Eine verzauberte Stube

Ein Band mit nachgelassener Prosa schließt die Ausgabe der Werke Christine Lavants ab

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bekannt ist Christine Lavant bis heute vornehmlich als Lyrikerin, genauer als Klassikerin der österreichischen Nachkriegsmoderne, eine Anti-Bachmann vom Dorf. Der vierte und letzte Band einer von den Klagenfurter Literaturwissenschaftler*innen Klaus Amann und Doris Moser herausgegebenen Werkausgabe umfasst nun einen Teil der zu Lebzeiten nicht erschienenen Erzählungen. Der in Klagenfurt befindliche Nachlass ist ergiebig: Zwei Bände der insgesamt gut 2.500 Druckseiten umfassenden Edition rekrutieren sich von dort, nur wenige der hier versammelten 15 Prosatexte sind nach Lavants Tod 1973 bereits andernorts veröffentlicht worden.

Die als Strickerin in ärmlichen Verhältnissen lebende Bergmannstochter Lavant war als Autorin ‚frei‘ in dem Sinne, dass sie sich durch phasenweise rastloses Schreiben, das nicht primär auf Publikation und breite Wirksamkeit berechnet war, aus ihren Nöten zu befreien suchte. Prosa schrieb sie in den fünf Nachkriegsjahren, dann setzte sie allein auf Gedichte. Dass ihre Erzählungen wohl oder übel Fäden aus ihrem Leben aufnehmen, spürt der Leser, der Herausgeber Klaus Amann belegt es in seinem informativen Nachwort (wie überhaupt der editorische Anhang sehr zu loben ist). Viktor Kubczak, Stuttgarter Kleinverleger, brachte nur drei von 20 Erzählungen Lavants heraus. Zum Entsetzen der Autorin fanden sie ihren Weg ins abgelegene Kärntner Lavanttal, die Mitmenschen erkannten sich und fühlten sich missbraucht; Lavant selbst – deren Pseudonym nicht gerade dazu angetan war, den Verdacht auf Schlüsselliteratur zu zerstreuen – reagierte panisch und versuchte in einem Fall sogar die im Klagenfurter Buchhandel gelandeten Exemplare aufzukaufen, nur um jede ‚Wirkung‘ ihres Buchs zu verhindern. Das selbstgewählte Therapeutikum des Erzählens scheint damit seine Wirkung eingebüßt zu haben, es blieb der Ausweg in die ihren Aussagen nach weniger verbindliche und greifbare Lyrik. Für die eingeschüchterte, sich ohnmächtig fühlende und selbstunsichere Lavant war es der einzig mögliche Weg, um in einem geschützten Raum weiterschreiben zu können.

Die Entscheidung der Herausgeber, mehr oder weniger autobiografische Dokumente wie Briefe oder die Transkription eines Rundfunkinterviews mit abzudrucken, ist vor diesem Hintergrund so verständlich wie problematisch, denn sie scheint die Suggestion einer biografischen Lektüre dieser Erzählprosa einmal mehr zu wiederholen. Indem sie, befragt nach ihrem Leben, auf ihr Werk verwies, leistete Lavant einengenden Lektüren natürlich auch selbst Vorschub.

Christine Lavant ist das Musterbeispiel einer ungebildeten Autorin aus einem unterbürgerlichen Milieu, das so vor dem 20. Jahrhundert wohl überhaupt nicht möglich gewesen wäre. Nun aber – sie war Jahrgang 1915 – drang die Unterhaltungsliteratur im Heftformat auch in Gebirgsregionen vor, war es sogar denkbar, mit Autoren wie Fjodor M. Dostojewski, Knut Hamsun und schließlich gar Rainer Maria Rilke Bekanntschaft zu machen.

Der Mangel an Schulbildung – Lavant besuchte aufgrund ihrer chronischen Erkrankung nur vier Schulklassen – macht sich in der Quasi-Mündlichkeit ihrer Sprache bemerkbar, die die Herausgeber vielleicht zu sehr normiert haben. Mit Vokal-Exzessen wie „Ohoooo“ und „doood“ – diese beiden Schreibungen ließ man stehen – versucht die Verfasserin auf ihre Weise Emphase aus der Mündlichkeit des Dorfklatsches in die Schrift hinüberzuretten. Die Erklärung, dass solche Besonderheiten von „Lavants exzessiver Trivialliteratur-Lektüre“ beeinflusst seien, verrät die bildungsbürgerliche Brille, die die Germanist*innen bis heute tragen. Krankheit und Weiblichkeit als Faktoren ihres Schreibens sind mittlerweile akzeptiert, so scheint es, doch die Effekte der Armut und des Mangels an Bildung auf den Text und die Positionierung im männlich-bildungsbürgerlichen Literaturbetrieb der Zeit finden weniger Beachtung. Gönner unter den Profis des Betriebs gehabt zu haben, hat den Erfolg zu Lebzeiten immerhin möglich gemacht, auf Augenhöhe wurde allerdings wohl nicht kommuniziert. Was immer an Text und Lebensspur von Lavant bekannt ist, trägt den traurigen Makel des Selbstzweifels, den ihr zu Lebzeiten niemand ausreden, niemand nehmen konnte. Das verrät noch das wenige Jahre vor ihrem Tod vom ORF initiierte durchgeführte Interview.

