Unter der aufmerksamen Bewachung fremder Augen
Mit dem vielstimmigen Roman „Verlorener Morgen“ macht Gabriela Adameşteanu die rumänische Geschichte des 20. Jahrhunderts erlebbar
Von Anke Pfeifer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAm Ende spricht die alte verwirrte Vica Delcă nur noch im Flüsterton und hortet Toilettenpapier, nicht die einzige Anspielung auf die von Mangelwirtschaft und besonders ausgeprägter Bespitzelung der Bevölkerung geprägten letzten Jahre der Ceauşescu-Ära. Dieses 1983 veröffentlichte facettenreiche und vielstimmige Prosawerk von Gabriela Adameşteanu beweist erneut, dass damals wertvolle Literatur nicht nur entstand, sondern unter bestimmten Umständen sogar veröffentlicht werden konnte und durchaus die Zeiten überdauerte. Davon zeugen in Rumänien drei Neuauflagen nach 1990, eine Auflistung unter den zehn besten rumänischen Romanen (Ion Bogdan Lefter) und nun auch eine begeisterte Aufnahme der Übersetzung im deutschsprachigen Raum als „ein großer erzählerischer Entwurf“ (Jörg Plath, NZZ).
Außergewöhnlich in der Struktur, verbinden sich in Verlorener Morgen die atmosphärisch dichte, an realistische Literatur des 19. Jahrhundert erinnernde Beschreibung mit den Wesenszügen des modernen Romans. Insbesondere durch den häufigen Wechsel von personaler, Ich- und allwissender Erzählperspektive sowie einem zeitlichen Vor und Zurück ergibt sich eine suggestive und detailreiche, zugleich relativierende Schilderung, die allerdings auch einen aufmerksamen Leser erfordert.
Die selbstbewusste Bukaresterin Vica Delcă, eine zentrale Figur, redet mit sich selbst und mit anderen, äußert zu allem und jedem ihre Meinung. Reden ist für sie – neben allerlei Tabletten – eine Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen. In ihrem Leben hat sie viel gerackert, ihrer Geschwisterschar die verstorbene Mutter ersetzt, später in gutbürgerlichen Haushalten genäht, einen eigenen kleinen Kolonialwarenladen geführt. Nun treibt es sie, im Jahre 1980, rastlos umher. Ihr Alter liegt nur im Bett und schaut Fernsehen – was soll man sich auch mit Männern unterhalten – und so macht sie sich auf, besucht ihre Schwägerin sowie Ivona, die stolze, aber verarmte Nachfahrin der bürgerlichen Familie Mironescu-Ioaniu, um ein Schwätzchen zu halten. In erster Linie will sie dort aber den einst vereinbarten Zuschuss zum Leben abholen, denn die magere Rente allein reicht nicht aus. Ihre Wohnverhältnisse in der Vorstadt sind mehr als einfach, aber Ivona hat es auch nicht leicht in der einst so prächtigen und fein möblierten, aber nun verwahrlosten Villa.
Dieses Haus der Familie Mironescu ist der Hauptschauplatz des lediglich zwei Handlungstage und einige Tagebucheintragungen umfassenden Romans und dennoch Kristallisationsort einer umfassenden historischen und soziologischen Radiografie. Es ist vor allem Ort von Gesprächen und Gedanken, in denen sich das Beziehungsgeflecht der Protagonisten und die rumänische Geschichte widerspiegeln. Die stets auch als unterhaltsame Gesprächspartnerin geschätzte Vica plaudert dort mit Ivona über ihre Alltagssorgen. Sie schimpfen, jammern und erinnern sich an frühere Zeiten, Verwandte und Bekannte. Aus dieser Perspektive werden Ivonas Ehemann Niki, ihre Mutter Sophie, deren Schwester Margot und andere Figuren bewertend eingeführt, die später teils selbst als erzählende Personen auftreten. Die beiden Frauen aus ganz unterschiedlichen sozialen Milieus belauern sich gegenseitig voller Vorbehalte. Gesagtes und Gedachtes klaffen auseinander, so verlangen es Anstand – und Vorsicht. Für Ivona ist es ein „Verlorener Morgen“, vergeudet mit Geschwätz und Erinnerungen, zumal Vica nachdrücklich den monatlichen Geldbetrag fordert, den sie selbst kaum entbehren kann. Ein altes Familienfoto dient schließlich als Vehikel, um in die Vergangenheit überzuleiten, die die zweite Hauptzeitebene des Romans bildet.
