderswo auf dem Planeten: in Berlin, Madrid oder Katowice. Ein Großteil der Novellen lässt sich überhaupt nicht mehr örtlich festmachen. In manchen Geschichten gilt dies auch für die Zeit. Das ist sicher auch ein Hinweis darauf, dass Dragomán darum bestrebt ist, die Botschaft seiner Texte ins Allgemeine zu heben.

György Dragománs Löwenchor versammelt kürzere und längere Novellen, von etwas über einer Seite bis hin zu knapp zwanzig. Die porträtierten Figuren und Milieus sind sehr unterschiedlich, und entsprechend beeindruckt auch das breite sprachliche Register. Dies zeigt uns zum einen den Autor als einen hervorragenden Stilisten, stellte zum anderen aber gewiss auch eine besondere Herausforderung für die Übersetzung ins Deutsche dar. Mit einer Ausnahme (Puerta del Sol, übertragen von Terézia Mora) stammen alle Übersetzungen von Timea Tankó. Sie ist für ihre Leistung zu Recht für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie „Übersetzung“ nominiert worden. In Dragománs Chor vermögen vielleicht nicht alle Stimmen gleichermaßen zu überzeugen – die eine oder andere erklingt etwas schwächer. Aber einige sind durchaus meisterlich zu nennen.

Titelbild

György Dragomán: Löwenchor. Novellen.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Timea Tankó und Terézia Mora.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
272 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518428511

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch