Eine fulminante Erzählung über einen gottverlassenen Landstrich

Über Reinhard Kaiser-Mühleckers Roman „Enteignung“

Von Johann HolznerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johann Holzner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieser Ich-Erzähler steht schon von allem Anfang an – es ist noch Sommer, seit Wochen drückt die Hitze – geradewegs an der Schwelle zur Ewigkeit. Ein Arzt würde wohl von Depression sprechen; er selber ist großzügiger und sagt sich: „es ist bloß eine Art Melancholie, welche die trägemachende, tatsächlich alles niederdrückende Hitze in mir ausgelöst hat, nichts weiter, sie wird vergehen.“ Aber nur der Sommer vergeht, die grenzenlose Melancholie aber bleibt und verstärkt sich im Laufe der Zeit massiv.

Ausschließlich aus dieser Ich-Perspektive wird erzählt. Man erfährt als Leser nur, was der Erzähler sieht, was er ahnt, vermutet, befürchtet, kurz: was er berichtet. Er hat studiert, Germanistik und Anglistik, dann eine Laufbahn als Journalist eingeschlagen und vor gut einem Jahrzehnt sogar eine Zeit lang in Kalifornien für ein Lifestyle-Magazin gearbeitet. Inzwischen ist er allerdings abgestürzt; er lebt, einsam und zurückgezogen, auf dem Land, wieder in dem Dorf, in dem er aufgewachsen ist – gut vorstellbar, dass das irgendwo in Oberösterreich ist – und schreibt für eine Lokalzeitung, deren Chefredakteur alle Hände voll zu tun hat, sein Blatt dem politischen Rechtsruck entsprechend neu auszurichten. Viel zu tun hat der Erzähler nicht. „Mitunter hockte ich mich auch bloß in ein Lokal in der Altstadt und trank einen Kaffee und machte der Kellnerin – einer schwarzhaarigen Albanerin, die immer sehr enge Sachen trug – schöne Augen und fragte sie, ob sie es sich überlegt habe, worauf sie lachte und mir ihre Hand mit dem schmalen goldenen Ring, auf dem ein durchsichtiger Stein saß, entgegenhielt.“ Ein offenbar aufmerksamer Beobachter. Es ist auch nicht zu übersehen, dass er noch einiges vorhat – aber seine Pläne lösen sich schnell auf, denn nahezu alles zerfließt ihm.

Eine Zufallsbekanntschaft, die Begegnung mit Ines, die rasch zu einer Affäre auswächst, sorgt dafür, dass die schwarzhaarige Albanerin sehr bald wieder ihre Ruhe hat. Keine Ruhe findet indessen der Protagonist; zum einen weil er bald bemerken muss, dass Ines sich auch mit anderen Männern die Zeit vertreibt, zum andern weil das Lokalblatt, warum auch immer, seine Glossen nicht mehr länger abdruckt. So landet er als Praktikant auf dem Bauernhof, der einem gewissen Flor gehört.

Ziemlich trostlos ist die Landschaft, trostlos sind aber auch die ökonomischen Verhältnisse auf dem Lande, ein Spiegel der diversen jüngsten Krisen, die allerorten zu Umstellungen zwingen. Der Bauer Flor züchtet Schweine und möchte, muss wohl auch, um zu überleben, seinen Betrieb weiter ausbauen. Doch die Gemeinde hat einen Teil seiner Grundstücke enteignet, um darauf irgendwann einmal Windräder zu errichten; in einer Gegend, in der kaum einmal ein Lüftchen weht. Ereignisarm, eintönig vergeht auch sonst die Zeit in dieser Gegend, und gesprochen wird so gut wie nie – was dem Erzähler zwar auffällt, ihn aber nicht sonderlich bekümmert. Eher beschäftigt ihn die Beobachtung, dass auch Flor sich regelmäßig mit Ines trifft, und zwar jeden Sonntag, während Hemma, Flors Frau, zur Kirche geht. Aber große Gedanken macht er sich nicht darüber, fast scheint es, als hätte er mit der harten Arbeit auf dem Bauernhof endlich einen neuen Halt gefunden.