Heldinnen und Helden ihrer Erzählungen sind Außenseiter, oft körperlich verunstaltet und von Geburt an gezeichnet. In den grausamen Soziotopen rückständiger Alpendörfer müssen sie ihre Existenz permanent rechtfertigen, vegetieren gnadenhalber dahin zwischen Leben und Tod. Diese Gesellschaften sind nach wie vor ständisch organisiert; Bürgermeister, Großbauer und vor allem der Herr Pfarrer bestimmen über Wohl und Wehe der Menschen. Bauernhof und „Irrenhaus“ sind – mit Foucault gesprochen – panoptische Maschinen des Machterhalts und der Beherrschung der Schwächeren. In ihren traditionell erzählten, dem Blick nach aber hochmodernen Dorfgeschichten berichtet Lavant vom trostlosen, oft unspektakulären Alltag zwischen Wunderglauben und Schicksalsschlag, angereichert vielleicht um eine hoffnungslose Liebe oder die verpönte uneheliche Lebensgemeinschaft zweier Gescheiterter. Die von Amann reklamierte Ironie ist weniger der souveränen Distanz der Erzählinstanz zuzuschreiben als dass sie Ausdruck von Bitterkeit ist. Wer in dieser Welt lebt, wird alle Enttäuschungen mit einem bitteren Lächeln ertragen, weil er sich etwas Besseres kaum ernsthaft erhofft hatte. Ironisch zitiert wird dabei die Dorf-Fama.

Kubinchen ist eine brillant erzählte Klatschgeschichte über eine Ausgestoßene, die eine Liebschaft über ihrem Stand gepflegt hatte und nach einem Suizidversuch im „Irrenhaus“ gelandet war. Die Gemeinde musste diesen Aufenthalt bezahlen und hasst die einstige Konkubine nun doppelt. ‚Ironische‘ Erzählerrede erlaubt es, Nuancen von Bitterkeit und Verachtung auszugestalten, aber auch die Menschenverachtung der Herrschenden zu entlarven. Der Bürgermeister, der der jungen Frau „Herrenbedienung“ zumuten will, macht sehr deutlich, dass es nicht mit Arbeiten im Haushalt getan sein wird: „Du hast in allem das zu tun, was die Herren wollen und wenn einmal einer ein bisschen was mehr will, so ist das nicht gleich zum Auf-und-davon-Laufen wie die Dirn vom Tanz, da heißt es bleiben und schön still sein und nicht gleich zum Herrn Bürgermeister laufen oder gar zu einer wildfremden Person.“ Der Text gerät immer wieder zum Substitut der Ohrenbeichte, deren gottgegebene Notwendigkeit im Kopf herumspukt – zur Sprache kommen Selbstbezichtigungen, die herausmüssen. Es fehlt der Erzählung nicht an der passenden Pointe: Die Verachtete, die mit einem drittklassigen und zudem uralten Maler in Sünde gelebt hatte, erhält von den drei alten Herren, die sie nun bedienen soll, unisono Heiratsanträge – und weist alle drei zurück. Das erst trägt ihr den Respekt aller ein.

Die Geschichten deklinieren das Dorfleben durch: Eine besonders finstere, trostlose Welt eröffnet sich in den Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus mit geschliffenen Porträts der Insassen, der Kranken und Behinderten, die die Gesellschaft ausgestoßen hat und die sich nun in einer Gegenwelt zusammenfinden, in der sie dauerhaft begriffen sind in wechselseitiger Erniedrigung. Das Wechselbälgchen ist das uneheliche, ungeliebte Kind einer nach einem Unfall einäugigen Magd, das sich für sein ertrinkendes Geschwisterkind, das „Engelchen“, aufopfert, wie man es von ihm auch zu erwarten scheint. Das Sieben-Rosen-Tuch handelt von einer allseits gefürchteten und zugleich doch geächteten Närrin und ihrer Suche nach Erlösung.

Das Fantasiereich der Dichtung ist für Lavant ein dem wirklichen Leben sehr ähnliches Reich der Schreckbilder, der Schmerzen, der Beichten, aber auch der Wünsche. Nur ist es im Unterschied zur Wirklichkeit ein Reich im Spiegel, eines, das von außen betrachtet und beschrieben werden kann. In einer für den Dänischen Rundfunk verfassten Skizze von 1957 nennt sie zwei Stuben, in denen allein sich ihre von Krankheit überschattete Kindheit abgespielt habe: in der elterlichen Einzimmerwohnung „und in der zweiten verzauberten Stube die man im Spiegel drin sehen konnte wenn man im Mutter-Bett lag. Diese Verdoppelung und Verzauberung der armen aber inständigen Wirklichkeit ist vielleicht schuld daran dass ich eine Dichterin wurde.“

Titelbild

Christine Lavant: Erzählungen aus dem Nachlass. Mit ausgewählten autobiographischen Dokumenten.
Herausgegeben von Klaus Amann und Brigitte Strasser.
Wallstein Verlag, Göttingen 2018.
828 Seiten, 38,80 EUR.
ISBN-13: 9783835313941

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