Quasi als Roman im Roman, dabei durch die Figuren miteinander verbunden, ersteht die scheinbar intakte bürgerliche Welt Ende des Sommers 1914, in der der Linguistik-Professor Mironescu, Vater der damals kleinen Ivona und erster Ehemann von Sophie, unter Anwesenheit der Familienmitglieder und des jungen dienstbeflissenen Emporkömmlings Titi Ialomiţeanu seinen Fünf-Uhr-Tee einnimmt. Das Geschehen des Tages wird von ihm sowie aus der Sicht mehrerer Anwesender geschildert und durch ihre Erinnerungen ergänzt. Ein Techtelmechtel zwischen Sophie und Titi, das kurz zuvor in Form ihrer Begegnung im bezaubernden Garten der Villa aus ihrer jeweiligen Sicht erzählt und zudem durch den Professor zufällig beobachtet wird, bleibt ansonsten aber in geheimnisvoller Schwebe. Diskutiert wird von den Anwesenden der Teestunde die aktuelle politische Lage und die Position des kleinen Rumäniens zwischen Frankreich und Deutschland, den beiden Vorbildern westlicher Zivilisation, sowie die Frage, ob der jahrhundertealte Traum der Annäherung – eine Konstante im Diskurs der rumänischen Kultur – eine Chance habe oder verlorene Liebesmüh sei, ein weiterer Bezug auf den Titel des Romans.
In den folgenden Tagebucheinträgen vom Spätsommer 1916 erörtert Mironescu, sensibler und verantwortungsvoller Staatsbürger, aber zunehmend kränklich, zutiefst besorgt seine kaputte Ehe mit Sophie, vor allem aber die Ereignisse um den Kriegseintritt Rumäniens, wobei er mit dem Zustand seines Landes hart ins Gericht geht. Auch kommen weitere Ereignisse zur Sprache wie zum Beispiel der Balkankrieg und die Offensive von Siebenbürgen, als Rumänen gegen Rumänen kämpfen mussten (diese Problematik behandelt übrigens der kürzlich in einer Neuübersetzung erschienene Roman Der Wald der Gehenkten von Liviu Rebreanu).
Der vierte Teil führt wiederum zurück zu dem Gespräch zwischen Vica Delcă und Ivona, die in ihrem Alltagsplausch punktuell und beinahe lakonisch die Schrecknisse vergangener Zeiten abhandeln: zwei Weltkriege und ihre Folgen, deutsche und russische Besatzung, gebrochene Rückkehrer aus Krieg und Gefangenschaft. Mit dem Bezug zu den gut drei Jahrzehnten realsozialistischer Diktatur, insbesondere zu den stalinistisch geprägten 1950er Jahren, gekennzeichnet durch Enteignung der bürgerlichen Schicht, Einquartierungen in deren geräumige Villen, Überwachung, politische Denunziation, Inhaftierungen, ungeklärte Todesfälle, lässt sich der Roman im Kontext des sogenannten politischen Romans verorten, wie er in den 1970er Jahren mit dem Anspruch, im Sinne einer richterlichen Funktion „die Wahrheit“ aufzudecken und jene Zeit möglichst genau zu rekonstruieren, eine Art Vorreiterrolle in der öffentlichen Abrechnung der rumänischen Gesellschaft mit jenem „quälenden Jahrzehnt“ einnahm.
Das so entstehende Panorama beinahe des gesamten rumänischen 20. Jahrhunderts impliziert steten Niedergang: Am Ende sind alle alt oder inzwischen verstorben, vor allem die jungen Leute gehen in den Westen und Vica hat erst gar keine Kinder, die Bausubstanz verfällt, ja es droht Abriss durch Stadtumbau. Für die Zukunft tut sich keinerlei Lichtblick auf – in der Tat eine eigentlich unübersehbare Provokation der Autorin.
In Verlorener Morgen sind die erzählenden und ihr Umfeld beurteilenden Frauen die Aktiveren: Die gewitzte Sophie lenkt die Männer und bestimmt über ihre Schwangerschaft, die selbstbewusste Margot wird ein an Paris orientiertes Modehaus leiten. Vor allem Vica bleibt im Gedächtnis mit ihrem lebendigen Auftreten, ihrer Durchsetzungskraft und kritischen Sichtweise, dem Witz der kleinen Leute, insbesondere mit ihrem rasanten Denk- und Redefluss in Bukarester Argot, ganz im Gegensatz zu der gewählten, mit französischen Einsprengseln gespickten Hochsprache der gehobenen Schicht – eine übersetzerische Herausforderung, die Eva Wemme sehr adäquat mit einem flüssigen und herrlich speziellen Duktus („wie sich Madam Ioaniu anscheußelte, wenn sie ins Kino ging“) gemeistert hat. Kurz angemerkt sei, dass bereits Ende der 1980er Jahre eine deutsche Übersetzung des Romans von dem Leipziger Andreas Klotsch vorlag, deren Veröffentlichung laut Notiz des Übersetzers auf seinem Manuskript dem Umbruch von 1989 zum Opfer fiel.
Gabriela Adameşteanu gelingt es, durch die auf jeweils wenige Stunden beschränkte Handlung ein komplexes und spezifisch rumänisches Sittenbild zu schaffen, das sowohl das Sozialleben mit prägnanten Individuen als auch den historischen Kontext nationaler Geschichte erfasst und damit auf das kollektive Gedächtnis der rumänischen Gesellschaft rekurriert. Dieser Roman, sorgfältig lektoriert durch den mit rumänischen Verhältnissen ebenfalls bestens vertrauten Schriftsteller Jan Koneffke und in der Reihe Die Andere Bibliothek wie gewohnt ansprechend editiert, kann – trotz manch ausufernder Passage – zur Lektüre nur empfohlen werden.
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