In einer Welt ohne Verbrecher

George Simenons „Der Schnee war schmutzig“ pendelt zwischen Existenzialismus und Bildungsroman

Von Rosa WohlersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rosa Wohlers

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Genau 70 Jahre nach der Erstveröffentlichung von La neige était sale im Jahr 1948 erscheint eine Neuauflage der Übersetzung ins Deutsche, Der Schnee war schmutzig – neu gestaltet und neu übersetzt, ja sogar in einem neuen Verlag, dem Kampa Verlag, erschienen. Lohnt sich die neue Ausgabe? Ja! Denn der Text selbst hat auch nach 70 Jahren nichts von seiner Intensität verloren.

Angesiedelt ist die Romanhandlung in einer namenlosen Stadt, in welcher der Protagonist Frank in einem namenlosen Krieg versucht, seinen Alltag zu meistern. Frank ist 18 Jahre alt und steht an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Seinen Platz allerdings muss er in einer Gesellschaft finden, deren moralische Grundsätze unter den Ausnahmebedingungen der Besatzung und des Kriegszustandes ausgehebelt sind. Frank wächst als unehelicher Sohn zunächst bei einer Pflegemutter, dann bei seiner leiblichen Mutter Lotte auf, die ihren Lebensunterhalt verdient, indem sie eine Art Privatbordell führt: Sie bietet mittellosen Mädchen Verpflegung und Unterkunft und erwartet als Gegenleistung, dass sie Freier empfangen und den Haushalt führen. Auch Frank wohnt hier, schläft ab und zu mit den gerade dort untergebrachten Mädchen und lässt sich bedienen.

Zunächst mutet der Text wie eine Art Bildungsroman an, wenn die Hauptfigur Frank versucht, sich in den ihn umgebenden Gesellschaftsstrukturen einer besetzten Stadt zurechtzufinden – doch unerbittlich stellt der Text heraus, wie auch die letzten moralischen Grundsätze in der besetzten Stadt außer Kraft gesetzt werden, wenn Frank Verbrechen nach Verbrechen begeht, doch alle ohne Konsequenzen bleiben. Sehnsüchtig scheint der Protagonist auf eine Reaktion seiner Umwelt auf seine Taten zu warten, die von Mord über Diebstahl bis hin zum Verrat und Einfädeln einer zumindest versuchten Vergewaltigung seiner minderjährigen Nachbarin Sissy reichen. Fast erleichtert reagiert der Protagonist, als er im zweiten Teil des Romans festgenommen wird. Was genau man Frank eigentlich zur Last legt, wird nicht verraten, doch ist es für den Fortgang der Handlung fast unerheblich, welches der von Frank begangenen Verbrechen zu diesem Wendepunkt in der Geschichte geführt hat. Erst hier, in der Isolation der Haft und der konzentrierten Auseinandersetzung mit dem immer gleichen Gegenüber im Verhör, dem „Alten“, beginnt das auf sich selbst zurückgeworfene Subjekt zu einer Art Selbstwahrnehmung zu finden, bei der nun eigene Grenzen erkannt und letzten Endes ein moralisches Bewusstsein aus sich selbst heraus entstehen kann. Dem Mädchen Sissy, dem Frank so übel mitgespielt hat, als er noch auf freiem Fuß war, kommt auch hier eine Schlüsselrolle zu: Sie besucht Frank und sagt ihm, in Anwesenheit ihres Vaters, dass sie ihn liebt. Und diese selbstlose Liebe, die einfach da ist, ohne dass sie erklärt werden muss, ohne dass vorher eine Vergebung stattfinden muss, diese bedingungslose Liebe, anerkannt von der Welt durch die anwesende Vaterfigur, ist es, die Frank bei sich selbst ankommen lässt:

Zu lange dürfen sie nicht bleiben, denn Frank würde es nicht aushalten. Er hat nur das. Er wird nur das gehabt haben. Das ist alles für ihn. Davor war nichts, und danach wird nichts mehr sein.
Es ist seine Hochzeit! Es sind seine Flitterwochen, sein Leben, das er auf einen Schlag leben muss, verdichtet und in Gegenwart des Alten, der mit seinen Zetteln spielt.
Sie werden kein Fenster haben, das aufgeht, keine Wäsche, die man zum Trocknen aufhängt, keine Wiege.
Hätte es das alles gegeben, hätte es vielleicht gar nichts gegeben, außer einem gegen das Schicksal verbiesterten Frank. Nicht auf die Dauer kommt es an. Amen.