Zumal Hemma auf das gewohnte Hochamt bald verzichtet und sich stattdessen in den Armen des Erzählers über die Sonntagsausflüge ihres Mannes mir nichts dir nichts hinwegtröstet. Bisweilen steigt der Erzähler in ein Kleinflugzeug, sobald die Arbeit ihm ein wenig Zeit lässt, und mustert das Elend tief unter ihm aus der Vogelperspektive. Was jedoch angesichts dieser sich anschaulich darbietenden, reihum trüben Verhältnisse in Ines, in Hemma, in Flor vorgeht, was sie antreibt, kann er sich kaum mehr zusammenreimen; hin und wieder dämmert ihm, er dürfe keineswegs dem Frieden trauen und über seinem Kopf könnte sich allerhand zusammenbrauen. Doch sein Interesse für die Außenwelt und damit auch für die Innenwelt der Menschen, mit denen er zu tun hat, sinkt unaufhaltsam. Die einzige Beziehung, die ihm nach wie vor viel, wenn nicht alles, bedeutet, ist die zu seiner Katze.

Eines Tages wird diese Katze, er würde korrigieren: sein Kater, von einem Auto überfahren. Kein gutes Vorzeichen; das ist der Paukenschlag für ein dramatisches Finale, in dessen Verlauf ein Gemeindebediensteter und Gegenspieler Flors namens Beham und Ines auf der einen Seite sowie Hemma und ihr Mann auf der anderen Seite die zentralen Rollen übernehmen, während der Erzähler sich bemüht, das Weite zu suchen. Ob es ihm gelingt? Vieles, nahezu alles bleibt offen.

Es ist nicht allein die Handlung, die Enteignung auszeichnet, weil sie bilderreich und einprägsam Einblicke in eine Region, in eine Welt vermittelt, die ganz am Rande der bekannten Welt angesiedelt ist. Es ist vielmehr die Perspektive, die Kaiser-Mühlecker gewählt hat, eine unglaublich entwaffnende, die den Roman aus dem Umfeld der zeitgenössischen Literatur heraushebt. Die Sichtweise nämlich eines Erzählers, den die Anspannungen, die er empfindet, die Anwandlungen der Melancholie am Ende zu zerreißen drohen. „Unendlich dehnten sich die Minuten, als wollten sie mich nie wieder freigeben, als sollte die Gegenwart in Ewigkeit übergehen, und ich fühlte mich, obwohl niemand mich hinderte, zu tun, was ich tun wollte, wie sich ein Häftling zu Beginn seiner Haft fühlen mochte.“ Der Begriff „Enteignung“, das zentrale Stichwort, das der Titel vorgibt, bezieht sich nicht nur auf die Konfiskation von Grund und Boden und somit auf Hemma und Flor, sondern auch, ja viel mehr noch auf die Schlüsselfigur der Erzählung, auf den Erzähler selbst. Es ist bezeichnend, dass sein Name nur ganz selten auftaucht – und wohl ganz bezeichnend: Das eine Mal heißt er Walter, das andere Mal heißt er Jan. Kein Wunder, dass die Wahrnehmungen dieses Hauptakteurs, seine Berichte über das, was er erlebt oder irgendwie mitbekommen hat, dass vor allem aber auch seine Mutmaßungen und seine Äußerungen über die (niemals deutlich ausgesprochenen) sonderbaren Vereinbarungen aller Figuren untereinander mit Vorsicht, um nicht zu sagen mit dem denkbar größten Misstrauen aufzunehmen sind.

So gelesen liefert der Roman weniger eine Bestandsaufnahme zur aktuellen Lage in gottverlassenen Verwaltungssprengeln als vielmehr eine Aufforderung zur Wachsamkeit allen großen Erzählungen gegenüber, die jedwede Unsicherheit in der Einschätzung von Entwicklungen oder Beziehungen verschalen und überdecken. Reinhard Kaiser-Mühlecker hat keinen Heimatroman, noch weniger einen Antiheimatroman geschrieben, sondern eine fulminante Erzählung zum höchst-aktuellen Thema Bindungslosigkeit versus Verbundenheit.

Titelbild

Reinhard Kaiser-Mühlecker: Enteignung. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2019.
222 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-13: 9783103974089

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