Wenig anderes kann nach einem solchen Erkenntnismoment noch kommen als der Tod, und genauso ist es dann auch: Auf den letzten Seiten wird Frank vom Erschießungskommando abgeholt und weiß, dass seine Hinrichtung kurz bevorsteht.

Deutlich lässt sich aus dem Roman immer wieder die grundlegende Frage danach herauslesen, was den Menschen zum Verbrecher werden lässt. Der Text beantwortet diese Frage damit, dass es die Welt ist, welche die Menschen zu Verbrechern macht – und der Mensch nicht aus sich selbst heraus zum Verbrecher wird, wie auch Daniel Kehlmann im Nachwort aus den im Diogenes Verlag veröffentlichten Tagebüchern von Simenon (Als ich alt war) zitiert: „Seit dreißig Jahren versuche ich, verständlich zu machen, dass es keine Verbrecher gibt“.

Simenon, dessen Weltruhm hauptsächlich durch die zahlreichen Bücher und Geschichten um die Figur des Kommissars Maigret begründet wurde, beschäftigt sich in diesem eindringlichen Roman mit den Fragen seiner Zeit und greift existenzialistische Fragestellungen auf. Tatsächlich erinnert der Romanaufbau an einen der Schlüsselromane der Zeit, nämlich an L’Étranger von Albert Camus. Hier findet sich eben jener dialektische Aufbau wieder, bei dem der zunächst völlig unbeteiligt wirkende Protagonist in der ersten Hälfte gewissermaßen aus Gleichgültigkeit einen Mord begeht, und sich im zweiten Teil des Buches vor den Organen der Judikative für seine Tat verantworten muss. Auch dieser Roman endet mit einer Art Bewusstwerdung des Subjekts und dem Tod, und auch er erschafft eine Welt, in der Menschen nicht aus sich selbst heraus, sondern erst durch ihre Umwelt zu Verbrechern gemacht werden.

Häufig wird über Der Schnee war schmutzig geschrieben, es beschäftige sich mit der Frage, wie das Böse entstehe, doch das ist viel zu kurz gedacht. Vom Bösen, mit all seinen essentialistischen Untertönen, ist hier an keiner Stelle die Rede, vielmehr zeichnet Simenon präzise nach, wie Funktionsweisen von Gesellschaft außer Kraft gesetzt werden können und das Individuum auf diese Weise der Möglichkeiten moralischen Handelns beraubt wird – im Mittelpunkt steht also immer der Mensch. Simenon als Existenzialist? Dies ist ein neues Gesicht des Autors, das auch Kehlmann in seinem Nachwort vage andeutet und das dem Autor sehr gut zu Gesicht steht.

Wie eingangs erwähnt hat dieser Text nichts von seiner Aktualität eingebüßt, im Gegenteil, durch die wunderschöne Neuausgabe hat er wieder zurück in die Öffentlichkeit gefunden: Die sorgfältige, großzügige Gestaltung des Fließtextes, das hochwertige, volumige Papier und der schlichte, edle Umschlag machen es zur Freude, das Buch in die Hand zu nehmen. Auch die Neuübersetzung von Kristian Wachinger ist sehr gelungen und trägt dazu bei, dem Text seine verstaubte 70er Jahre-Aura zu nehmen und ihm neues Leben einzuhauchen. Das alles zusammen wirkt so stimmig, dass es des Nachworts von Daniel Kehlmann, dem man anmerkt, dass er bis dato weder großer Simenon-Fan noch -Kritiker war, kaum mehr bedurft hätte.

Titelbild

Georges Simenon: Der Schnee war schmutzig. Roman.
Mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann.
Übersetzt aus dem Französischen von Kristian Wachinger.
Kampa Verlag, Zürich 2018.
316 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783311133636

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